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Der Mann aus dem Spanischkurs

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04.08.2002
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Der Mann aus dem Spanischkurs

Verträumt steht Franziska im stickigen U-Bahn Waggon. Ein übergewichtiger Mann haucht ihr seinen Atem in den Nacken. Der Biergeruch wird kaum vom billigen Rasierwasser auf seinen feisten Backen übertüncht. Das grellpinke Kostüm und die echten Perlen am Hals der jungen Frau neben ihr können deren verbitterte Mimik nicht verschleiern. Schuppen haften auf dem grauen Blazer der unscheinbaren Person vor ihr, deren Geschlecht sich nicht bestimmen lässt. Franziska ist glücklich. Das Gefühl der Verliebtheit hat sich wohlig über ihre Welt gebreitet.

In der Station wird sie von dem frisch rasierten Mann aus dem Waggon gerempelt. Sie blickt durch ihn hindurch, während sie sich mit der Menschenmasse hin zur Rolltreppe bewegt. Auf den Stufen kramt sie nervös nach ihrem läutenden Handy. Nach einem Blick auf das Display hebt sie ein kleines bisschen enttäuscht ab. „Ach du bist es, Irene. Ich fahr gerade von meinem Spanischkurs nach Hause.“ „Und? War der Behinderte wieder da?“ schnarrt es aus dem Telefon. „Du meinst Daniel? Ja. Und stell dir vor, er hat mich gefragt, ob ich mit ihm gemeinsam lernen möchte. Ich habe ihm meine Telefonnummer gegeben. Tja.“ Franziska strahlt bei diesem Satz einer Dame, die ihr ein Flugblatt mit dem Titel „Die Posaunen blasen zum Weltuntergang am 4. Juni“ unter die Nase hält, kopfschüttelnd ins Gesicht.

„Rollstuhlfahrer sind Menschen wie du und ich. Am besten verhältst du dich ihnen gegenüber ganz normal.“, tönt es aus dem Telefon. Franziskas Gedanken schweifen ab. Als sie Daniel zum ersten Mal sah, ging eine Welle der Sympathie durch ihren Körper. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, ohne dass sie sich selbst den Grund dafür erklären konnte. Am Anfang machte sie sein Lächeln nervös. Sie prüfte alles von ihr Gesagte auf seinen hoffentlich geistreichen Gehalt. Nun redet sie oft wie ein Wasserfall auf ihn ein, egal ob es sich um Spanien, das Wetter, die aktuelle Frühjahrsmode oder sonst etwas handelt. Manchmal blickt er sie an, als ob er ihr nicht zuhören würde. Doch sein warmes Lächeln verrät ihr, dass seine Gedanken sehr wohl etwas mit ihr zu tun haben. Am liebsten würde sie in diesen Situationen über seine schwarzen Haare streichen. Tatsächlich wickelt sie aber dann meist ihre eigene blonde Haarsträhne um einen Finger.

Ihre Faszination von seiner Ausstrahlung, seinem Aussehen und seiner Stimme machen ihr dennoch etwas Angst. Teilweise erscheint ihr Daniel auch etwas arrogant, wenn er ihre Aussprache korrigiert, während sie sich ohnehin mit den spanischen Vokabeln plagt. Dreimal hatte er ihr das Wort Chispas vorgesagt. Nie im Leben wird Franziska vergessen, dass das Wort "Funke" bedeutet, aber sie wird es immer falsch aussprechen, zumindest in Daniels Gegenwart. Es ist wundervoll, wie er dann mit der korrekten Aussprache dieses Wortes antwortet. Chispas. -

Ein paar kleinere und größere Enttäuschungen haben sie gelehrt, dass es besser für sie sei, ihre Gefühle im Griff zu behalten. Das Resümee etlicher liebeskummergetränkter Gespräche mit Freunden war gewesen, dass man in der Liebe verdammt vorsichtig sein muss. Was „Liebe“ nun genau bedeutet, darüber denkt Franziska öfters nach.

„ ... und außerdem zählen doch die inneren Werte.“ schließt Irene ihren Monolog, während Franziska den Zebrastreifen überquert. „Die inneren Werte. Ja, diese.“, antwortet sie gedankenverloren. Knapp hinter ihr quietschen die Reifen eines gelben Opel Kadett, dessen Fahrer, scheinbar beflügelt von lautstarker volkstümlicher Musik, vor der innerstädtischen Bevölkerung die Beschleunigungskapazitäten seines Wagens unter Beweis stellen möchte. Franziska springt erschrocken auf den rettenden Gehsteig. „Es ist auch unglaublich, was diese Menschen leisten. Denk nur einmal an den Behindertensport ...“, fährt Irene unbeeindruckt fort.

Franziska ertappt sich dabei, auf Daniels Anruf zu warten. Wann wird er sich melden? Was wird er sagen, wenn er sich meldet? Was soll sie sagen? Wie wird das Gespräch? Und wenn er sich gar nicht meldet? Sie findet diese Vorstellung ziemlich unangenehm. In jedem Fall ist es wichtig, sich so zu verhalten, als wäre alles ganz normal, als wäre nichts Besonderes. Ist es ja auch nicht, genau genommen. Obwohl, wie soll man sich „ganz normal“ verhalten, wenn man in jemanden verliebt ist? Sie muss daran denken, wie sie Daniel etwas errötend und mit ganz leicht zittriger Hand seinen Kugelschreiber überreicht hatte, der ihm zu Boden gefallen war. Hatte er ihre Verlegenheit bemerkt? Sie ist sich nicht sicher.

„ ... und vor allem auch in intellektueller Hinsicht.“, gibt Irene zu bedenken. Franziska steigt aus dem Aufzug und grüßt ihre Nachbarin, die schon auf sie gewartet zu haben scheint. „Sie müssen in der Nacht das Tor zusperren. Wie oft muss ich sie noch daran erinnern?“, erklärt die alte Dame entrüstet und ballt die Hände in den Taschen ihrer Kleiderschürze zu Fäusten. „Aber die Türe hat doch einen Knauf. Man kann sie von außen nicht öffnen, wenn sie einmal ins Schloss gefallen ist. Es tut mir leid, Frau Pospeschil, ich habe grad jemanden am Telefon“, antwortet Franziska, und registriert den Geruch von alten Möbeln und fettigem Essen, der aus der Wohnung ihrer Nachbarin dringt. Während sie ihre kleine Wohnung betritt, dringen noch einige Wortfetzen über Ausländer und Drogensüchtige an ihr Ohr.

„So, Irene. Jetzt bin ich zu Hause. Du, ich habe schon ein bisschen Angst. Ich meine, du weißt ja, wie das ist, wenn man am Anfang noch nicht sicher ist ...“ „Sei einfach ganz natürlich. Rollstuhlfahrer sind schon arme Kerle. Du solltest aber nicht auf Mitleid machen. Wenn er vielleicht deiner Hilfe bedarf, ...“ Irenes Satz reißt Franziska aus den Gedanken. Verständnislos bricht es aus ihr heraus: „Mitleid? Hilfe?“

Die darauf folgende unangenehme Stille in der Leitung wird von einem ankommenden Anruf unterbrochen. „Irene. Ich rufe dich zurück.“ Ohne die Antwort ihrer Freundin abzuwarten, beendet sie das Gespräch und nimmt den neuen Anruf entgegen. „Hallo?“ „Hallo Franziska. Du hast deinen Füller im Kurs vergessen. Ich dachte, ich sage es dir, falls er dir fehlen sollte.“ Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich meine Füllfeder vermisse. Jeder Tag ohne sie ist ein verlorener Tag“, gibt sie lächelnd zurück. „Hältst du es noch aus bis Freitag? Ich brenne nämlich darauf, dir das Objekt deiner Sehnsucht möglichst bald zurückzugeben.“ Franziska lässt sich verschmitzt grinsend auf die Couch gleiten.

 

Hei Klara,

schließe mich den Kollegen an. Toll aufgebaute Story mit Tiefgang! Deine Prots machen die übliche Prozedur des „frisch verliebt sein“ durch, die Behinderung von Daniel ist für Franziska völlig bedeutungslos. Sie ist verliebt und damit basta. :)

lg
liz

 

Hallo Klara,

von der Stimmung hat mir deine Geschichte gut gefallen, auch der Titel übrigens. Würde mich freuen, wenn du sie noch etwas ausbauen würdest und ich die beiden deutlicher vor meinen Augen sehen könnte, mit ihren unverwechselbaren, kleinen Eigenheiten, die mit Behindert oder Nichtbehindert nichts zu tun haben. Der Schluss hat mir gefallen.

lg Pe :)

 

Hallo Liz und petdays!

Lieben Dank für Euer Kommentar! :)

Das mit dem Ausbauen und dem Eingehen auf die Eigenheiten der Prot. ist ein guter Vorschlag, den ich teilweise schon aufgegriffen habe. Natürlich könnte man die Charaktäre noch mehr ausbauen, was ich "wenn es mich packt" auch tun werde, weil es sich für mich bei diesem Text schon lohnt noch bisschen daran zu arbeiten.

lg
klara

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe Klara!

Die Art, wie Du die konträren Gedanken der beiden Freundinnen zeigst, gefällt mir sehr gut. Während Irene nur die Behinderung wahrnimmt, ist es für Franziska einfach die Liebe selbst, ohne über die Behinderung nachzudenken. Sie macht sich keine Gedanken darüber, sondern nimmt den Rollstuhl als Gegebenheit einfach hin.

In der Geschichte wirkt das alles sehr schön, und vor allem finde ich sie auch technisch, also das Verweben des Handy-Gespräches mit den Gedanken von Franziska, sehr gelungen.
Aber ein bisschen von meinem Senf möchte ich trotzdem noch los werden... ;)

Erstmal zum Thema an sich:

Ein bisschen klingt es für mich so, als ob man auf Behinderte keine Rücksicht nehmen sollte, aber das hast Du bestimmt nicht so gemeint… Denn Rücksicht nehmen muß man natürlich, nur sollte der Behinderte nichts davon bemerken. Es wäre zum Beispiel rücksichtslos von jemandem, der mit einem Rollstuhlfahrer zusammenlebt, immer alles am Boden liegen zu lassen, sodaß der nicht durchfahren kann. Das heißt, man nimmt Rücksicht, indem man einfach alles immer wegräumt und auf seinen Platz stellt. Oder man wird sich auch mit einem Rollstuhlfahrer nicht in einem Kellerlokal treffen wollen, das nur über eine schmale Wendeltreppe zu erreichen ist. Über solche Dinge muß man sich meiner Meinung nach auch klar sein, wenn man mit einem Behinderten eine Beziehung oder auch nur Freundschaft eingeht, damit es einem dann nicht plötzlich zuviel wird, wenn die Frischverliebtheit nachläßt…

Und jetzt zur Geschichte selbst:

Ich finde, Du verwendest den Namen „Daniel“ ein bisschen zu selten. Als ich diese Kritik zu schreiben begann, mußte ich nachsehen, wie er heißt – in meinem Kopf war er „der Behinderte“… Aber es bereitet Dir sicher keine Schwierigkeiten, Franziska ein paar Mal öfter an seinen Namen denken zu lassen. ;)

»Auf den Stufen kramt sie nervös nach ihrem läutenden Handy. Ein kleines bisschen enttäuscht hebt sie ab. „Ach du bist es, Irene«
– Hier hab ich mich erst gefragt, warum sie denn schon enttäuscht abheben sollte. Vorschlag: Nach einem Blick auf das Display hebt sie ein kleines bisschen enttäuscht ab.

»„Und? War der Behinderte wieder da?“ schnarrt es aus dem Telefon. „Ja. Stell dir vor, er hat mich gefragt,«
– da?“, schnarrt
– Ich würde hier Franziska nicht einfach „Ja“ sagen lassen, sondern sowas in der Art wie „Du meinst Daniel, ja. Stell …“

»Sie prüfte alles von ihr Gesagte auf seinen hoffentlich geistreichen Gehalt.«
– fände besser „alles, bevor sie es sagte, auf …“

»Ein paar kleinere und größere Enttäuschungen haben sie gelehrt, dass es besser für sie sei, ihre Gefühle im Griff zu behalten.«
– ich würde nach Enttäuschungen vielleicht „in ihrem Leben“ einfügen


»Es tut mir leid, Frau Pospeschil, ich habe grad jemandem am Telefon“, antwortet Franziska, und registriert den Geruch von alten Möbel und«
– jemanden – von alten Möbeln

»als wäre alles ganz normal, als wäre nichts besonderes.«
– nichts Besonderes

»„Hallo Franziska. Du hast deinen Füller im Kurs vergessen. Ich dachte, ich sage es dir, falls er dir fehlen sollte.“ Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich sie vermisse. Jeder Tag ohne meine Füllfeder ist ein verlorener Tag“«
– um an die oben geführte Diskussion anzuschließen: Vielleicht ist er aber auch ganz altmodisch und sagt „deine Feder“? Wenn er Füller sagt, klingt es nachher falsch, wenn Franziska sagt „wie sehr ich sie vermisse“. Du kannst aber auch ganz einfach dieses „sie“ und die Füllfeder vertauschen, dann stimmts auch wieder... :)

Liebe Grüße,
Susi

 

Hallo Susi!

Danke! Ich habe mich sehr über deine positive Kritik, aber auch über deinen "Senf" gefreut. Deine stilistischen Anmerkungen waren ziemlich hilfreich und ich habe sie (großteils) in der Geschichte berücksichtigt. :)

Inhaltlich hast du natürlich recht. Franziska wird im Laufe ihrer Beziehung mit Daniel (und wir können wohl davon ausgehen, dass es eine Beziehung wird ;) ) noch einige Dinge über Behinderung und das Leben im Rollstuhl lernen. Aber in der Geschichte ist es mir fürs erste mal nur um ihre Gefühle zu ihm gegangen. Abgesehen davon tauchen auch bei s.g. nicht-behinderten Menschen, wenn die Zeit der frischen Verliebtheit vorbei ist bzw. im Laufe des Beziehungslebens, immer Dinge auf, die schwierig sind und mit denen man sich auseinandersetzen muss.

lg
klara

 

Hallo Klara

eine wunderschöne Geschichte hast du da geschrieben. Von frischer Liebe und den Gefühlen die damit verbunden sind.

Das es sich bei dem Auserwählten um einen Rollstuhlfahrer handelt, scheint für die Freundin deiner Prot viel wichtiger zu sein, als für sie selbst. Sie sollte am besten ganz schnell die Ratschläge ihrer Freundin wieder vergessen und einfach ihren Gefühlen folgen. :)

ganz besonders blöd finde ich den Ausdruck "diese Menschen" was diese Menschen leisten können... ihr Satz sollte eigentlich heissen: "was MENSCHEN leisten können", es gibt keinen Unterschied zwischen behinderten und nichtbehinderten, so ein Schicksal kann jeden von uns treffen.
Dann ist da noch der Ratschlag sich ganz normal zu benehmen, den finde ich ebenso falsch. Man kann ja nicht Krampfhaft so tun als würde der Rollstuhl nicht existieren und denjenigen zum Tanz bitten. Nicht "normal" sondern "angemessen" sollte das Verhalten sein.

So, genug jetzt. Ich hoffe du weisst, das ich damit nicht dich kritisieren will, sondern das Verhalten "normaler" Menschen, die du mit dieser Ratgeberin in deiner Geschichte treffend eingefangen hast :)

hat mir sehr gut gefallen.

Porcupine

 

Hallo klara!

Endlich mal ein Text, der davon absieht, hypothetische Problematiken zu stigmatisieren, und einfach davon ausgeht, dass Menschen auch zueinander gehören können, wenn sie "anders" sind ...

Vielleicht freut es Dich zu hören, dass diese Leichtigkeit des Seins auch in einer solchen Beziehung von Bestand sein kann ... meine Freundin ist von Geburt an querschnittsgelähmt, und nach nunmehr neun Monaten ist es eher eine ganz besondere Form der Verbundenheit als ein Problem, wenn ich sie z.b. eine Treppe hinauftrage.

Schön, dass Du einen Text in dieser Rubrik gepostet hast, der ohne "soll ich wirklich"-Gedanken auskommt ...

so long
SaltyCat

 

Hallo Porcupine und SaltyCat!

Ich kann Eurer Kritik kaum etwas hinzufügen, außer mich dafür zu bedanken. Schön, zu welchen Gedanken die Geschichte anregt und welche Reaktionen sie hervorgebracht hat.

@SaltyCat
Ich wollte das Thema Behinderung nicht mit Tragik und/oder Schwermut verknüpfen (worüber es schon viele und auch sehr gute Texte gibt), sondern mit Lebenslust und Leichtigkeit. In diesem Sinn habe ich mich über deine Antwort besonders gefreut.

lg
klara

 

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