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Der Mensch - das Tier
(eine wahre Begebenheit)
Seit zwei Wochen waren sie nun schon an diesem schrecklich deprimierenden Ort.
Sie wohnten in einem ehemals vornehmen Hotel für Bezirkssekretäre. Und selbst hier war der allgegenwärtige Verfall zu spüren. Die Journalistin hatte ein Zimmer neben dem ihres Kameramanns belegt. Die Wände waren unglaublich dünn. Kein Vergleich mit denen in Moskau - oder denen in ihrem Heimatland. Die Einrichtung war zumindest sauber, wenn auch alt. Geradewegs aus den Spätsechzigern, Siebzigern. Und machte, wie alles, den Eindruck von zu oft Benutztem.
Sie befanden sich weitab von der Mitte Russlands. In einem Teil des riesigen, schäbigen Landes, dessen Bewohner von den ebenso darbenden Weißrussen verächtlich nur Kazap genannt wurden.
Von der Mitte entfernt, die mühsam für die wenigen neureichen Russen und vermögenden Ausländer aufrecht erhalten wird, deprimiert das Land. Legt sich wie feiner Nebel auf das Gemüt. Verfärbt es grau und grauer - bis man Abends heimlich und still weint.
Sie waren mit ihrem Kamerawagen durch Hunderte, verlassene Dörfer gefahren. Beherrscht nur von wilden Hunden, die zusammengerottet, dem Wagen hinterher liefen.
Endlose Felder mit wild wuchernden Getreidearten. Mikrowälder aus verfaulendem und planlos sprießenden Getreide und Gras.
Manchmal sah man in verschlissene Lumpen gehüllte Menschen. Gebeugt, furchtbar dünn, die einsam über verfallendes Kopfsteinpflaster schlurften, mit verhärmten Gesichtern auf der Jagd nach Nage- und anderen Kleintieren.
Und auch dieser Ort - traurig.
Eine ehemalige Zwangssiedlung rund um ein Bezirkszentrum. Nannte sich noch immer Stadt. Horden von kleinen Kindern schwärmten untertags durch die dahinsiechenden Strassen, bröckelnden Betonbauten - bettelten, prügelten, bestahlen, vergewaltigten, töteten. Ganz so, wie die allgegenwärtigen verzottelten und nicht minder gefährlichen Hunde, die es auch hier gab. Sich einem an die Fersen hefteten, kam man in die Randbezirke. Die stinkenden, zerschlissenen Straßenzüge und Plattensiedlungen, dreckig, leer, gefährlich.
Die Journalistin war einer Geschichte auf der Spur. Etwas aus der unbekannten Vergangenheit Russlands. Der Sowjetunion.
Der eiserne Vorhang hatte sich über mehr Gräueltaten gelegt, sie den Blicken entzogen, als man bisher annahm.
Aber galt das nicht auch für die USA? Wer weiß denn schon genau, dass die Amerikaner über drei Millionen junge Männer, vollgestopft mit Patriotismus und mangelhaften Informationen - gerade erst den Familien entrissen, in einem sinnlosen Krieg verloren, der weitab in Vietnam das Land und das Volk dort verheerte.
Sie waren der Spur eines ehemaligen U-Boot Kommandanten gefolgt.
Seine Spur hatte sich hier verloren.
Doch jetzt waren sie wieder dran. Einige ehemalige Milizen hatten ihr gegen bares Geld, harte Währung öffnete hier jeden Mund, seine Wohnung verraten.
Und da standen sie nun. Die Journalistin und der Kameramann. Es war ein Betonklotz. Gestopft mit vielen Wohnungen, dicht an dicht gedrängt. Ein Flur voller Treppen, kein Fahrstuhl. Die Stufen knarrten und ächzten, hatten in der Mitte abgewetzte Mulden. Und es war finster. Die Fenster teilweise ersetzt durch Bretter aus verquollenem Holz oder schimmelnder Pappe. Eine Lampe flackere heftig. Bemühte sich als einzige unzerstörte Lichtquelle geisterhaftes weißes Licht zu spenden. Im sechsten Stock sollte es sein.
, denkt sie und klopft.
Nichts rührt sich.
Sie klopft noch einmal. Ruft seinen Namen. Einen schwierigen russischen - voller Zischlaute.
Sie erinnert sich an ein Gespräch. An das Geschenk. Zieht aus einer Tasche einen teuren, guten Kognak. Hält ihn vor die blind starrende, schmutzige Linse des Türspions.
Hinter der Tür krächzt dumpf jemand etwas russisches.
Ihr Kameramann übersetzt: "Was wollen sie hier?"
Sie fragt, ob hier Sergej Koschewoi Nekrassow wohne. Der Kameramann vermittelt zwischen den beiden.
Wer das wissen wolle.
Sie recherchiere für einen Bericht im Fernsehen. Sie zahle gut und habe Kognak dabei.
Das war plump, aber bei den zur Einfachheit gezwungenen Menschen in Russland wirkte es.
Wer nichts mehr zu verlieren hat, außer einem armseligen Dahinsiechen, in Gedanken stets bei der propagierten großartigen Vergangenheit, giert nach jedem bisschen Lebensqualität.
Schließlich ließ er sie irgendwann ein.
Drinnen roch es, wie fast überall, nach ungewaschenen Körpern, Urin und Alkohol.
Sie sitzen an einem Tisch. Sie trinken Tee aus überraschen gutem Porzellan. Der alte, russische Mann, mit schwieligen Händen und fleckiger Haut, trinkt seinen Tee mit dem Kognak. Der Teegehalt wird von Tasse zu Tasse weniger.
Und er erzählt.
Sie zündet sich eine Zigarette an. Er unterbricht sich und streckt ihr die leicht zitternde Hand entgegen. Sie zögert, drückt ihm dann ihre ganze Schachtel in die Hand.
Er lächelt zahnlos. Nur ein paar Stumpen noch im Mund. Sie fragt sich kurz, was er isst.
Er erzählt die Geschichte. Und sie weint. Und er hat glasige Augen. Und der Kameramann stockt beim Übersetzen.
Es ist eine Geschichte über junge Mädchen.
Damals im zweiten Weltkrieg, als die Sowjetunion und die USA noch auf einer Seite standen, kamen viele alliierte Soldaten ins Land. Sie brachten neue Waffen mit - und erklärten deren Funktionsweise. Der große Genosse Stalin hatte sie ins Land geholt, oder Genosse Woroschilow - Stalins Volkskommissar für das Militärwesen. Es waren Tausende. Zumeist Seeleute, die die veraltete, russische Flotte aus zaristischen Beständen überholte.
Und sie klagten bei den Genossen. Darüber, dass es kalt wär, dass sie so weit weg von Daheim wären, dass sei niemanden verstünden, dass sie einsam wären.
Und die Stadtkomitees zwangen die jungen Russinnen, Komsomolzinnen zwischen 16 und 18, dazu sich für die Alliierten zu prostituieren. Andernfalls wären die Familien verschleppt, erschossen, geschunden, in Straflager tief unter die Erde auf ewig verdammt worden - was damals und später keine Seltenheit war.
Sie gaben sich also hin. Russische junge Mädchen. Sie bekamen Nahrungsmittel, Whisky, Kleidung, Zigaretten, Kinder.
Und irgendwann war der Krieg vorbei.
Das Verhältnisse zwischen den Russen und den Amis verschlechterte sich.
Plötzlich waren die jungen Mädchen Vaterlandsverräterinnen.
Man trieb sie und die Kinder zusammen. Wollte sie am Sprechen hindern, verschleppte Hunderte und Tausende von ihnen auf große, alte Transportschiffe. Lastenkähne. Schlepper. Zur Insel Salm wurden sie gebracht. Wie die Engländer davor noch ihre Verbrecher auf der Insel Australien aussetzten.
Doch auf Salm kamen sie nie an.
Russische U-Boote schickten einen Torpedo um den anderen. Versenkten heimlich Abends ein Schiff um das andere.
Unter einem arktischen Himmel, er berührte das spiegelglatte Meer weit hinten am Horizont, sah man so weit das Auge reichte die Leichen junger Frauen und Kinder im Wasser treiben.