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Der Mittagssonnenzeiger
»Was ist das?«, fragte John.
»Ich nenne es Mittagssonnenzeiger. Es zeigt dir die Richtung.«
»Ein Wegweiser?«
»Nicht ganz. Es zeigt dir nicht die Richtung auf etwas. Vielmehr zeigt es immer in dieselbe Richtung.«
»Wenn es aber immer in dieselbe Richtung zeigt, dann nützt es mir doch nicht.«
Der Meister machte ein nachdenkliches Gesicht. »Lass es mich so erklären«, er hob seine Hand zum Mund und berührte mit dem Zeigefinger seine Nase. Mit zusammengekniffenen Augen fuhr er mit der Erklärung fort: »Stell dir vor, du willst durch einen tiefen Wald nach Hause gehen und du musst wegen dem dichten Unterholz oft deine Richtung ändern. Was tust du?«
»Die Sonne zeigt mir den Weg bei Tag und die Sterne bei Nacht.«
»Sehr gut! Du hast gelernt dich zu orientieren. Das freut mich.« Der Meister stand auf, ging um den Tisch herum und fuhr mit gedämpfter Stimme fort: »Was aber, wenn dichte Wolken am Himmel sind?«
»Wo ist das Problem? Ich gehe so lange in eine Richtung, bis ich an ein Weg, Fluss oder sonst ´was komme, wo ich mich auskenne und zurückfinde.«
John war in der Vergangenheit schon oft in dieser Situation gewesen und somit erschreckte ihn diese Frage keineswegs. Zu oft schon hatte er sich orientieren müssen, aber auch verlaufen – ordentlich verlaufen. Einmal musste er die ganze Nacht hindurch laufen – zum Ausruhen war es zu kalt –, um wieder zurückzufinden.
»Ich muss dich loben. Du weißt dir zu helfen und gibst nicht schnell auf. Das ist eine gute Eigenschaft.« Der Meister ging wieder zum Sessel und setzte sich.
Er nahm eine wartende Haltung ein. Nichts deutete darauf hin, dass er seine Erklärung zum Sonnenzeiger fortsetzen wollte. John war jetzt derjenige, der aufstand. Er ging zum Meister und bat ihm freundlich: »Darf ich mir den Sonnenzeiger ansehen?«
Der Meister machte mit seiner Hand eine zustimmende Geste. Ehrfürchtig nahm John den Mittagssonnenzeiger in die Hand.
Der Meister streckte seine Hand aus; mit der Handfläche nach oben. John legte ihn vorsichtig in seine Hand. Der Meister öffnete den Deckel und gab ihn John zurück. In einer öligen Flüssigkeit schwamm ein Stäbchen auf einer spitzen Nadel. Das eine Ende der Nadel war mit einem roten Punkt markiert.
»Wie funktioniert es?«, fragte John, ohne seine Augen von der tanzenden Nadel loszureißen.
Der Meister antwortete nicht. Er stand einfach nur geduldig da und ließ John den Mittagssonnenzeiger studieren.
Nachdem sich die Nadel beruhigt hatte, zeigte der rote Punkt genau auf die Südwand des Hauses. John musste nicht kontrollieren, ob es wirklich die Südwand war, denn er hatte die Angewohnheit, in jedem Haus, das er betrat, die Himmelsrichtung zu bestimmen.
John drehte sich zum Fenster, das nach Osten zeigte. Er hielt dabei den Mittagssonnenzeiger mit beiden Händen fest. Die Nadel drehte sich zur Südwand.
»Das ist ein Zauber«, rief John überrascht aus.
»Ein Zauber ist das nicht«, antwortete der Meister mit ruhiger Stimme, »aber ein Wunder ist es schon.«
»Meister, du sagst, dass es immer nach Süden zeigt, auch wenn die Sonne nicht scheint?«
»Immer!«
John ging im Zimmer herum, drehte sich – den Sonnenzeiger mit beiden Händen fest umklammert – zur Nord- und Westwand und ließ dabei die Nadel nicht aus den Augen. Die Nadel drehte sich – nach einer kurzen Weile die sie brauchte um sich zu beruhigen – immer nach Süden.
»Du darfst den Mittagssonnenzeiger behalten.«
John blickte freudig auf: »Wirklich?«
»Geh´ vorsichtig damit um.« Der Meister legte den Deckel wieder auf die Dose. »Lerne damit umzugehen und er wird dir sehr nützlich sein.«