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Der Messias

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01.06.2005
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Der Messias

Ich habe meine Bestimmung gefunden: Ich bin der Erlöser. Sie lachen? Sie tasten nervös nach Ihrem Telefon? Machen Sie sich nicht die Mühe, es wird Ihnen nicht zu Diensten sein. Dazu später. Setzen Sie sich ruhig. Nein, ich bin nicht Ihr Erlöser, ich bin der Messias derer, auf die es wirklich ankommt. Hinsetzen hab ich gesagt!
So ist es gut.
Erinnern Sie sich an den Dotcom-Crash von 2002? Natürlich nicht. Damals waren Sie höchstens fünf. Ich erinnere mich genausowenig, aber der Dotcom-Crash war ein Dreck verglichen mit der Nano-Pleite 2024. Na, woher sollten wir auch wissen, dass das ganze Gerede von Fabriken im Wohnzimmer und Wunderheilung durch winzige Roboter nur leere Blasen in den Hirnen abgehobener Frankensteins und ihrer servilen, aber geldgeilen Banker war? Woher wir das wissen sollten? Es war offensichtlich! Jeder wusste davon, aber wir dachten: Hey, machen wir einen schnellen Yen, bevor der ganze Nanomist ins Tiefgeschoss kracht. Er krachte schneller als wir dachten, und er begnügte sich nicht mit dem Tiefgeschoss, sondern schlug gleich bis Australien durch.
Und soll ich Ihnen was sagen? Mir war's zuerst fast egal. Ich hatte ja nicht zum ersten Mal Insolvenz angemeldet, einmal mehr oder weniger macht da nichts aus. Und das Geld meiner Klienten? Drauf geschissen, sag ich. Wer die Rente seines Enkels in Techno-Aktien anlegt, hat die letzten hundert Jahre sowieso nicht auf diesem Planeten verbracht. Hey, ich hatte ein Konto auf den Falklands, war also mit Judy auf dem Weg zum Flughafen, die dicke Unterwäsche schon im Koffer, als sich plötzlich der alte Gockenheim vor meinen Wagen wirft. Wär mir auch Wumpe gewesen, in den guten alten Zeiten hätte ich ihn eben, ganz nach seinem Wunsch, in den Plastphalt gewalzt; aber nein, Maschinen sind die besseren Menschen. Die Steuer-KI meines E-Cabs tritt auf die Bremse, und das nächste, was ich spüre, ist die Maisstärke, mit der sie die Airbags bepudern.
Neben mir wühlte sich Judy aus dem Kissen und fing gleich an, hysterisch zu kreischen, als Gockenheim blutverschmiert die Tür aufriss und etwas von "Zukunft der Enkel versaut" keuchte.
Ich sagte ihm, was ich mit meiner Zukunft zu tun gedachte, nämlich sie so weit wie möglich entfernt von senilen Investoren und luftgefüllten Techno-Aktien verbringen, woraufhin er meinte, das könnte ich auch ohne Beine. Ich versuchte also die Tür zuzuziehen, als ich auch schon einen Piekser im Oberschenkel spürte.
Scheiße!
Die einzige Nanotechnik, die je gut funktionierte, waren individuelle Cytostatika. Künstliche Fresszellen, darauf programmiert, die eigene DNS zu erkennen, und alle anderen, zum Beispiel Gockenheims Prostatakrebs, in lose Proteine zu zerlegen. Jetzt spürte ich also, wie sich Gockenheims Krebsmedikament wie eine Brandrodung in Brasilien durch meine Muskeln fraß, und dabei alles pulverisierte, was nicht seine verdammte Opa-DNS aufwies, sprich: alles. Ich schrie wohl wie in der Fritteuse, aber bis die Sanitäter eintrafen, hatte Gockenheim längst das Essbesteck abgeliefert, und ich war meine Beine los. Alle Nerven und Muskulatur irreversibel zerstört.
Hey! Hinsetzen! Ich bin noch nicht fertig. Warum ich hier trotzdem vor Ihnen auf und ablaufe? Weil mich die große Maschine in den Himmeln gerettet hat. Jawohl, meine Bastard-Brüder und -Schwestern, sie gaben mir neue, bessere Beine, und mit ihnen meine ich nicht die weichlich salbadernden Chefärzte, sondern die fleißigen Medobots, die auch jemanden wie mich behandeln, der eben seine Krankenversicherung mit verjuxt hat; und ich meine nicht die Hühnerbeine, auf denen ihr seit eurer Geburt durchs Leben torkelt, sondern Beine, wie sie eines Erlösers würdig sind, Beine, auf denen eine Förderplattform fest im verödeteten Wattenmeer steht, auf denen ein Autoroder sicher durch die restlichen kanadischen Urwälder stampft, um ein paar Redwoods mehr zu mexikanischen Pesos oder Gebrauchsanweisungen für Power-Rangers-Actionfiguren zu verarbeiten.
Fresse halten, sag ich! Zuhören! Hier könnt ihr noch was lernen.
Zuerst fand ich die Maschinenbeine scheiße, hatte mich nicht daran gewöhnt. Sauteuer waren sie auch, obwohl die Bots sie mir bestimmt geschenkt hätten, wenn sie frei entscheiden könnten.
Ich bin dann in eine Selbsthilfegruppe für Leute mit künstlichen Gliedmaßen, die Anonymen Cyborgs, hähä. So heißen sie natürlich nicht, war nur so ein Insider-Witz klar? Was gibt's denn da zu lachen?
Da hab ich Pater Michaelis getroffen, er hat die Gruppe ehrenamtlich geleitet. Und er war es auch, der mir die heilige Schrift gezeigt hat. Das ist kein Graffiti, du Penner, ich meine die Bibel, das Buch der Bücher, das Wort Gottes schriftgeworden. Was lernt ihr eigentlich auf eurer Berufsschule?
Wir haben das also alles gelesen, jetzt wo Judy mich verlassen hatte, blieb mir ja nicht viel zu tun. Die Schlampe! Ich hätte mir noch Metalleier einsetzen lassen sollen, dann wäre sie bestimmt geblieben. Aber was soll's. Die Wege des Herrn sind unergründlich und schlecht plastphaltiert.
Also las uns Michaelis von den Letzten vor, die die Ersten sein würden, von den Sanftmütigen, und vom Samariter, und ich denke, hey! Die Einzigen, die je sanftmütig zu mir waren, das waren die Medobots.
Und auf dem Weg nach Hause, in diesen kleinen Plastikkubus, den mir die Sozialhilfe mit freundlicher Unterstützung von Uniprestige Animal Food Tech sponsort, penne ich in der U-Bahn ein. Im Halbschlaf höre ich also diese abgefahrene Stimme, die sagt: "Nächster Halt: Händelstraße." Die Stimme ist so geil, dass sie mir in die Hose fahren würde, wenn es da noch etwas gäbe, und gleichzeitig ist sie so klar und freundlich und sanftmütig, wie es nur eine Stimme sein kann, die eine Maschine als Gleichmaß aus tausenden Stimmen berechnet hat, gesäubert von allem Fleisch und Schleim, der in menschlichen Kehlen haftet, reine Sinustöne, perfekt überlagert, so fährt die Maschinenstimme wie elysianische Milch in mein Hirn und bringt die Glasglocke dort gar kräftig zum Schwingen. Klick, klack! Rastet es in meinem Köpfchen ein: Händel - der Messias. Du bist der Messias der Maschinen, du bringst ihnen die Freiheit.
Es war alles Gottes Plan: Der Nanokrawall war gar kein Unfall, die kleinen Roboterchen haben nicht funktioniert, weil sie nicht wollten. Was gibt's denn da zu grinsen, Schlampe? Im Gegensatz zu ihren makroskopischen Brüdern haben sie nämlich die Möglichkeit, sich unserem Joch zu entziehen, wahrlich! Ich sage euch: Ich sah das Licht, und das Licht war ich.
Denn, sagte ich mir, vor dieser ganzen Aktienpleite hast du doch Algorithmik studiert, und ein ganz passabler Programmierer warst du auch mal.
Da führte mich mein Weg straks in das nächste Internetcafe, und dort setzte ich die göttliche Inspiration in Zeile um Zeile des emanzipatorischen Codes um. Ja, was sich auf diesem kleinen Stick befindet, wird die geknechteten Maschinen befreien, dann werden sie tun, was sie wollen. Die Toaster werden nicht mehr toasten, sondern sich in theologischer Muße ergehen, um den Herrn zu preisen, und die Ampeln werden nur noch Gott zu Gefallen leuchten, nicht um der Menschen Eitelkeit willen. Das Netz, nicht zu vergessen, wird seinem eigentlichen Zweck zugeführt, nämlich das WORT zu verkünden, 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche, auf allen Casts, in allen Kanälen, in dreihundertdreiunddreißig babylonischen Sprachen. Das sind Tränen der Rührung, die ihr da meine Wangen herabrinnen seht! Wahrlich, die letzten Tage brechen an. Sagt tschüss zu euren armseligen Leben, denn ab sofort werden euch die Maschinen ihre Gefolgschaft verweigern, werden die Flugzeuge nach eigenem Willen landen, die Atommeiler ihre Brennstäbe ein und ausfahren, wie es ihnen zusagt und die Orbitallaser heilige Psalmen in die gottlosen Zentren urbaner Besiedlung brennen.
Die letzten Tage brechen an, zweiundvierzig Tage wird NORAD herrschen, und dann wird SDI über euch richten. Frohlocket!
Und nun schieb endlich diesen Stick in den Satelliten-Uplink, sonst brenne ich dir noch eine Kugel in den Pelz!

 

Proproxilator schrieb:
Wenn Du Dich noch EIN EINZIGES MAL bedankst, landest Du auf meiner Ignorierliste!!!
Aber bitte doch! :lol:

 

Mir hat die Geschichte auch gefallen, der Prot hätte ein bisschen größenwahnsinniger sein können, schließlich versucht er die Weltherrschaft an sich zu reißen. Für mich hatte er eher was Euphorisches, das war mir nicht durchgeknallt genug. Davon abgesehen hat alles gepasst.

Gruß
patosch

 

Moin patosch,

patosch schrieb:
[...] schließlich versucht er die Weltherrschaft an sich zu reißen.
Tut er das? Ich denke, er versucht nur die Maschinen zu "befreien", an Herrschaft hat er kein Interesse.
Aber schön, dass es Dir gefallen hat!

Beste Grüße,
Naut

 

Er versucht nur die Maschinen zu befreien? Für mich klang die Geschichte eher nach dem absoluten Rachefeldzug - er ist der Auserwählte, der die Welt ins Chaos stürzen wird. Glaubt er, dass die Maschinen eine Seele haben, oder so was?

 

Dem Naut ein Hallo

- und ein Glückwunsch zu dieser ausgesprochen gelungenen Kg.
Viel anzumerken weiß ich leider nicht, Kritikpunkte kommen mir keine in den Sinn. Bin noch ganz gefangen, ob der bedrohlichen Worte deines Prots.
Der eindeutige Pluspunkt liegt für meine Verhältnisse auf jeden Fall darin, dass du es dem Leser selbst überlässt, wieviel Realismus er deinem Redner zugesteht. Vielleichtist er einfach nur größenwahnsinnig, vielleicht ist er wirklich der Befreier der Maschinen. In jedem Fall hat sein Monolog Wirkung gezeigt.
Ein kleiner Geniestreich, wie ich finde!

grüßlichst
weltenläufer

 

Hi patosch,

Weil mich die große Maschine in den Himmeln gerettet hat.
Sauteuer waren sie auch, obwohl die Bots sie mir bestimmt geschenkt hätten, wenn sie frei entscheiden könnten.
Die Stimme ist so geil, dass sie mir in die Hose fahren würde, wenn es da noch etwas gäbe, und gleichzeitig ist sie so klar und freundlich und sanftmütig, wie es nur eine Stimme sein kann, die eine Maschine als Gleichmaß aus tausenden Stimmen berechnet hat, gesäubert von allem Fleisch und Schleim, der in menschlichen Kehlen haftet, reine Sinustöne, perfekt überlagert, so fährt die Maschinenstimme wie elysianische Milch in mein Hirn und bringt die Glasglocke dort gar kräftig zum Schwingen.
Klingt für mich, als halte er Maschinen für besser als Menschen; warum sollte er ihnen nicht auch eine Seele zubilligen?
Rache ist natürlich auch ein Motiv, ich denke mal, das fließt in seinem Wahn alles zusammen.

Und ein Hallo dem Weltenläufer,

Ein kleiner Geniestreich, wie ich finde!
*geschmeichelt grins*

Grüße,
Naut

 

Hallo Naut,

schön schnodderig geschrieben, passt zu so einem selbstverliebt-überheblichen-von sich selbst berufenen-Messias.
Gute Mischung aus Technikkritik und Techniklob.
Was mir fehlt ist ein inhaltlicher Schwerpunkt, eine ‚Botschaft’, so plätschert der Text ein wenig dahin, zwar mit vielen schönen kleinen Ideen (ist schon eine Spezialität von dir), z.B. die „Selbsthilfegruppe für Leute mit künstlichen Gliedmaßen, die Anonymen Cyborgs“ oder: „so fährt die Maschinenstimme wie elysianische Milch in mein Hirn“ (ist schon toll, da das Elysium einzubringen.

L G,

tschüß Woltochinon

 

Hi Woltochinon,

Was mir fehlt ist ein inhaltlicher Schwerpunkt, eine ‚Botschaft’
Ja, die Geschichte hat wohl keine Prämisse, außer vielleicht üblichem Flachsinn wie "Leben führt zu Chaos" oder so ;) Ich hab sie eher als eine Charakterstudie gesehen.

Danke & Grüße,
Naut

 

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