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Der Leuchtturm
Hundert Schritte vom alten Fischerdorf entfernt, auf einem kleinen Hügel direkt am Meer, stand ein grosser, weisser Leuchtturm. Dort lebte Jan bei seinem Onkel Gustav, dem Leuchtturmwärter. Jeden Abend nach Sonnenuntergang, schaltete sich automatisch das grosse Drehlicht ein. Eigentlich war Onkel Gustav ein Fischer, aber im Leuchtturm konnte er kostenlos wohnen. Er musste nur dafür sorgen, dass alles einwandfrei funktionierte.
Heute war Jans achter Geburtstag. Onkel Gustav hatte ihm versprochen, endlich mit ihm aufs Meer hinaus zum Fischen zu fahren. Jan lag in seinem Bett und schaute auf das Bild mit dem blauen Fischerboot in der aufgehenden Sonne. Onkel Gustav hatte ihm schon viel erzählt, von den Fischernetzen und von den Möwen, denen er Fischköpfe zuwarf. Heute würde Jan endlich alles mit eigenen Augen sehen.
Jan hörte Schritte auf der Treppe, leise klopfte es an die angelehnte Tür und Onkel Gustav trat in Jans Zimmer.
"Guten Morgen, gut geschlafen?"
Jan blinzelte und blickte mit glänzenden Augen auf das Päckchen, dass Onkel Gustav in der Hand hielt.
"Alles Gute zum Geburtstag", sagte Onkel Gustav und setzte sich auf die Bettkante.
Jan nahm das Päckchen und öffnete die Verpackung.
Mit strahlenden Augen betrachtete er das kleine Häuschen mit dem runden Turm in seinen Händen.
"Das ist ja dein Leuchtturm, Onkel!", rief Jan überrascht.
"Ich freue mich, dass er dir gefällt", sagte Onkel Gustav, aber im gleichen Augenblick runzelte er die Stirn.
"Hast du Fieber?", fragte er und fühlte Jans Stirn. "Dein Kopf ist ja ganz heiss."
"Ach was", sagte Jan, "ich bin nur so aufgeregt, weil ich heute mit dir aufs Meer hinaus fahren darf."
Doch Onkel Gustav war besorgt: "Ich messe dir besser mal die Temperatur."
"Ich bin nicht krank", rief Jan hinterher und musste im gleichen Augenblick husten. Er wollte auf keinen Fall seine erste Bootsfahrt verpassen, aber er fühlte auch, wie sein Hals kratzte und seine Nase kitzelte.
Onkel Gustav kam zurück mit einer heissen Tasse Tee und dem Fiebermesser.
"Du hast erhöhte Temperatur und dein Hals ist geschwollen", sagte Onkel Gustav.
"Ich rufe gleich Tante Greta an, sie soll herkommen und Medizin mitbringen."
Tante Greta war Onkel Gustavs Schwester. Sie arbeitete in der Apotheke im Dorf.
"Aber was wird dann aus der Bootsfahrt?", protestierte Jan.
"So kann ich dich nicht mitnehmen, Jan. Du bist zu krank. Tut mir leid."
Jan nickte traurig mit dem Kopf.
"Wenn du wieder gesund bist, darfst du mit, versprochen", sagte Onkel Gustav.
Kurze Zeit später erschien Tante Greta, sie hatte sich frei genommen und brachte Hustensaft und Fieberzäpfchen mit. Sie konnte auch wunderbar Kuchen backen und erzählte immer die neusten Geschichten aus dem Dorf. Ausserdem half sie ihm bei den Hausaufgaben, wenn er nach der Schule bei ihr vorbeischaute.
Kurz nachdem Jan seine Medizin genommen hatte, fuhr Onkel Gustav alleine aufs Meer hinaus, um die Netze einzuholen. Jan stand zitternd am Fenster und schaute traurig dem blauen Boot von Onkel Gustav nach, wie es auf den Wellen tanzte und immer kleiner wurde, bis es am Horizont verschwand.
"Jetzt aber ins Bett, junger Mann." Tante Greta stand in der Tür und hatte den Hustensaft in der Hand.
"Du willst doch schnell gesund werden." Sie deckte Jan zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Jan schlief sogleich ein und fing an zu träumen, von Onkel Gustavs blauem Boot, und von den Möwen, die nach den Fischköpfen schnappten.
Als Jan erwachte, stand die Sonne bereits tief am Horizont. Er fühlte sich viel besser, und so zog er sich an und ging nach unten in die Wohnstube des Leuchtturms.
Jan empfing wohlige Wärme, im Kamin brannte ein Feuer. Tante Greta sass in Onkel Gustavs Schaukelstuhl und schlief. Ihr Strickzeug war auf den Boden gerutscht. Jan schlich sich zum Fenster und sah, wie die Sonne am Horizont versank. Dicke Wolken verdunkelten den Himmel. Jan wunderte sich, warum schaltete sich das Drehlicht nicht ein? Es schien, als wäre der Leuchtturm eingeschlafen.
Im Kamin knallte ein Holzstück, da wachte Tante Greta auf.
"Mein Gott, wie spät haben wir es?" Sie wollte Licht machen, aber nichts passierte. Sie eilte in die Küche, doch auch da gab es kein Licht. Auch der Elektroofen blieb kalt. "Oh je, wir haben Stromausfall."
"Deshalb funktioniert der Leuchtturm auch nicht", rief Jan.
"Ach du meine Güte, Onkel Gustav."
Sie schaute zum Fenster, in dem sich vor der Dunkelheit ihre Gesichter spiegelten.
"Wir müssen unbedingt das Notstromaggregat anwerfen", sagte Tante Greta und trat hinaus in die Diele.
"Was ist das, ein Notstrom ... äh Apparat?" fragte Jan.
"Ein Motor, der Strom erzeugt. Er steht draussen im Geräteschuppen."
"Das hört sich spannend an, darf ich mit?"
"Ich weiss nicht", sagte Tante Greta und legte die Hand auf Jans Stirn.
Sie war kalt, anscheinend hatte die Medizin gewirkt.
"Einverstanden, frische Luft wird dir gut tun. Aber zieh dir was über", sagte Tante Greta und reichte ihm seinen Mantel und eine Positionslampe. Ihr Licht war stärker als bei der Taschenlampe, die Onkel Gustav ihm geschenkt hatte und Jan staunte über das Gewicht.
Sie stiegen in ihre Gummistiefel und zogen sich die warmen Mäntel über. Tante Greta öffnete die Haustür und Jan leuchtete auf den schmalen Pfad zum Schuppen. Kalter Wind schlug ihnen ins Gesicht, ein Sturm kündigte sich an.
Jan erschrak. "Hat Onkel Gustav wenigstens auch eine Lampe auf dem Boot?"
Er musste ziemlich laut rufen, damit Tante Greta ihn durch den Wind verstand.
"Klar", rief Tante Greta. "Dein Onkel Gustav hat immer mehrere Positionslichter am Boot."
Aber ihr Gesicht war ernst, Jan spürte ihre Angst.
"Komm jetzt, leuchte mir mal."
Jan richtete den Strahl der Lampe auf den Schuppen. Die Türe war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Tante Greta zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete die Tür. Im Lichtkegelkegel der Lampe sah Jan im Schuppen allerlei Werkzeuge an der Wand hängen.
"Leuchte hierher, Jan", rief Tante Greta aus der Dunkelheit. Jan richtete den Strahl in die Mitte des Raums. Ein langer grüner Stahlkasten, fast so hoch wie Jan, glänzte im Licht der Lampe. Tante Greta drückte auf einen Knopf und der Kasten begann zu zittern und zu röcheln. Dann war es wieder still, nur der Wind heulte um den Schuppen.
Tante Greta schaute auf ein leeres Glasröhrchen neben der Schalttafel.
"Beim stinkenden Klabautermann, wir haben keinen Diesel mehr!"
"Brauchen wir Diesel, um Strom zu machen?", fragte Jan.
"Ja", seufzte Tante Greta. "Leider hat dein Onkel Gustav vergessen aufzutanken."
"Und was machen wir jetzt?", sagte Jan und eine Träne kullerte über seine Backe.
"Keine Angst. Wir lassen deinen Onkel Gustav nicht im Stich", sagte Tante Greta und lief zum andern Ende des Aggregats.
Dort war eine Kurbel seitlich am Motor angebracht. "Wäre ja gelacht, wenn wir den ollen Leuchtturm nicht zum Leuchten bringen."
Tante Greta zerrte an der Kurbel, aber sie bewegte sich kaum.
"Komm, hilf mir. Meine Arme sind zu schwach, alleine schaffe ich das nicht.", sagte Tante Greta und Jan packte mit an. Gemeinsam zogen sie an der Kurbel und langsam begann der Motor sich zu drehen. Der Kasten summte und vibrierte mit jeder Umdrehung etwas lauter.
"Nicht nachlassen, Tante", rief Jan und zog noch kräftiger an der Kurbel. Er dachte an Onkel Gustav, der ganz alleine auf dem Meer war. Doch Tante Greta hatte keine Kraft, erschöpft setzte sie sich auf eine Holzkiste. Da nahm Jan seine ganze Kraft zusammen und kurbelte alleine weiter, so dass ihm der Schweiss von der Stirn tropfte.
"Der Leuchtturm funktioniert wieder", rief Jan plötzlich und tatsächlich: Durch die offene Schuppentür war ein Leuchten zu erkennen.
"Jetzt findet Onkel Gustav bestimmt nach Hause", sagte er und kurbelte, und über ihren Köpfen drehte das Licht des Leuchtturms seine Runden.
Kurze Zeit später hörte man das Tuckern von Onkel Gustavs Boot.
Als dann auch noch der Strom zurückkam, sassen alle drei gemütlich in der Stube bei Kaffee und Kakao und Onkel Gustav erzählte seine Geschichte.
"Als ich mein Netz endlich voller Fische hatte, ist es mir beim Einholen gerissen. Dann hat es sich auch noch in der Schiffsschraube verfangen und ich musste mit dem Taucheranzug ins Meer steigen. Als ich das Netz endlich von der Schraube gelöst hatte, zogen Wolken auf und es wurde dunkel. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Nirgends war ein Licht zu sehen ..."
"Wegen des Stromausfalls", sagte Jan und hielt sein Leuchtturmmodell in den Händen.
"... ja genau, im Nachhinein macht das auch Sinn. Aber auf dem Meer draussen war es ziemlich unheimlich. Mein Boot tanzte zwischen den Wellen auf und ab, ich versuchte irgendetwas zu erkennen, aber da war kein Land in Sicht."
Jan hing an den Lippen seines Grossvaters.
"Plötzlich sah ich am Horizont ein einzelnes Drehlicht und ich wusste, das musste unser Leuchtturm sein."
"Das waren Tante Greta und ich. Wir kurbelten Strom", rief Jan.
"Nein, du hast gekurbelt, Jan", sagte Tante Greta.
"Das hast du wirklich gut gemacht. So wusste ich endlich, welche Richtung ich ansteuern musste."
Als Onkel Gustav fertig erzählt hatte, blieb es einen Moment still. Nur das Feuer im Kamin knisterte leise vor sich hin. Die Wanduhr tickte und die Wellen rauschten.
"Ich bin froh, dass es dir besser geht", sagte Onkel Gustav.
"Und ich bin froh, dass du wieder da bist", sagte Jan, nahm einen grossen Schluck Kakao und legte seinen Kopf neben das Leuchtturmmodell. In seinen Augen spiegelte sich das Licht der kleinen Glühbirne, die Onkel Gustav in die Turmspitze eingebaut hatte.