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Der letzte Waggon
Der letzte Waggon
Frank freute sich auf das bevorstehende Wochenende und die Semesterferien. Ein vorerst letztes Mal stand er auf dem düsteren Bahnsteig des alten Bahnhofs. Das mondäne Gebäude stammte noch aus der Zeit um 1900 und hatte den
Krieg fast unbeschadet überstanden.
Während des Studiums war der Student häufig, an den Wochenenden, von hier aus nach Hause gefahren.
Frank war ganz alleine auf dem Bahnsteig. Es war ein typischer Novemberabend. Ein kühler Wind kündigte den bevorstehenden Winter an und der junge Mann stellte fröstelnd seinen Mantelkragen hoch. Er blickte in die Richtung, aus der jeden Moment der Zug kommen musste. Aufkommender Nebel begann die Gleise zu verschlucken und ließ somit nichts von einem heranfahrenden Zug erkennen. Frank sah sich um, kein Schaffner weit und breit.
Der alte Bahnhof machte einen verlassenen Eindruck. Der Student sah auf die Uhr. Hatte er über den Stress, der mit der Abreise verbunden war, die Zeit vergessen? War er zu spät dran? Nein, es war kurz nach Neunzehnuhr. Um Neunzehnuhrvierzehn sollte der Zug eintreffen. Langsam kroch die feuchte, kalte Herbstluft an Franks Beinen hoch. Er stampfte von einem Fuß auf den anderen, um die Durchblutung auf Trab zu bringen. Plötzlich hörte er Stimmen am anderen Ende des Bahnsteigs.
Eine alte Frau tauchte am Absatz der Treppe zum Bahnsteig auf, gefolgt von einem kleinen Mädchen und einer jüngeren Frau. In der Hand des Kindes schlenkerte eine Puppe.
Ohne Frank auch nur eines Blickes zu würdigen, stellten sich die Drei nur wenige Meter von ihm entfernt an das Bahngleis.
Nur das kleine Mädchen sah ein paar Mal zu Frank herüber und lächelte schüchtern, dann sprach sie leise mit ihrer Puppe. Frank musterte die Kleine und wunderte sich über die altmodische Kleidung des Kindes. Die beiden Frauen waren ebenfalls merkwürdig gekleidet. Die alte Dame trug einen großen Hut und Spitzenhandschuhe. Die junge Frau hatte
Frank zuerst für die Mutter des Kindes gehalten, aber sie schien eher ein Kindermädchen zu sein. Auch sie trug einen Hut, altmodische Schnürstiefel und ein weißes Spitzenkleid.
Darüber trugen die Frauen schwere Pelzmäntel. Das Geräusch des anrollenden Zuges ließ Frank zusammenzucken. Wie ein Lindwurm mit glühenden Augen tauchte der Zug aus dem
mittlerweile dichten Nebel auf. Frank sah auf die Uhr. Neunzehnuhrfünfzehn, fast pünktlich. Schnell schnappte er seinen Rucksack und wartete ungeduldig bis der Zug endlich hielt. Das hintere Ende des Zuges verschwand im dichten Nebel. Frank sah noch wie die zwei Frauen mit dem Mädchen in diese Richtung liefen, bevor er eilig einstieg. Drinnen war es ungewöhnlich voll und alle Plätze waren belegt. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den
Waggon zu durchqueren, in der Hoffnung noch irgendwo einen freien Platz zu finden. Ein Ruck ging durch die sitzende Menge als der Zug anfuhr. Frank kämpfte mit dem Gleich-
gewicht und öffnete die Türe zum nächsten Waggon. "Raucherabteil". Das kam für ihn gar nicht in Frage, davon abgesehen waren auch hier alle Sitzplätze belegt.
So schlängelte sich der junge Mann immer weiter Richtung Ende des Zuges und ließ einen überfüllten Waggon nach dem anderen hinter sich. Schließlich kam er in den letzen
Wagen. Der Waggon war spartanisch ausgestattet. Unbequeme Holzbänke luden nicht gerade zum Sitzen ein. Auf der hintersten Bank saßen die zwei merkwürdigen Frauen und das
kleine Mädchen vom Bahnsteig, sonst waren alle Plätze frei. Der Wagen war altertümlich, machte aber trotzdem einen neuwertigen Eindruck. Scheinbar handelte es sich um einen
Wagen des ortsansässigen Vereins für historischen Schienenverkehr. Frank hatte schon mal an der Uni ein Prospekt davon gesehen. Jetzt verstand er auch die ungewöhnliche
Kleidung der drei Frauen vom Bahnsteig. Wahrscheinlich Hatten sie sich einfach nur für die Fahrt mit dem alten Wagen stilecht gekleidet. Die beiden Frauen waren in ein
angeregtes Gespräch vertieft, während das Mädchen gelangweilt aus dem Fenster sah. Frank schaute ebenfalls hinaus. Der Nebel war jedoch so dicht, dass absolut nichts
von der Außenwelt zu erkennen war. „Hallo.“ Frank schreckte auf. Er hatte gar nicht gehört, dass das Mädchen zu ihm herübergekommen war. Sie hielt ihm ihre
Puppe entgegen. „Das ist Paula.“ Frank lächelte. „Hallo Paula.“ „Hannelore, was machst du da?“ rief die ältere Dame burschikos. Das Mädchen drückte die Puppe eng an sich, drehte sich um und rannte zurück an ihren Platz. Frank winkte ihm zu, als es sich wieder hin-
gesetzt hatte. Das Kind zwinkerte ihm fröhlich zu und sagte etwas zu Ihrem Kindermädchen. Diese sah in Franks Richtung. Er grüßte freundlich, aber sie verzog keine Miene. Dann nickte sie Hannelore zu, worauf diese wieder zu ihm herüberkam.
„Meine Großmutter will nicht, dass ich mit dir rede. Aber meine Amme hat es
mir erlaubt.“ Unterdessen bremste der Zug ab und rollte langsam in den nächsten Bahnhof ein. Frank lächelte. „So, so und warum möchte es deine Großmutter nicht“?
Hannelore strich ihrer Puppe über die Haare und sah verschämt nach unten. „Weil es dich nicht gibt.“ Frank sah da Mädchen verdutzt an. Der Zug blieb stehen und die beiden
Frauen standen auf und gingen eilig Richtung Tür. „Hannelore, komm bitte!“ rief das Kindermädchen. Das Mädchen sah ihn traurig an, dann rannte es zum Ausgang.
„Warte!“ rief Frank verwirrt „Wie hast du das gemeint….“ Doch bevor er seinen Satz beenden konnte, hatten die Drei den Waggon verlassen. Erst jetzt bemerkte er die Puppe auf
dem Boden vor seinem Platz. Hannelore hatte sie fallen lassen. Schnell hob er die Puppe auf und rannte zum Ausgang um sie ihr wiederzugeben. Er riss die Türe auf und wäre fast auf die Gleise gestürzt. Verwundert sah er sich suchend um, von den Frauen und dem Mädchen fehlte jede Spur. Aber sie konnten unmöglich über die Gleise geklettert sein! Das wäre zu gefährlich gewesen und außerdem zu beschwerlich für die alte Dame. „Junger Mann!“ Frank zuckte zusammen als ihm der Schaffner auf die Schulter klopfte. Er hatte ihn gar nicht reinkommen gehört. „Junger Mann, Ihren Fahrausweis bitte.“ Frank starrte noch ein paar Sekunden auf die einsamen Gleise, dann drehte er sich langsam um. „Meine Güte, Sie sehen ja aus als hätten sie einen Geist gesehen.“, sagte der Schaffner, während Frank mit zittrigen Fingern seine Monatskarte hervorkramte. „Aber das würde mich auch nicht wundern.“, fügte er hinzu und nahm die Karte entgegen. „Wie meinen sie das?“ fragte Frank, während sie zurück in den Waggon gingen und hielt die Puppe fest in seiner Hand. Na ja, dieses Wetter und dann der alte Wagen. Da kann die Phantasie schon mal mit Einem durchgehen. So mancher Fahr-
gast hat schon behauptet es würde hier spuken. Der Wagen stammt noch aus der Kaiserzeit, müssen Sie wissen. Wir haben ihn schon einige Male zu verschiedenen Ausstellungen gezogen. Ich habe dabei allerdings nie etwas Ungewöhnliches bemerkt. Aber ich glaube auch nicht an so einen Unsinn.“ Der Schaffner gab Frank lächelnd die Karte zurück. „Es tut mir leid, dass Sie mit diesen unbequemen Bänken Vorlieb nehmen mussten. Aber es sind jetzt einige
Plätze frei geworden.“ Mit einer einladenden Geste deutete er dabei auf den Durchgang zum nächsten Waggon und gab Frank die Karte zurück. Der nickte nur stumm und blickte
noch einmal zurück auf die Gleise. Als er sich wieder umdrehte, war der Schaffner verschwunden.