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Der Mond über dem Finsteraarhorn

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09.09.2015
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Der Mond über dem Finsteraarhorn

Ein Geräusch hatte Jolanda geweckt. Ein kehliger Laut. Ihr eigenes Stöhnen. Das Nachthemd war bis zum Bauchnabel hochgeschoben und klebte am Körper. Zwischen ihren Brüsten stand Schweiß. Noch bevor sie die Augen öffnete, tastete sie über das Kopfkissen im Nebenbett. Leer. Micha, durchfuhr sie der erste klare Gedanke des frühen Morgens und die Erkenntnis kam mit einer Wucht, die sie in das Laken drückte, sodass sie glaubte, nie mehr die Kraft zum Aufstehen zu finden.
Er schaut mich nur an mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt. Er riecht nach Harz, Leder und Motorenöl. Ohne zu fragen, umschließt er mit seiner rauen Hand die meine, zieht mich mit sich. Und ich nehme es als Versprechen, dass er mich niemals loslassen wird. Mit seinem Lachen brechen die federleichten Tage an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so reglos lag und an die Decke starrte – Zeit war ohne Bedeutung für sie –, als sie zu zittern begann. Sie drückte eine Tablette aus dem Blister und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann bückte sie sich nach der Bettdecke, die auf die Dielen gerutscht war, und wickelte sich in sie ein. Jolanda sehnte sich nach Schlaf, der dem ewigen Grübeln nach dem Warum ein Ende setzte. Wünschte sich zurück in den Traum, der nur noch eine Ahnung war und ein diffuses Gefühl von Sehnsucht hinterlassen hatte.

Es regnete. Seit Tagen nichts als Regen, auch in Jolanda. Eine samtene Taubheit geleitete sie durch ihr neues Leben, das sie sich so nicht ausgesucht hat. Maria stand neben ihr, hatte sich untergehakt, um Jolanda zu stützen. Sie lauschte dem Trommeln der Tropfen und beobachtete, wie sie in Zeitlupe von den Schirmen auf die Schultern der Trauergäste fielen. Urs versank mit dem Rollstuhl im Matsch. Er war geschrumpft und wirkte zerbrechlich. Sein Blick irrte heimatlos über die Grabsteine. Speichel rann ihm übers Kinn.
Urs mustert mich mit stechendem Blick, sagt kein Wort. Nur die Sprache des Körpers ist deutlich. Er hat Angst vor mir, der Fremden, die ihm seinen Sohn stehlen will. Durch die angelehnte Küchentür höre ich ihn poltern: “Sie gehört nicht hierher, ein Püppchen aus Deutschland, zu schwach, zu zerbrechlich.“ Die Menschen hier haben sich an die Natur angepasst, sind schroff und kantig und kalt, denke ich und ergreife verletzt und wütend meinen Koffer. Nur Micha ist anders, ich seufze und bleibe.
Jolanda spürte, wie der Regen durch jede einzelne Pore in sie eindrang und ihr Blut verwässerte. All die schwarz gekleideten Menschen, die sich um das Grab drängten, sie sollten verschwinden, sollten die weißen Callas und Rosen mitnehmen. Sie erinnerten Jolanda daran, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.
Erde zu Erde, Asche zu Asche. Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie ein zu nasses Aquarell.

Als sie klingeln, scheint die Sonne. Die Luft duftet nach Erde, Gras und neuem Leben. Ich öffne die Haustür und vor mir stehen zwei Polizisten in Uniform. Zu zweit überbringen sie die Nachricht, als hätte ein einzelner zu schwer an ihr zu schleppen. Aber ich muss sie aushalten. Ich taumle rückwärts, finde Halt am Treppengeländer, umklammere die Stäbe aus Kiefernholz, die Micha erst vor wenigen Tagen geölt hat.

Jolanda schaufelte Blumenerde in die Balkonkästen. Sie trug keine Handschuhe, sie wollte die feuchte Kühle, das Leben, das der fetten schwarzen Krume innewohnte, spüren. Liebevoll löste sie die Wurzeln der weißen Geranien und setzte sie neu ein. Als sie jemand von hinten ansprach, fiel ihr beinahe der Topf aus den Händen und sie stieß einen spitzen Schrei aus.
„Entschuldige, das wollte ich nicht!“
„Wer bist du?“
„Ich bin dein Mann.“
„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
„Du musst nur genau hinschauen!“ Er nahm den Integralhelm ab. Während er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich und ihr Gesicht in beide Hände nahm, umwehte sie ein Hauch von Leder. Der Kuss war weich und sie wünschte sich, er würde niemals enden. Micha, dachte sie, er ist zurückgekommen. Er hob Jolanda hoch, als wäre sie eine Puppe, trug sie über die Schwelle ins Haus, weiter ins Schlafzimmer und legte sie behutsam aufs Bett, um sie nicht zu zerbrechen. Als er sie langsam entkleidete, rannen Jolanda wohlige Schauer über die Haut.
„Micha“, flüsterte sie. „Wo kommst du her?“
„Aus den Tiefen des Steins, von dort, wo der Mond das Finsteraarhorn berührt.“
Sie legte ihren Kopf an seine Brust. „Ja, das ist schön, erzähl mir ein Märchen!“
„Kein Märchen, Jolanda. Es ist wahr, ich liebe dich.“ Und er streichelte ihren Rücken, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken. Die Medikamente, der Preis, den sie gerne zahlte, um nichts zu fühlen. Sie gähnte, während sie den Tisch für die Eheleute Koller aus Berlin, die einzigen Gästen der Pension, deckte. Ein Gedanke kreiste in ihrem Hirn, klopfte an die Schädeldecke. Immer, wenn sie kurz davor war, das Bild zu fassen, versank es wieder im Nebel. Sie ließ sich auf die Eckbank sinken und zeichnete Kreise aufs Tischtuch. Die dunklen Trauerränder unter ihren Nägeln bildeten einen obszönen Kontrast zum Weiß. Jolanda schüttelte den Kopf. Die Kollers schwärmten vom Rhonegletscher, vom Blick auf das Finsteraarhorn. Plötzlich schob sich ein Negativ aus der Dunkelkammer ihres Hirns und gewann an Kontur. Der Mond steht über dem Finsteraarhorn. Micha wiegt Jolanda im Arm. Kalt und heiß und übel wurde ihr. Die Kaffeemaschine röchelte, die Brötchen dufteten und Jolanda verschwand im Bad, um sich zu übergeben.

Die Stiege zum Dachboden knarzte bei jedem Schritt. Der Geruch von trockenem Holz kroch Jolanda in die Nase, noch bevor sie die Tür vollständig aufgeschoben hatte. Jolanda schlug die Hand vor den Mund und ihr Herz setzte einen Schlag aus. An einem Querbalken schwebte eine schwarze Gestalt. Jemand hatte sich erhängt. Dann erkannte sie ihn. Jolanda versuchte, gleichmäßig zu atmen und näherte sich Michas Motorradanzug mit vorsichtigen Schritten, strich über das brüchige Leder, ertrug den Schmerz kaum, der in ihrem Inneren tobte.
Mit steifen Beinen steige ich auf den Beifahrersitz, umklammere Michas Taille, kralle mich in das Leder, als er Gas gibt. Die Honda jault auf und wir schießen pfeilschnell davon. Ich halte die Luft an. Ganz grau sitze ich hinter ihm, kann mich nicht bewegen. Mit jeder Kurve werde ich schwerer, während er federleicht zu schweben scheint.
Sie musste sich auf die Truhe setzen, auf deren Intarsienarbeit Urs immer so stolz war. Seit er im Pflegeheim lebte, lagerten hier seine letzten Habseligkeiten. Micha und sie hatten es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Fotoalben, Urkunden, Fachbücher lagen noch so, wie sie sie hinterlassen hatten. Jolanda fragte sich, was sie hier überhaupt machte und was sie sich von der Kramerei in den alten Sachen versprach. Sie ließ den Deckel fallen, Staub wirbelte auf und tanzte in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen. Ein letztes Mal drehte sie sich nach dem schwarzen Anzug um.

Dann holte sie das Fahrrad aus dem Schuppen. Sie trat kräftig in die Pedale. Sie musste zu Maria. Der Wind begleitete sie, mal schob er sie an, mal stemmte er sich ihr entgegen, zerrte an den Haaren.
Die Kirchenglocken begannen zu läuten, als Jolanda die Tür zur Buchhandlung aufstieß. Mit geröteten Wangen schob sie sich durch die Regalreihen.
Maria legte den Stapel Kriminalromane auf die Theke und ging der Freundin entgegen. „Meine Güte, du bist ja ganz durch den Wind.“
„Maria! Was weißt du über das Finsteraarhorn?“
„Setzt dich erst mal!“, sagte Maria.
„Sag schon!“
„Na ja, der höchste Berg der ...“
„Nein, das mein ich nicht. Etwas Magisches, ein Märchen vielleicht, das sich um den Berg dreht. Ach, ich weiß auch nicht. Hast du nichts hier?“
Maria runzelte die Stirn und fragte: „Hast du schon mal ins Netz geschaut?“
„Kein Anschluss, weißt du doch“, sagte Jolanda und trat von einem Bein aufs andere, während Maria die Datei öffnete.
„Reiseführer, Touristeninfos, Klettertouren“, sagte Maria. „Von Magie keine Spur. Aber ich werde recherchieren. Vielleicht hat Paps eine Idee. Warum musst du das wissen?“
„Erzähl ich dir später.“
„Pass auf dich auf, versprich es mir!“

Jolanda fühlte sich nach dem Ausflug unendlich ausgelaugt. Sie beschloss, sich eine halbe Stunde auszuruhen, nachdem sie das Geschirr in die Maschine geräumt hatte. Die geschlossenen Lider wurden zur Kinoleinwand, auf der die Bilder der federleichten Tage abliefen.
Wir schlendern durch die Stadt, Hand in Hand. Schlecken Eis, schauen Kindern beim Spielen zu. Ein Dreijähriger plantscht mit den Händen im Brunnen. Die Rufe der Mutter, die den leeren Buggy schiebt, erreichen ihn nicht. Micha sieht mich lange an, spürt meine Sehnsucht, zieht mich an sich und murmelt in mein Haar: „Wir haben alle Zeit der Welt, Jola.“
Die Stimme war ganz nah an ihrem Ohr, das Timbre von Micha. Jolanda schreckte hoch, blinzelte. Dann ein Klopfen an der Scheibe. Sie stand auf, zog die Gardine zur Seite und war nicht überrascht, Micha zu sehen. Die wirren Locken fielen ihm in die Stirn und er lachte sein Jungenlachen.
„Willst du mich nicht reinlassen?“
„Geh doch durch die Tür!“, sagte Jolanda und öffnete beide Fensterflügel.
„Wer braucht eine Tür?“ Mit einem Satz sprang er ins Zimmer.
„Ach, Micha, wo kommst du denn her, am helllichten Tage?“
„Von dort, wo die Gletscher knirschend ins Tal kriechen.“
„Und diesmal bleibst …“
Mit einem Kuss verschloss er ihren Mund. Seine Umarmung war so fest, dass Jolanda glaubte, gleich keine Luft mehr zu bekommen. Doch sie wollte es aushalten.
Ein Windhauch streifte Jolandas erhitzten Körper. Die Vorhänge blähten sich im Abendwind und durch das geöffnete Fenster hörte sie ein Motorengeräusch näherkommen. Als sie sich erhob, schmerzten die Glieder.

Die Scharniere der Gartenpforte quietschten. Maria stand auf dem Kiesweg und versuchte ein Lächeln, aber es rutschte weg.
„Hier! Das könnte es sein, wonach du suchst. Aus den alten Beständen meines Vaters. Er lässt schön grüßen. Auch Urs.“
Jolanda nahm das dünne, abgegriffene Büchlein zögerlich entgegen. „Danke, Maria! Du bist ein Schatz!“
„Magst es behalten, sagt Vater. Es soll dir Glück bringen.“
Jolanda umarmte Maria und nickte nur.

Das Buch lag auf dem Küchentisch und Jolanda zeichnete mit den Fingerkuppen die Prägung nach. Die goldenen Lettern waren abgeblättert.
Der Mond über dem Finsteraarhorn. Schweizer Sagenschatz. Originalausgabe 1912. Als sie die erste Seite umblätterte, zitterten die Hände. Die Bewegung übertrug sich auf das Papier und es sah aus wie ein lebender Organismus, der atmete. Sie hörte ihr Herz in den Ohren schlagen. Sie begann zu lesen:
„Dort, wo das Finsteraarhorn den Mond berührt, die Gletscher knirschend ins Tal kriechen, lebten tief unten, zwischen Kristallin und Schiefer, durchscheinende, gütige Wesen: die Aaren. Sie hatten die Gabe, menschliche Gestalt anzunehmen und ihre Bestimmung war es, den Bewohnern der Bergregion in Stunden tiefster Not beizustehen. Des Nachts besuchten sie die Menschen, schenkten ihnen wundervolle Träume und erfüllen ihnen die sehnlichsten Wünsche. Am helllichten Tage spürte man sie als das Streicheln des Windes auf der Haut.
Niemand weiß, woher sie kamen und wohin sie gegangen sind.“
Jolanda atmete schwer und flüsterte: „Sie sind gar nicht weg.“
Die Wände rasten auf sie zu.

Die Luft war warm und feucht und duftete nach Kirschblüten. Jolanda lag mit geschlossenen Augen in der Wanne. Der Schaum knisterte. Sie konnte hören, wie die Bläschen zerplatzten. Sie hatte die Sage so oft gelesen, dass sie den Text auswendig kannte: „Es geschah, dass sich ein noch unerfahrener Aar einer jungen, schönen Witwe annahm. Mit jeder Nacht, in der er in ihre Träume eindrang, gab er ein Stück von sich selber her, bis er sich unsterblich in sie verliebte.“
Jolanda seifte sich ein und tauchte unter Wasser. Später trug sie Bodylotion auf, sie wollte duften heute Nacht – für ihn. Dann öffnete sie den Lippenstift, den sie seit Wochen nicht gebraucht hatte. Er kroch aus der Hülse wie eine rosa Raupe und legte sich schimmernd auf ihre Lippen.
Jolanda ging zu Bett. Sie versuchte einzuschlafen, wollte den Traum herbeizwingen, doch sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und die Zeilen spukten in ihrem Kopf: „Der jungen Frau erschienen die Tage nach den Glücksmomenten der Nacht nur noch trostloser und ihr Herz wurde schwerer und schwerer. Sie sehnte sich danach, bei ihrem verstorbenen Mann zu sein. Der Aar konnte die Trauer der Witwe nicht länger ertragen, nahm die Gestalt des toten Ehemannes an und blieb fortan bei ihr.“
Jolanda strich über das kühle Linnen, tastete das Kopfkissen neben sich ab und verfing sich in wilden Locken.
„Du bist ja schon da?“, rief sie.
„Ja.“ Er küsste ihre Halsbeuge, streichelte ihre Brüste. So viele Hände und Münder, dass sie überall gleichzeitig sein konnten. Jolanda öffnete sich. Speichelbenetzte Haut, gespannte Muskeln, zuckende Leiber, die sich in die Lüfte erhoben, durch Schluchten segelten, in tiefe Bergseen eintauchten. Fließende, geschmeidige Bewegungen zweier Balletttänzer unter Wasser. Ein Schrei stieg in den Himmel und wurde von den schneebedeckten Gipfeln zurückgeworfen.
Langsam tauchte Jolanda aus der Trance auf. Zwischen ihren Schenkeln pochte es rhythmisch. Micha hatte sich auf die Seite gedreht, den Kopf abgestützt und betrachtete sie.
„Bleibst du jetzt für immer?“, flüsterte sie.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort: „Ja, Liebste, so wie es geschrieben steht.“
Doch als sie ihn berühren wollte, begann sein Körper zu zittern, zerfloss vor ihren Augen wie ein zu nasses Aquarell.

Das Krankenzimmer versank im Halbdunkel. Es roch nach Pfefferminze und Urin. Die Gestalt auf dem Bett lag still, nur der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Urs’ Hände ruhten schwer und leicht und gläsern auf der Decke. Seine Lider flatterten.
Erst als sich Jolanda räusperte und sagte: „Ich will mich verabschieden, Urs“, sah er sie an, stierte auf die Wölbung ihres Kleides.
Er schwieg.
Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkplatz ab, hob die Hand, ließ sie wieder sinken. Sie lächelte. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.

 

Danke, @Friedrichard, für

Andere hätten da - so spricht meine Erfahrung - "einer allein" draus gemacht ...

die nochmalige Aufklärung. Ich lasse den einzelnen und hör nun auf dich und schreib ihn klein.

Liebe Grüße von peregrina



Liebe @Raindog,

was für eine schöne Überraschung, dich hier unter meiner Geschichte zu finden.
Danke, dass du dir Zeit genommen hast.

deine romantisch-mystische Geschichte habe ich sehr gerne gelesen. Du hast einen klaren Stil, schreibst total sauber,...

Ich weiß nicht, sauber schon. Manchmal empfinde ich dieses Klare, Gedrechselte, mit wenig Kanten und Scharten schon als langweilig und fade. Mir ist, als ob der Leser sich gar nicht reiben könne.

Auch das Einflechten der Sage ist dir gut gelungen, das ist angenehm dezent.
Ganz, ganz selten, wie jetzt hier, ist es mir ein wenig zu süßlich:

Er schaut mich nur an aus gletscherblauen Augen mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt.
Das Gletscherblau und die Stromstöße würde ich versuchen, durch etwas Originelleres zu ersetzen. Oder ganz weglassen. Wie Micha einfach dasteht und nach Leder riecht, so als erster Eindruck, würde im Grunde auch genügen.
Und ich hab mir die ganze Zeit eingeredet, das wäre eine originelle Variante. :lol:
Am Gletscherblau hat sich auch schon @Chutney gestoßen. Ich dachte eben, der Gletscher bringt die totale Verbindung zur Bergregion, in der Micha lebt. Den Stromstößen gebe ich vielleicht einen Tritt. Mal sehen.

Maria stand dicht neben Jolanda, hatte sich untergehakt, um sie zu stützen.
Ich hatte etwas Probleme zu verstehen, wer Maria ist. Zunächst dachte ich, die Frau von Urs, also die Schwiegermutter sozusagen, weil Urs ja kurz danach genannt wird. Später scheint es aber doch eher eine gleichaltrige, vertraute Freundin zu sein. Das wundert mich allerdings ein wenig, weil ich den Eindruck hatte, dass Jolanda noch so neu ist in der Gegend. Es ist die Buchhändlerin, und sie können sich ja tatsächlich angefreundet haben, aber vielleicht könntest du das irgendwie noch deutlicher machen?
Meinst du, deutlich machen, wie lange Jolanda in der Schweiz lebt?
Oder wenn Maria eingeführt wird, erwähnen, dass sie die Freundin ist.

Maria stand dicht neben Jolanda. Die Freundin hatte sich untergehakt, um sie zu stützen.
Das kann ich doch so nicht machen? Oder?

Als sie klingeln, scheint die Sonne. Die Luft duftet nach Erde, Gras und neuem Leben.
Bitter ist das, mit dem neuen Leben, in dem folgenden Kontext. Und sicher deutest du hier schon an, dass sie schwanger ist, ob sie es nun schon weiß oder nicht.
Das finde ich ein schönes, trauriges Bild.
Ich deute an, das Frühsommer ist und auf jeden Fall, dass sich Jola ein Kind wünscht.

Aber ich muss sie aushalten, obwohl ich doch jetzt ganz alleine bin.
Das wiederum hätte ich nicht gebraucht, es schwächt mMn das Vorangegangene, indem es mir das nun so vorkaut. Du könntest hiermit einfach weitermachen, ohne das etwas fehlt:

Ich behalte den Vorschlag mal im Auge. Unter uns gesagt, ich pass schon immer auf, dass ich nicht vorkaue. Scheint mir durchgerutscht zu sein.

(Bebende Lippen – das ist nochmal so eine Kleinigkeit, wo gleich der Kitschdetektor ausschlägt - vielleicht bekommst du das noch anders hin?)
Außer streichen wüsste ich nix.

Ich verstehe übrigens nicht, warum sie hier sagt, er wäre mit seiner Maschine unterwegs, obwohl ihr ja klar ist, dass er tot ist und sie ja auch gleich darauf das hier denkt:

peregrina schrieb:
Micha, dachte sie, er ist zurückgekommen.

Also, sie ist vernebelt, ich weiß, aber denkt sie nun, dass er tot ist? Dann würde sie nicht sagen, er sei unterwegs. Denkt sie, dass er lebt? Dann würde sie nicht sagen, er sei zurückgekommen. Weißte? Oder kapiere ich hier einfach was nicht?

Das hast du gut erkannt. Wieder so eine Stelle, an der Chutney ebenfalls nachgefragt hat. Meine Überlegungen gingen einfach in die Richtung: Jola träumt. Und da es im Traum nicht immer logisch und folgerichtig zugeht, hab ich mir erlaubt, diesen Widerspruch einzubauen. Mir war a) die Erwähnung der Maschine wichtig, das Thema käme sonst recht spät im Text. Und b) Jolas Erleichterung darüber, dass er wieder zurück ist, weil sie sich immer, wenn er mit der Maschine unterwegs war, um ihn sorgte.
Aber ich klopf die Stelle trotzdem noch ab, wie viel Unlogig sie verträgt.

Als sie ihn berühren wollte, begann sein Körper zu zittern, wurde wässrig wie ein zu nasses Aquarell, zerfloss vor ihren Augen.
Inhaltlich gefällt mir das sehr, sprachlich stört mich irgendwas, weiß nicht genau, auf jeden Fall dreimal „ss“ , aber wohl auch, dass wässrig und zu nass redundant ist.
Meinst du? Aber es gibt doch auch Aquarelle, die nicht zu nass gemalt werden.
Vllt. geht es irgendwie so: Als sie ihn berühren wollte, begann sein Körper zu zittern, verlor die Konturen, zerfloss vor ihren Augen wie ein zu nasses Aquarell.
Ja, ist sauber und besser. Ich überdenke das.

Sie streckte die Hände nach ihm aus. „Verlass mich nicht!“ Sie griff ins Leere.
„Ein Teil von mir, Liebste, ein Teil von mir wird immer bei dir sein.“
Sie streckte die Hände nach ihm aus und griff ins Leere. Würde mir genügen, bei dem Rest meldet sich schon wieder der blöde Detektor. Den Rest würde ich nämlich auch ganz von alleine so für mich lesen, der tröstliche Schluß ist ja auch gegeben, ...
Schlägst du vor, der Aar sollte seine Klappe halten?

Wenn diese Ansage weg wäre, hätte ich ein kleines Problem weniger. Dann werde ich den Satz wohl doch streichen, da er sowieso nur einen Verweis auf die Schwangerschaft gibt. Und die Möglichkeit beinahe ausschließt, dass der Aar für immer zu Micha wird.

Federleichtigkeit
... die für meinen Geschmack zwar auch einfach als Leichtigkeit funktionieren würde, aber ja: Geschmack, wie gesagt, …
Nicht nur Geschmack, komm! Du hast schon ein sicheres Gespür für Sprache.
Doch an dem Punkt möchte ich widersprechen. Es kann nur Federleichtigkeit sein .:cool:

Vielen Dank für deinen Besuch und die Anregungen. Ich habe mich riesig gefreut und werde einige übernehmen.

Liebe Grüße von peregrina

 

Liebe peregrina

Da muss ich ja was schreiben, zu deiner zarten Geschichte. Geister, Schweizer Sagen, ganz meine Welt. :)
Der Text hat mir gefallen, ich habe aber auch zwei, drei Schwierigkeiten damit. Am überzeugendsten fand ich deine Sprache, das liest sich mehr als angenehm und du hast ein paar sehr schöne Formulierungen drin. Es gibt auch so Tell-Elemente, diffuses Gefühl von Sehnsucht oder heimatloser Blick, die anderswo nicht funktionieren würden, aber hier in deinem Text für meinen Geschmack eben schon. Ich fand die Passagen am stärksten, wo du nahe bei Jolandas Trauer bist, ihr hast du sehr schön Ausdruck verliehen. Wirklich stark!

Womit ich mich bis zum Ende nicht so recht anfreunden konnte, waren die Perspektivenwechsel. Ich meine, das ist schon frech, dass du die Vergangenheit im Präsens erzählst und für diese Frechheit ein Lob, aber mich hat es doch immer wieder rausgeworfen, es hat für mich den Text etwas unorganisch gemacht. Aber ist sicher eine Geschmacksfrage.

Was mich mehr umtreibt, ist die Frage, worin genau die Entwicklung in der Geschichte besteht, was eigentlich der Plot ist. Vielleicht habe ich was verpasst, aber die Hauptentwicklung sehe ich darin, dass Jolanda sich mit dieser Sage vertraut macht und so eine gewisse Erklärung für das Auftauchen des Aars findet. Es ist nicht ihr Mann, sondern eben ein Aar.
Aber ich lese das natürlich (auch) psychologisch und zwar so, dass ich nicht nur einen Erkenntnisprozess, sondern auch einen emotionalen Prozess erwarte und mich dann am Schluss auch bestätigt fühle. Denn da hast du zwei wesentliche Endpunkte, die Schwangerschaft einerseits und andererseits den Entschluss, wegzugehen (und damit auch den Schwiegervater endlich emotional abzustreifen). Aber was hat dazu geführt? Ich sehe, spüre nicht, was genau die Begegnungen mit dem Aar auslösen, welchen Prozess sie anstossen. Ich denke, der Text ist strukturell so angelegt, dass der Aar zur Wende beiträgt, auf einer Ebene der Interaktion oder, wenn man den Text psychologisch liest, auf der Ebene eines inneren Prozesses, den Jolanda durchläuft. Aber aus dem Text nehme ich da nur, dass der Aar tröstet in der dunklen Zeit. Seine Funktion ist nur eine begleitende, keine verändernde. Um es noch ganz platt zu formulieren: Wäre der Aar nicht, würde die Geschichte doch genau gleich enden können: Jolanda merkt, dass sie schwanger ist, und verlässt den Ort.
Und um es noch auf der konkreten Ebene zu formulieren: Der Aar erscheint dreimal, aber jedes Mal geschieht, mit kleinen Variationen, dasselbe. Liebkosung, woher kommst du, bitte bleib, kurze Momente des Glücks. Mir fehlt da die psychologische, die innere Entwicklung, sodass die Geschichte nicht nur dadurch vorangetrieben wird, dass für Jolanda und für den Leser der sagenhafte Hintergrund aufgerollt wird.
Ein Folgeaspekt davon ist, dass die Beziehung zum Schwiegervater irgendwie nebenher läuft und nicht in den inneren Prozess der Auseinandersetzung einbezogen wird. Du hast also diese Ausgangsssituation, die ich sehr reizvoll finde, der Schwiegervater hat sie immer schon nicht gemocht. Sie musste kämpfen. Und du hast die Endsituation, sie verlässt den Ort und damit auch den Schwiegervater. Klar, nach dem Tod des Mannes ist alles anders, aber dieser Aspekt wird im Text nicht gezeigt (oder ich habe wieder mal etwas überlesen). Also insgesamt ist mir das in der psychologischen Dynamik, in der inneren Dramatik noch nicht so ganz schlüssig geworden, bzw. ich kann das mit dem Aar (den ich in erster Linie nur als Tröster wahrnehme) nicht verknüpfen.
Ich hoffe, ich habe mich verständlich ausgedrückt, ich befrüchte, ich bin etwas eingerostet. ;)

Details:

Er schaut mich nur an aus gletscherblauen Augen mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt.
Uff. Lieber die Stromstösse als die gletscherblauen Augen behalten, wenn du mich fragst. Aber ist schon gut, wenn eines davon weg.
Wünschte sich zurück in den Traum, der nur noch eine Ahnung war und ein diffuses Gefühl von Sehnsucht hinterlassen hatte.
Gefällt mir gut!
Eine samtene Taubheit geleitete sie durch ihr neues Leben, das sie sich so nicht ausgesucht hat.
hatte
Maria stand dicht neben Jolanda, hatte sich untergehakt, um sie zu stützen. Sie lauschte dem Trommeln der Tropfen und beobachtete, wie sie in Zeitlupe von den Schirmen auf die Schultern der Trauergäste fielen.
Ich glaube: "Maria stand neben ihr, hatte sich untergehakt, um sie zu stützen. Jolanda lauschte ..." ist sowohl eleganter als auch eindeutiger.
Er war geschrumpft, er wirkte zerbrechlich.
Gefällt mir hier nicht so. Ich würde die Sätze einfach mit "und" verbinden.
Sie erinnerten Jolanda daran, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.
? Sie weiss ja, was passiert ist. Also: "dass etwas Furchbares passiert war."
Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.
Das einzige Bild, das ich schief fand, und wo ich gedacht habe, ah, ein Darling, der musste irgenwie rein. Aber vielleicht liegt es an mir. Ich finde die Uhren in erster Linie witzig. Passt nicht so zur Atmosphäre.
„Wer bist du?“, fragte Jolanda mit bebenden Lippen.
„Ich bin dein Mann.“
„Mein Mann? Der ist mit seiner Maschine unterwegs.“
Warum sagt sie das?
Maria legte den Stapel Kriminalromane auf die Theke und ging der Freundin entgegen. „Meine Güte, du bist ja ganz durch den Wind.“
„Maria! Was weißt du über das Finsteraarhorn?“
„Setzt dich erst mal!“, sagte Maria.
„Sag schon!“
„Na ja, der höchste Berg der ...“
„Nein, das mein ich nicht. Etwas Magisches, ein Märchen vielleicht, das sich um den Berg dreht. Ach, ich weiß auch nicht. Hast du nichts hier?“
Maria runzelte die Stirn und fragte: „Hast du schon mal ins Netz geschaut?“
„Kein Anschluss, weißt du doch“, sagte Jolanda und trat von einem Bein aufs andere, während Maria die Datei öffnete.
„Reiseführer, Touristeninfos, Klettertouren“, sagte Maria. „Von Magie keine Spur. Aber ich werde recherchieren. Vielleicht hat Paps eine Idee. Warum musst du das wissen?“
„Erzähl ich dir später.“
„Pass auf dich auf, versprich es mir!“
Das könnte für mich alles weg. Das ist irgendwie so profan und passt überhaupt nicht in die Stimmung der Geschichte. Das liesse sich in einem Satz zusammenfassen: Maria hat ihr ein Buch gegeben und sie liest darin ...

Ich habe jetzt viele Worte verwendet, um die Schwierigkeiten zu formulieren, die ich an einigen Stellen hatte. Das wird dem Umstand aber keinesfalls gerecht, dass ich die Geschichte insgesamt sehr gerne gelesen habe. Es sei deshalb hier ausgesprochen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Lieber @Peeperkorn,

ganz lieben Dank für deinen ausführlichen Komm. Sehr spannend, deine Ansichten zu dem Text zu erfahren. Sorry, dass die Antwort auf sich warten ließ, aber ich bin momentan auf Reisen.

Da muss ich ja was schreiben, zu deiner zarten Geschichte. Geister, Schweizer Sagen, ganz meine Welt. :)
Ja, ganz deine Bergwelt. Ich hatte angenommen, dass möglicherweise sachlich falsche Begriffe im Text enthalten sein könnten. Zum Beispiel wusste ich nicht, ob die Polizei bei euch auch Polizei genannt wird, oder Gendarmerie oder ähnliches. Fand aber im Netz nichts, womit ich etwas anfangen konnte.

Der Text hat mir gefallen, ich habe aber auch zwei, drei Schwierigkeiten damit. Am überzeugendsten fand ich deine Sprache, das liest sich mehr als angenehm und du hast ein paar sehr schöne Formulierungen drin.
Ein tolles Lob! Danke! Oft denke ich, dieser Sprachstil, den ich mehr oder weniger für mich gefunden habe, ist viel zu poliert. Mein Gefühl sagt mir: Der Leser kann nicht andocken, er rutscht ab, eben weil alles so glatt ist.

Es gibt auch so Tell-Elemente, diffuses Gefühl von Sehnsucht oder heimatloser Blick, die anderswo nicht funktionieren würden, aber hier in deinem Text für meinen Geschmack eben schon.
Ach, ich weiß nicht. Reine Show-Texte werde ich wohl nie schaffen. Und ich bin mir auch nicht sicher, ob das in jedem Falle nötig ist.

Ich fand die Passagen am stärksten, wo du nahe bei Jolandas Trauer bist, ihr hast du sehr schön Ausdruck verliehen. Wirklich stark!
Ja, das empfinde ich auch so, die Trauer ist gut eingefangen.

Womit ich mich bis zum Ende nicht so recht anfreunden konnte, waren die Perspektivenwechsel. Ich meine, das ist schon frech, dass du die Vergangenheit im Präsens erzählst und für diese Frechheit ein Lob, aber mich hat es doch immer wieder rausgeworfen, es hat für mich den Text etwas unorganisch gemacht. Aber ist sicher eine Geschmacksfrage.
Vergangenes im Präsens zu erzählen hat was Keckes, ja, ist leider nicht auf meinem Mist gewachsen. Ich mag das Spiel mit dem Zeitenwechsel in dieser Geschichte sehr. Und in Verbindung mit dem Ich soll Präsens zeigen, dass die Vergangenheit Jola näher als das Jetzt ist. Aber das ist dir sicher bewusst. Es gibt eine Version der Geschichte, da sind die Traumsequenzen ebenfalls in der Gegenwart erzählt. Doch da fehlte mir der fließende Übergang zum Tagesgeschehen. Das funktioniert in der momentanen Variante besser.

Was mich mehr umtreibt, ist die Frage, worin genau die Entwicklung in der Geschichte besteht, was eigentlich der Plot ist. Vielleicht habe ich was verpasst, aber die Hauptentwicklung sehe ich darin, dass Jolanda sich mit dieser Sage vertraut macht und so eine gewisse Erklärung für das Auftauchen des Aars findet. Es ist nicht ihr Mann, sondern eben ein Aar.
Ja, das ist erst mal korrekt.
Der Anspruch an die Geschichte und mich selbst ist, vllt. lächerlich hoch, dass man die Geschehnisse unterschiedlich lesen und deuten kann, vor allem das Ende oder den Vater des Kindes betreffend. Die Entwicklung der KG und der HF soll darin bestehen, so mein Grundanliegen, dass Trauer und Schmerz erst mit Tabletten, später mit Flucht in eine Traumwelt ausgeblendet werden. Dieses fatale Verhalten findet im Finale seinen Höhepunkt: Jola lebt die Sage.

Ich sehe, spüre nicht, was genau die Begegnungen mit dem Aar auslösen, welchen Prozess sie anstossen. Ich denke, der Text ist strukturell so angelegt, dass der Aar zur Wende beiträgt, auf einer Ebene der Interaktion oder, wenn man den Text psychologisch liest, auf der Ebene eines inneren Prozesses, den Jolanda durchläuft. Aber aus dem Text nehme ich da nur, dass der Aar tröstet in der dunklen Zeit. Seine Funktion ist nur eine begleitende, keine verändernde.
Das ist schade, wenn du den Text so liest. Leider hab ich kein Rezept parat, wie ich den emotionalen Entwicklungsprozess Jolas deutlicher machen könnte. Wo da Lücken sind und wie ich sie schließen kann.

Um es noch ganz platt zu formulieren: Wäre der Aar nicht, würde die Geschichte doch genau gleich enden können: Jolanda merkt, dass sie schwanger ist, und verlässt den Ort.
Das sehe ich anders, zumindest war mein Plan ein anderer. Wäre der Aar ihr nicht erschienen, hätte sie keine Berührungspunkte mit der Sage, wäre nicht immer mehr in ihren Sog geraten. Sie verlässt die Schweiz nicht, weil sie ein Kind erwartet.

Und um es noch auf der konkreten Ebene zu formulieren: Der Aar erscheint dreimal, aber jedes Mal geschieht, mit kleinen Variationen, dasselbe. Liebkosung, woher kommst du, bitte bleib, kurze Momente des Glücks. Mir fehlt da die psychologische, die innere Entwicklung, sodass die Geschichte nicht nur dadurch vorangetrieben wird, dass für Jolanda und für den Leser der sagenhafte Hintergrund aufgerollt wird.
Hoffentlich reden wir jetzt nicht an einander vorbei.
Der Aar erscheint dreimal (wie im Märchen so üblich, haha), als Tröster, wenn man so will. Aber in Jolas Verhalten gibt es eine Steigerung, die ihre zunehmende Bereitwilligkeit zeigen soll, seine Anwesenheit (eine Täuschung) zu akzeptieren. Die Badszene, die Vorbereitung auf sein Erscheinen soll schon ihre Abhängigkeit und somit ihren Realitätsverlust belegen. Er ist also auch Verführer.
Realität und Sage sind zwei parallele Stränge, die sich im Finale so stark verflechten, dass sie Jola nicht mehr unterscheiden kann.

Ein Folgeaspekt davon ist, dass die Beziehung zum Schwiegervater irgendwie nebenher läuft und nicht in den inneren Prozess der Auseinandersetzung einbezogen wird. Du hast also diese Ausgangsssituation, die ich sehr reizvoll finde, der Schwiegervater hat sie immer schon nicht gemocht. Sie musste kämpfen. Und du hast die Endsituation, sie verlässt den Ort und damit auch den Schwiegervater. Klar, nach dem Tod des Mannes ist alles anders, aber dieser Aspekt wird im Text nicht gezeigt (oder ich habe wieder mal etwas überlesen). Also insgesamt ist mir das in der psychologischen Dynamik, in der inneren Dramatik noch nicht so ganz schlüssig geworden, bzw. ich kann das mit dem Aar (den ich in erster Linie nur als Tröster wahrnehme) nicht verknüpfen.
Der Schwiegervater ist für mich tatsächlich nur Statist. Beeindruckend, wie gut du das herausgefiltert hast. Ich brauche ihn nur, um zu zeigen, Jola war unerwünscht, die Bindung zu Micha jedoch so stark, dass sie trotz Widerstand ihr Land verlassen hat und zu ihm gezogen ist. Und am Schluss ist Urs mein Augenzeuge, der die Schwangerschaft beglaubigt, sodass der Leser weiß, sie existiert also nicht nur in Jolas Fantasie.
Sie verlässt die Schweiz nicht, um Urs zu entkommen (der ist krank und im Pflegeheim) oder ihm womöglich sein Enkelkind vorzuenthalten, sondern weil sie ihrem jetzigen Umfeld die „Auferstehung“ Michas nicht erklären könnte. Denn Jola sieht Micha, er wartet auf dem Parkplatz auf sie.
In meinem Wunschdenken, eine mögliche Auslegung der KG. So positiv sich das Ende auf den ersten Blick auch lesen mag. Es könnte auch bedeuten, dass Jola nach wie vor in ihrer „Traumwelt“ gefangen ist.
Ich hab’s an anderer Stelle schon erwähnt: Es soll eine Geschichte über Realitätsverlust sein. Aber ich habe an den Kommentaren festgestellt, dass dieser Aspekt irgendwie nicht beim Leser ankommt. Die Geschichte wird als romantisch wahrgenommen, allerdings nicht als „gefährlich“ oder „bedrohlich“.

Lieber Peeperkorn, jetzt kann ich nur hoffen, dass deine Anmerkungen restlos zu mir durchgedrungen sind. Mit den Assoziationen ist das ja so eine Sache, :lol: wie wir wissen.
Er: „Schreiben, vier!“
Sie: „Ähm... Fliege!“

Er schaut mich nur an aus gletscherblauen Augen mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt.
Uff. Lieber die Stromstösse als die gletscherblauen Augen behalten, wenn du mich fragst. Aber ist schon gut, wenn eines davon weg.
Jetzt sind erst mal die Gletscher-Augen entfernt! Die fand ich so cool und die passten so perfekt zu Michas Heimat. :D

Maria stand dicht neben Jolanda, hatte sich untergehakt, um sie zu stützen. Sie lauschte dem Trommeln der Tropfen und beobachtete, wie sie in Zeitlupe von den Schirmen auf die Schultern der Trauergäste fielen.
Ich glaube: "Maria stand neben ihr, hatte sich untergehakt, um sie zu stützen. Jolanda lauschte ..." ist sowohl eleganter als auch eindeutiger.
Danke! Hab den Vorschlag übernommen. Den Satz hatte ich fix mal an eine andere Stelle gerückt, gesehen, dass der Bezug nicht klar war, dachte aber, wird schon niemand merken.

Sie erinnerten Jolanda daran, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.
? Sie weiss ja, was passiert ist. Also: "dass etwas Furchbares passiert war."
Interessant! Hab ich bewusst so geschrieben. Sie weiß es, verdrängt aber auf Teufel komm raus.

Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.
Das einzige Bild, das ich schief fand, und wo ich gedacht habe, ah, ein Darling, der musste irgenwie rein. Aber vielleicht liegt es an mir. Ich finde die Uhren in erster Linie witzig. Passt nicht so zur Atmosphäre.
Nein, ein Darling ist es nicht. Aber ich dachte, weil sich Motto Zeit und Fließen ohnehin durch den gesamten Text ziehen, wäre es ein passender Vergleich.

„Wer bist du?“, fragte Jolanda mit bebenden Lippen.
„Ich bin dein Mann.“
„Mein Mann? Der ist mit seiner Maschine unterwegs.“
Warum sagt sie das?
Du bist nicht der Einzige, der diese Frage stellt. Meine bisherige Erklärung: Weil sie träumt und weil es im Traum selten logisch zugeht. Nun habe ich erkannt, dass der Leser trotzdem mehr Folgerichtigkeit erwartet und hab die Antwort nun geändert in: „Mein Mann? Der hat mich verlassen.“ Total unglaubwürdig wäre es für mich, würde sie sagen: „Mein Mann ist tot.“ Denn sie lässt ja diese Erkenntnis nicht vollständig zu, auch nicht im Traum.

Maria legte den Stapel Kriminalromane auf die Theke und ging der Freundin entgegen. „Meine Güte, du bist ja ganz durch den Wind.“
„Maria! Was weißt du über das Finsteraarhorn?“
...
„Reiseführer, Touristeninfos, Klettertouren“, sagte Maria. „Von Magie keine Spur. Aber ich werde recherchieren. Vielleicht hat Paps eine Idee. Warum musst du das wissen?“
„Erzähl ich dir später.“
„Pass auf dich auf, versprich es mir!“
Das könnte für mich alles weg. Das ist irgendwie so profan und passt überhaupt nicht in die Stimmung der Geschichte. Das liesse sich in einem Satz zusammenfassen: Maria hat ihr ein Buch gegeben und sie liest darin ...
Da bin ich ganz bei dir. Eine schrecklich banale Szene, die aus dem Erzählduktus fällt.
Aber die Passage ist eine vorbeugende Maßnahme, damit mir ja kein Leser auf die Idee komme, das Sagenbüchlein springe wie Kasper aus der Kiste in Jolas Hände. Deshalb lasse ich sie auch den Umweg über den Dachboden an der Holzkiste vorbei nehmen. Mir erschien es zu simpel, das Buch darin zu finden. Vielleicht eine falsche Wahl des dramaturgischen Mittels, um Jolas Denkprozess zu zeigen.

Ich habe jetzt viele Worte verwendet, um die Schwierigkeiten zu formulieren, die ich an einigen Stellen hatte. Das wird dem Umstand aber keinesfalls gerecht, dass ich die Geschichte insgesamt sehr gerne gelesen habe. Es sei deshalb hier ausgesprochen.
Danke! Aber es sind ja gerade die Stolpersteine und Ungereimtheiten oder die offenen Fragen, auf die ich neugierig bin. Deshalb noch mal herzlichen Dank für dein analytisches Herangehen und deine Gedanken zum Text.

Frohe Weihnachtstage für dich (und alle, die das lesen :D)
Liebe Grüsse von peregrina

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe peregrina

Vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Du fragst dich sicher, wie es kommen konnte, dass ich - was den folgenden Aspekt betrifft - den Text so anders gelesen habe, als du ihn angelegt hast:

Wäre der Aar ihr nicht erschienen, hätte sie keine Berührungspunkte mit der Sage, wäre nicht immer mehr in ihren Sog geraten. Sie verlässt die Schweiz nicht, weil sie ein Kind erwartet.
Die Badszene, die Vorbereitung auf sein Erscheinen soll schon ihre Abhängigkeit und somit ihren Realitätsverlust belegen. Er ist also auch Verführer.
Realität und Sage sind zwei parallele Stränge, die sich im Finale so stark verflechten, dass sie Jola nicht mehr unterscheiden kann.
Tatsächlich habe ich die Erscheinungen des Aars als vorübergehende Episode gelesen und zwar, weil du schreibst:
„Verlass mich nicht!“ Sie griff ins Leere.
Das ist kurz vor dem Ende. Er erscheint das letzte Mal, danach ist er weg. Ich habe das so gelesen, dass Jolanda hier gewissermassen aufwacht. Die Verflechtung von Realität und Sage habe ich also nicht so stark wahrgenommen, vielleicht auch, weil die Traumelemente im Text immer sehr klar abgegrenzt sind, die werden als Ereignisse mit klaren Grenzen - Auftauchen, Verschwinden - präsentiert. Darum bin ich vielleicht nicht so mitgegangen in diese Verflechtung hinein.

Ja, aber, wirst du wohl sagen, was ist denn mit der folgenden Passage?

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder.
Ich habe das "wir" als "Ich und das Baby in meinem Bauch" gelesen. Weshalb sie den Parkplatz absucht, hat sich mir nicht erschlossen, und ich habe dummerweise auch nicht darüber nachgedacht. Typisches Beispiel, wie eine Erwartungshaltung die Rezeption beeinflusst. Wie gesagt, dieser Griff ins Leere, den du oben erwähnst, war für mich so eindeutig ein Abschluss, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, das "wir" anders zu lesen. Ein zusätzlicher Grund, weshalb ich das "wir" nicht als "Jolanda und Micha" gelesen habe, liegt darin, dass ja Micha durchaus hier zuhause ist, so habe ich das zumindest wahrgenommen und das ist ja wohl auch der Grund, weshalb sie in der Schweiz geblieben sind. Wäre da z.B. "Wir gehen zum Finsteraarhorn", hätte ich das wohl anders aufgenommen.
Sie verlässt die Schweiz nicht, um Urs zu entkommen (der ist krank und im Pflegeheim) oder ihm womöglich sein Enkelkind vorzuenthalten, sondern weil sie ihrem jetzigen Umfeld die „Auferstehung“ Michas nicht erklären könnte.
Diese Lesart ist mir daher nicht im Traum eingefallen. Ich habe das aber auch nicht als ein "Entkommen" gedeutet, vielmehr als ein Abschiednehmen, als Loslösung und Neuanfang, nachdem sie den Tod Michas endlich akzeptiert hat. Lustig, nicht? Fast eine gegenteilige Lesart.
Denn Jola sieht Micha, er wartet auf dem Parkplatz auf sie.
Wenn du das denn auch im Text schreiben würdest? :D Könnte einen grossen Unterschied machen.

Lieber Gruss
Peeperkorn

 

Liebe peregrina,

gleich zu Anfang möchte ich dir mal sagen, dass mich der Titel total wuschig gemacht hat. Wie spricht man denn das Finsteraarhorn aus?
Finster-Aarhorn oder Finsteraar-Horn?
Dieses Doppel-A ist schlimm :D


Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so reglos lag und an die Decke starrte – Zeit war ohne Bedeutung für sie –, als sie zu zittern begann.
Der Satz holpert für mich. Vielleicht auch, weil es für mich eher: bis sie zu zittern begann heißen müsste. Auch verstehe ich den Gedankenstrich + Komma nicht, das Komma könnte man meiner Ansicht nach streichen.

„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
Ich denke nicht, dass eine Witwe davon spricht, dass der Mann sie verlassen hat, wenn es sich um einen tödlichen Unfall handelt.

Kalt und heiß und übel wurde ihr. Die Kaffeemaschine röchelte, die Brötchen dufteten und Jolanda verschwand im Bad, um sich zu übergeben.
Beim ersten Lesen dachte ich: Eigentlich typisch für Schwangerschaft - aber das kann ja nicht sein :D - jedoch nahm ich der Geschichte auch ab, dass Jolanda so fix und fertig ist, dass sie sich deswegen übergeben muss. Gut gemacht.
Der Geruch von trockenem Holz kroch Jolanda in die Nase, noch bevor sie die Tür vollständig aufgeschoben hatte. Jolanda schlug die Hand vor den Mund und ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Die zweite Jolanda würde ich durch ein sie ersetzen.


Die Luft war warm und feucht und duftete nach Kirschblüten.
Mir ist da ein und zuviel. Vielleicht machst du ein feuchtwarm aus den zwei Wörtern?
Der Schaum knisterte. Sie konnte hören, wie die Bläschen zerplatzten.
redundant - das Knistern ist das Zerplatzen. Ich würde den ersten Satz streichen.

Urs’ Hände ruhten schwer und leicht und gläsern auf der Decke.
Das scheint Absicht zu sein - hier nochmals die zwei und hintereinander. Mir gefällt das nicht, aber wenn du es zweimal so arrangierst, vermute ich, dass es Absicht ist.


Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.
Ohne die Erklärung an Peeperkorn hätte ich das mit dem Parkplatz auch nicht verstanden.

Du servierst dem Leser nicht viel, ohne dass er nachdenken sollte, jedoch war es mir dafür mit der Sage zu konkret mit der 1:1-Übernahme vom Text. Das war mir ehrlich gesagt zu banal. Du könntest du noch viel mehr die Mystik spielen lassen, sonst wird die KG zur regionalen Sagenkunde.

Du versuchst ihre Unzurechnungsfähigkeit von Szene zu Szene zuzuspitzen. Jedoch sehen wir bis zum Ende, dass sie funktioniert. Zwar ist sie müde und man weiß, dass sie sich in eine Traumwelt flüchten will - aber vielleicht hätte man das Abdriften besser einordnen können, wenn auf dem Weg dahin auch mal was Blödes passiert wäre, was dem Tablettenkonsum zuzuschreiben gewesen wäre, so, dass man als Leser wacher wird. Müde ist jeder mal und muss sich durch den Tag schleppen.

Ich fand den ersten Durchgang nicht so einfach zu lesen, auch aufgrund der Zeiten, die du gewählt hast. Beim zweiten Mal erschloss sich alles.
Sehr gut gemacht, peregrina, bis auf die vielen Zitate der Sage.

Die Challenge-Vorgabe kommt auch so nebenbei daher, dass ich nach dem ersten Lesen wirklich nicht mehr wusste, wo irgendwas mit Koffer war :shy::
Die Menschen hier haben sich an die Natur angepasst, sind schroff und kantig und kalt, denke ich und ergreife verletzt und wütend meinen Koffer. Nur Micha ist anders, ich seufze und bleibe.

Sehr dezent eingebaut, aber passt.

Hat mir gut gefallen,
liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Peregrina, ich schalte mich mal in die Diskussion zwischen dir und @Peeperkorn ein. Mir ist es nämlich genauso gegangen wie ihm. Ich las den Aar als vorübergehende Fantasie, Traumwelt, Halluzination, die ihr Trost schenkt.
Und zwar auch genau wegen diesem Satz:

„Verlass mich nicht!“ Sie griff ins Leere.
Da denkt man, er ist ab nun verschwunden. Man bemerkt durchaus, dass Traumwelt und Realität verschwimmen, aber hier hast du dem für mein Empfinden ein Ende gemacht. Die Realität kehrt zurück, der Aar verschwindet.

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder.
"Wir" eindeutig Jolanda selbst und ihr ungeborenes Kind. Ich lese jetzt mit der neuen Info zwar das Absuchen des Parkplatzes anders, bisher hatte ich mich darüber gewundert, aber das Bauchstreicheln hat mir nur eine Deutung nahegelegt.
Also ich würde sie den Aar auch etwas deutlicher auf dem Parkplatz sehen lassen. Für mich hat sich das tatsächlich nicht erschlossen, dass er da ist.
Dadurch war die Geschichte eher die Geschichte eines Verlustes und des Trostes, die zwar die sehr deutliche Anlage hatte, dass die Traumwelt von Jolanda Macht ergreift. Sie mit ihrer Hilfe gehen kann, aber eben nur vorübergehend auf Kosten ihrer Realitätswahrnehmung.
Für einen dauerhaften, wirklich wahnhaften Realitätsverlust Jolandas hatte ich wenig Anhaltspunkte, weder an ihr selbst, die Fantasie verschwindet ja wieder, noch an ihrer Vision, denn der Aar verändert sich ja auch nicht in ihren Augen. Das wäre nämlich auch eine Möglichkeit, ihren Realitätsverlust zu verdeutlichen, indem man ihn mächtiger, greifbarer, fordernder werden lässt. Aber das wäre wieder was anderes.
Kurz und gut, ich würde auf jeden Fall auch den Punkt, dass sie Micha auf dem Parkplatz sieht und er ein Teil des "Wir" ist, verstärken.

Viele Grüße von Novak

 
Zuletzt bearbeitet:

„Aus den Tiefen des Steins, von dort, wo der Mond das Finsteraarhorn berührt.“
Sie legte ihren Kopf an seine Brust. „Ja, das ist schön, erzähl mir ein Märchen!“

Liebe peregrina,

Du schreibst in einer Antwort an @Peeperkorn

Sie verlässt die Schweiz nicht, um Urs zu entkommen (der ist krank und im Pflegeheim) oder ihm womöglich sein Enkelkind vorzuenthalten, sondern weil sie ihrem jetzigen Umfeld die „Auferstehung“ Michas nicht erklären könnte. Denn Jola sieht Micha, er wartet auf dem Parkplatz auf sie
weg von Weihnachten und jenseits von Ostern nach Pfingsten bringt,

Feiertage, die bewusst von der Kirche zur Festigung der eigenen Postion mit uralten Feiertagen sich verknüpfen lassen – wie gerade aktuell das Julfest / die Wintersonnenwende,

Du schaffst quasi, als wär‘s mal eben so „nebenbei“ eine moderne Form des uralten Mythos der Wiederauferstehung, dessen älteste, mir bekannte Form im alten Ägypten mit Mord und Wiederauferstehung des Osiris (die Jahreszeiten symbolisierend) zusammenhängt, den wir heute mit Madonna und Kind unterm Weihnachtsbaum feiern (nur da eben umgekehrt, die Geburt ist ja nicht nur mit dem Kindermord, sondern gleich mit der Kreuzigung und Auferstehung zu verknüpfen), die ursprünglich Isis (= Geburt und Magie, aber – als Gattin des Osiris – zugleich Totengöttin) hieß und den Horus gebar, der Gott Ägyptens schlechthin, bis hin zu Pharao.

Wie komm ich darauf?

Nicht nur über die zitierte Stelle, sondern auch über die Wahl der Namen, die m. E. zunächst zufällig erscheinen mag (Jolanda in all seinen Formen werden – zumindest in Norddeutschland – nicht nur gelegentlich Sauen genannt) dann aber schon im „Urs“ als dem latinisierten „Bären“ eine Ergänzung findet: Die Alten mieden es, den richtigen Namen des gefährlichen, „zerstörerischen“ Tieres zu nennen und nannten ihn „Bruno“ nach seiner Fellfarbe. Wenn ich Dir jetzt verrate, dass „bern“ der Genitiv des ahd. „bern“ (Genitiv), nhd. Bären + zugleich plutalistisch) ist, weißtu, woher „Bern“ (und ganz nebenbei auch „Berlin“) seinen Namen hat, dessen höchster Berg eben der wie eine Haispitze (natürlich nur aus der im Netz eingestellten Perspektive) wie eine Haiflosse in den Himmel ragt.

Aber auch „Micha“ ist martialisch besetzt, nicht umsonst hat Kleist den Namen des „Hans Kohlhase“ in seiner historischen Novelle mit dem Namen des Erzengels „Michael“ (= „Wer ist wie Gott“) belegt, der in Glaubensfragen den Teufel - eigentlich ein überflüssiges Konstrukt im Monotheismus – bekämpft, der natürlich heutigentags motorisiert daherkommt

Er schaut mich nur an mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt. Er riecht nach Harz, Leder und Motorenöl. Ohne zu fragen, umschließt er mit seiner rauen Hand die meine, zieht mich mit sich.

Für alle gilt, selbst für den Namen der Maria
Zeit war ohne Bedeutung für sie
selbst wenn Urs in seinem ersten Auftritt und im Rollstuhl „schrumpft“ und „im Matsch versinkt“ (wo die halbe, befellte Tierwelt durchscheint, wenn sie ihr Fell säubert und von Flöhen – pardon, allgemeiner – Ungeziefer befreit.
„Kein Märchen, Jolanda. Es ist wahr, ich liebe dich.“ Und er streichelte ihren Rücken, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Friedel,
der noch ein schönes Restjahr wünscht!

PS

Achja, die schwache Klammer

Jolanda schaufelte Blumenerde in die Balkonkästen. Sie trug keine Handschuhe, sie wollte die feuchte Kühle, das Leben, das der fetten schwarzen Krume innewohnte, spüren.
Ist ja nicht falsch, ließe sich auch nicht weniger elegant vermeiden der Art
Jolanda schaufelte Blumenerde in die Balkonkästen. Sie trug keine Handschuhe, sie wollte die feuchte Kühle [spüren], das Leben, das der fetten schwarzen Krume innewohnte[...].

Noch'n Nachtrag,

beim Lesen des eigenen Komms keimt die Hoffnung auf, dass Du mir kein Veilchen verpassen wollest. Unglaublich, "Jolanda" soll das "Veilchen" sein ....

 
Zuletzt bearbeitet:

Lieber @Peeperkorn,

danke fürs nochmalige Reinschauen.

Du fragst dich sicher, wie es kommen konnte, dass ich - was den folgenden Aspekt betrifft - den Text so anders gelesen habe, als du ihn angelegt hast:
Nein, ich habe mich nicht gefragt, wieso du den Text so lesen konntest. Ich wusste bereits, dass er vom Großteil der Leser so verstanden wurde. Und deine Leseart ist ja ebenfalls im Text angelegt.

Meine Erklärungen sind deshalb so ausufernd ausgefallen, weil ich dich davon überzeugen wollte, dass mich meine Absicht, mehrere Interpretationen zu ermöglichen, davon entbindet, Jolandas emotionale und psychologische Veränderungen deutlicher zu machen. Ich wollte das nicht auf mir sitzen lassen: :lol:

Was mich mehr umtreibt, ist die Frage, worin genau die Entwicklung in der Geschichte besteht, was eigentlich der Plot ist.
Aber was hat dazu geführt? Ich sehe, spüre nicht, was genau die Begegnungen mit dem Aar auslösen, welchen Prozess sie anstossen.

Weiter im Text:
Tatsächlich habe ich die Erscheinungen des Aars als vorübergehende Episode gelesen und zwar, weil du schreibst:
peregrina schrieb:
„Verlass mich nicht!“ Sie griff ins Leere.
Das ist kurz vor dem Ende. Er erscheint das letzte Mal, danach ist er weg. Ich habe das so gelesen, dass Jolanda hier gewissermassen aufwacht.

Genau das ist die kritische Stelle. Schön, dass du mir das noch mal bestätigst. Das Ende dieses Abschnitts wirkt wie ein Abschluss und Abschied für immer. Ich sehe das überdeutlich. Es gab ja dieses Schlusswort vom Aar, das ich irgendwann entfernt habe:
„Ein Teil von mir, Liebste, ein Teil von mir wird immer bei dir sein.“
Doch das war auch nur ein Verweis auf die Schwangerschaft.

Ja, aber, wirst du wohl sagen, was ist denn mit der folgenden Passage?
peregrina schrieb:
Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder.
Ich habe das "wir" als "Ich und das Baby in meinem Bauch" gelesen.
Davon gehe ich aus, für den Leser ist das „wir“ gleich Mutter und Kind. Erst wenn er die Möglichkeit in Betracht zieht, dass der Aar nicht gegangen ist, wohnt dem „wir“ noch mehr inne.

Weshalb sie den Parkplatz absucht, hat sich mir nicht erschlossen, und ich habe dummerweise auch nicht darüber nachgedacht. Typisches Beispiel, wie eine Erwartungshaltung die Rezeption beeinflusst. Wie gesagt, dieser Griff ins Leere, den du oben erwähnst, war für mich so eindeutig ein Abschluss, dass mir gar nicht in den Sinn gekommen ist, das "wir" anders zu lesen.
Kann ich absolut nachvollziehen. Wenn ich wirklich will, dass mindestens zwei Deutungen möglich sind, muss ich mir was einfallen lassen.

Vielleicht kann ich sogar mit geringen Veränderungen noch etwas retten.
Eine Möglichkeit wäre, dem Aar wieder einen Schlusssatz in den Mund zu legen, der nicht so absolut und radikal nach Abschied klingt. Jolanda könnte winken, wenn sie am Fenster steht. Die Geschichte darf aber auch nicht kippen. Denn wenn zu deutlich wird, dass Jola jemanden sieht, ist wiederum eine Art der Interpretation hinfällig.

Nun ja, es bleibt weiterhin Herausforderung, Nervenkitzel und Schwierigkeit für mich, die richtigen Informationen in ausreichender Dosis zum besten Zeitpunkt zu streuen.

Ein zusätzlicher Grund, weshalb ich das "wir" nicht als "Jolanda und Micha" gelesen habe, liegt darin, dass ja Micha durchaus hier zuhause ist, so habe ich das zumindest wahrgenommen und das ist ja wohl auch der Grund, weshalb sie in der Schweiz geblieben sind. Wäre da z.B. "Wir gehen zum Finsteraarhorn", hätte ich das wohl anders aufgenommen.
Ich denke nicht, dass du den Entwicklungsprozess, den diese Aussage durchlaufen hat, verfolgt hast.

1.)„Weißt du, wir werden zurückgehen, zurück in die Heimat.“ Für mich eindeutig ihre alte Heimat Deutschland.
Dann hat @Vulkangestein die Idee gebracht, sie könnte ja eventuell auch zu den Aaren ziehen: Fand ich super, so als zweite Option. Also:
2.)„Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“
Etwas unkonkreter und könnte das Finsteraarhorn mit einbeziehen.

peregrina schrieb:
Sie verlässt die Schweiz nicht, um Urs zu entkommen (der ist krank und im Pflegeheim) oder ihm womöglich sein Enkelkind vorzuenthalten, sondern weil sie ihrem jetzigen Umfeld die „Auferstehung“ Michas nicht erklären könnte.
Diese Lesart ist mir daher nicht im Traum eingefallen. Ich habe das aber auch nicht als ein "Entkommen" gedeutet, vielmehr als ein Abschiednehmen, als Loslösung und Neuanfang, nachdem sie den Tod Michas endlich akzeptiert hat. Lustig, nicht? Fast eine gegenteilige Lesart.
Das ist es ja, was ich anstrebte: Natürlich kann das auch als eine Art Neuanfang gesehen werden. Jeder Leser darf sich seinen eigenen Reim machen. So jedenfalls meine Pläne. Aber irgendwann darf dann ein Glöckchen im Hinterkopf klingeln und man darf sich fragen, Moment mal, könnte da nicht doch …

peregrina schrieb:
Denn Jola sieht Micha, er wartet auf dem Parkplatz auf sie.
Wenn du das denn auch im Text schreiben würdest? :D Könnte einen grossen Unterschied machen.
Guter Tipp! :thumbsup:

Danke für deine Mühe.
Ganz liebe Grüße von peregrina in die Schweiz und rutsch gut rüber!

Liebe @bernadette,

schön, dass du zu meiner Geschichte gefunden hast. Aber das ist wohl bei dem Titel kein Wunder.

gleich zu Anfang möchte ich dir mal sagen, dass mich der Titel total wuschig gemacht hat. Wie spricht man denn das Finsteraarhorn aus?
Finster-Aarhorn oder Finsteraar-Horn?
Dieses Doppel-A ist schlimm :D
Da würde ich mir an deiner Stelle keinen Kopf machen! Oder doch mal einen Schweizer aus der Region fragen. :lol:

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so reglos lag und an die Decke starrte – Zeit war ohne Bedeutung für sie –, als sie zu zittern begann.
Der Satz holpert für mich. Vielleicht auch, weil es für mich eher: bis sie zu zittern begann heißen müsste. Auch verstehe ich den Gedankenstrich + Komma nicht, das Komma könnte man meiner Ansicht nach streichen.
Sooo sattelfest bin in Grammatik auch nicht, überlasse Entscheidungen oft dem Gefühl, aber der Satz kommt für mich vollkommen logisch daher. Ohne Einschub brauchts das Komma, also mit Einschub ebenfalls.

Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so reglos lag und an die Decke starrte, als sie zu zittern begann.

Außerdem ist der Text schon durch @Friedrichard s Kontrollprogramm gelaufen. :D
Ich habe jetzt mal versucht, mich schlau zu machen: Bis drückt eine Gleichzeitigkeit zweier Handlungen aus, lese ich da. Aber die Jola in der KG liegt ja schon eine Weile und starrt und dann zittert sie erst. Ach, Mann, ganz falsch kann das bis aber auch nicht sein.


„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
Ich denke nicht, dass eine Witwe davon spricht, dass der Mann sie verlassen hat, wenn es sich um einen tödlichen Unfall handelt.
Ist so ein Punkt, an dem sich die Geister scheiden, die der Leser und meiner, meine ich. Ich erkläre immer wieder, dass man a) im Traum nicht logisch spricht und agiert und b) soll ihre Antwort auch ein Leugnen sich selber gegenüber sein, dass Micha tot ist. Eine Art unbewusster Verdrängung. Ich habe speziell diese Zeile kürzlich angepasst. In Version eins hieß es. „Mein Mann? Der ist mit seiner Maschine unterwegs.“
Der Effekt meiner Änderung ist somit verpufft. Was zu beweisen war!

Der Schaum knisterte. Sie konnte hören, wie die Bläschen zerplatzten.
redundant - das Knistern ist das Zerplatzen. Ich würde den ersten Satz streichen.
Stimmt, ist ein Doppelmoppel. Da gab‘s auch schon den Vorschlag, das Zerplatzen der Bläschen zu streichen.
Ich tendiere dann aber auch eher dazu, den zweiten zu streichen. Mal sehen.

Urs’ Hände ruhten schwer und leicht und gläsern auf der Decke.
Das scheint Absicht zu sein - hier nochmals die zwei und hintereinander. Mir gefällt das nicht, aber wenn du es zweimal so arrangierst, vermute ich, dass es Absicht ist.
Insgesamt dreimal im Text. Ja, das bewusste Arrangement mag ich so. Ich spare oft die UNDS ein, setzte einen Gedanken nahtlos an den anderen. Deshalb kann ich hier so verschwenderisch mit ihnen umgehen.

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.
Ohne die Erklärung an Peeperkorn hätte ich das mit dem Parkplatz auch nicht verstanden.
Ich kann dir sagen, irgendwann rede ich mich noch um Kopf und Kragen. Peeperkorns und deine Leseart sind ja nicht zwingend falsch. Ich sage ja nur, dass es meiner Absicht entsprach, auf jeden Fall diese zweite oder dritte Möglichkeit der Interpretation anzulegen. Im Grunde genommen ist es sowieso Unsinn, dass ich meine Intention hier haarklein aufspalte, wenn ich daran interessiert bin, dass jeder seine eigenen Schlüsse zieht.

Du servierst dem Leser nicht viel, ohne dass er nachdenken sollte, jedoch war es mir dafür mit der Sage zu konkret mit der 1:1-Übernahme vom Text. Das war mir ehrlich gesagt zu banal. Du könntest du noch viel mehr die Mystik spielen lassen, sonst wird die KG zur regionalen Sagenkunde.
Im Großen und Ganzen wurde der Sagenanteil bislang als nicht zu üppig angesehen. Auch empfanden viele Kommentatoren die Sage gut eingebettet. Was mich natürlich jetzt hart trifft, ist der Ausdruck banal. :crying:
Ich tröste mich damit, dass die 1:1 Umsetzung erlaubt ist, weil das Copyright der Sage auch bei mir liegt, und dass ich den gesamten Aufbau der KG in die Tonne klopfen müsste, wollte ich deinen Vorschlag umsetzen.

Du versuchst ihre Unzurechnungsfähigkeit von Szene zu Szene zuzuspitzen. Jedoch sehen wir bis zum Ende, dass sie funktioniert. Zwar ist sie müde und man weiß, dass sie sich in eine Traumwelt flüchten will - aber vielleicht hätte man das Abdriften besser einordnen können, wenn auf dem Weg dahin auch mal was Blödes passiert wäre, was dem Tablettenkonsum zuzuschreiben gewesen wäre, so, dass man als Leser wacher wird. Müde ist jeder mal und muss sich durch den Tag schleppen.
Na ja, sie ist nicht unzurechnungsfähig, sie funktioniert, doch sie lässt sich in die Traumwelt ziehen, weil sie dort Trost findet. Trotzdem ist das ein guter Impuls von dir. Danke!

Ich fand den ersten Durchgang nicht so einfach zu lesen, auch aufgrund der Zeiten, die du gewählt hast. Beim zweiten Mal erschloss sich alles.
Sehr gut gemacht, peregrina, bis auf die vielen Zitate der Sage.
Danke für die lobenden Worte. Ich denke aber, ganz so viel Sagenblabla ist es nun doch nicht: Bei einem Gesamtumfang von 230 Zeilen macht der Sagenanteil gerade mal 16 Zeilen aus.
Das hast du nur so extrem empfunden, weil du den Teil nicht mochtest.

Die Challenge-Vorgabe kommt auch so nebenbei daher, dass ich nach dem ersten Lesen wirklich nicht mehr wusste, wo irgendwas mit Koffer war :
Die Menschen hier haben sich an die Natur angepasst, sind schroff und kantig und kalt, denke ich und ergreife verletzt und wütend meinen Koffer. Nur Micha ist anders, ich seufze und bleibe.
Sehr dezent eingebaut, aber passt.

Gut! Ich erlaube mir trotzdem, meine Antwort an @Geschichtenwerker zu zitieren:

Geschichtenwerker schrieb:
Der Koffer kam allerdings ein wenig kurz, denke ich, aber was soll's.

Ja, das ist wirklich ein unscheinbarer Reisekoffer, der hier buchstäblich auftaucht. Da unser Challenge-Motto „Irgendwas mit Koffer“ eine gewisse Großzügigkeit signalisiert, hab ich mich trotzdem getraut. Die Trauer und der Bewältigungsversuch meiner HF sind der symbolische Koffer.
Nachtrag:
Außerdem führt Jola eine Pension und die Gäste reisen auch mit Koffer an, hehe.

Hat mir gut gefallen,
Das freut mich natürlich. Danke für das Lob! Danke für deine Meinung.

Alles Gute für dich, komm gut ins neue Jahr!

Liebe Grüße von peregrina

 

Außerdem ist der Text schon durch Friedrichard s Kontrollprogramm gelaufen.

Naja, bin weder Programm noch Papst oder auch nur unfehlbar,

liebe peregrina,

aber geht beides, als (das von den vergleichenden Funktionen eben den Unterchied ausdrückt - am deutlichsten etwa im "er ist älter als ich". Aber Gedankenstriche ersetzen an sich "," ganz gut ...

Het windje

 
Zuletzt bearbeitet:

Liebe peregrina,

vor längerer Zeit bereits gelesen und auch in mir wollte kein Wahnsinn erwachsen, sondern eher so etwas wie ein imaginärer Freund (kennt man von Kindern) - ein Trauerhelfer - was ich eigentlich total hübsch fand. Also, für mich passte da alles zusammen, weil mit dem Kind wurde der überflüssig. Ich mochte die Geschichte in meiner Lesart total gern. Wahn ist auch okay, aber Seltsam deutet für mich auch immer auf etwas Schräges hin, Wahn wäre ja real, weniger Seltsam. Also, vielleicht hat der tag mich bereits in meiner Deutung gelenkt und Recht behalten :D. Wie auch immer, ich habe die Geschichte sehr, sehr gern gelesen.

Micha, durchfuhr sie der erste klare Gedanke des frühen Morgens und die Erkenntnis kam mit einer Wucht, die sie in das Laken drückte, sodass sie glaubte, nie mehr die Kraft zum Aufstehen zu finden.
Sehr schön.

Urs versank mit dem Rollstuhl im Matsch. Er war geschrumpft und wirkte zerbrechlich. Sein Blick irrte heimatlos über die Grabsteine. Speichel rann ihm übers Kinn.
Ist sicher was persönliches, aber immer wenn eine Figur sabbernd dagestellt wird, mag ich das nicht. Ich mein, Urs ist kein Sympathieträger in der Geschichte und eine sabbernde Figur ist automatisch etwas, wo man das Näschen rümpft, insofern denke ich immer, die Autoren machen es sich damit zu leicht. Und ich glaube, er muss an dieser Stelle noch gar nicht "belastet" werden. Wenn man das erst später mitbekäme, was für ein Typ Urs war/ist, ist doch eine feine Steigerung der Figurenzeichnung. So nimmst Du das vorweg: Der sabbert, den hat Leser nicht zu mögen.


Ich öffne die Haustür und vor mir stehen zwei Polizisten in Uniform. Zu zweit überbringen sie die Nachricht, als hätte ein einzelner zu schwer an ihr zu schleppen. Aber ich muss sie aushalten.
Auch schön.

„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
Verlassen? Sagt man das so? Ich dachte erst so, äh, war er in ihrer Zeit mal weg, kam wieder, Happy End bis zu Tod.

„Micha“, flüsterte sie. „Wo kommst du her?“
„Aus den Tiefen des Steins, von dort, wo der Mond das Finsteraarhorn berührt.“
:thumbsup:


Mit jeder Kurve werde ich schwerer, während er federleicht zu schweben scheint.
Bei federleichten Tagen dachte ich schon so - na ja - wenn es so sein soll, aber zwei mal ... ist wie Camenbertkäse oder Salamiwurst. Sprich, eine Feder ist leicht, ein Camenbert ein Käse, eine Salami eine Wurst. Ich wäre sparsam mit solchen "Lieblingen".

Fotoalben, Urkunden, Fachbücher lagen noch so, wie sie sie hinterlassen hatten.
Wie Urs sie hinterlassen hat, oder? Ist doch Urs seine Truhe.

Der Wind begleitete sie, mal schob er sie an, mal stemmte er sich ihr entgegen, zerrte an den Haaren.
Auch schön.

Die geschlossenen Lider wurden zur Kinoleinwand, auf der die Bilder der federleichten Tage abliefen.
Wie gesagt ... Obwohl an dieser Stelle die Wiederholung schon Sinn macht. Nur gefiele mir ein anderes Wort besser. etwas, was die Tage für die beiden auch persönlicher macht.

Die Bewegung übertrug sich auf das Papier und es sah aus wie ein lebender Organismus, der atmete.
Schon klar was Du meinst, ist aber kein schönes Bild - lebender Organismus. Ist auch so ... nichtssagend?

Sie hatten die Gabe, menschliche Gestalt anzunehmen und ihre Bestimmung war es, den Bewohnern der Bergregion in Stunden tiefster Not beizustehen. Des Nachts besuchten sie die Menschen, schenkten ihnen wundervolle Träume und erfüllen ihnen die sehnlichsten Wünsche. Am helllichten Tage spürte man sie als das Streicheln des Windes auf der Haut.
Niemand weiß, woher sie kamen und wohin sie gegangen sind.“
Gute Sache mit den Aaren!

„Es geschah, dass sich ein noch unerfahrener Aar einer jungen, schönen Witwe annahm. Mit jeder Nacht, in der er in ihre Träume eindrang, gab er ein Stück von sich selber her, bis er sich unsterblich in sie verliebte.“
Hier hatte ich gleich die kleine Meerjungfrau vor Augen. Diese Märchenwelt funktioniert bei mir echt gut.

Jolanda seifte sich ein und tauchte unter Wasser. Später trug sie Bodylotion auf, sie wollte duften heute Nacht – für ihn. Dann öffnete sie den Lippenstift, den sie seit Wochen nicht gebraucht hatte. Er kroch aus der Hülse wie eine rosa Raupe und legte sich schimmernd auf ihre Lippen.
:)

„Der jungen Frau erschienen die Tage nach den Glücksmomenten der Nacht nur noch trostloser und ihr Herz wurde schwerer und schwerer. Sie sehnte sich danach, bei ihrem verstorbenen Mann zu sein. Der Aar konnte die Trauer der Witwe nicht länger ertragen, nahm die Gestalt des toten Ehemannes an und blieb fortan bei ihr.“
Happy End.
Ich finde das wirklich schön für Jola, dass sie sich ihren Mann herbeisehnen kann. Ich würde an diesem Traum auch festhalten wollen, ihn ein ums andere mal heraufbeschwören. Echt jetzt. Und als Selbstbefriedigungsphantsie macht er doch einen guten Job :D.

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.
Und jetzt hat sie ein Stück von ihrem Mann in real wieder, sie braucht die Ersatzfantasie nicht mehr, sie ist bereit, ihren eigenen, neuen Weg zu gehen, für mich liest sich das nach Happy End. Und okay, die federleichten Tage müssen wohl sein.

Ich mags sehr gern.
Liebe Grüße, Fliege

 

Liebe @Novak,

danke, dass du dir noch mal für die KG Zeit genommen hast und an der Auslegungs-Debatte teilnimmst:

Hallo Peregrina, ich schalte mich mal in die Diskussion zwischen dir und @Peeperkorn ein. Mir ist es nämlich genauso gegangen wie ihm. Ich las den Aar als vorübergehende Fantasie, Traumwelt, Halluzination, die ihr Trost schenkt.
Und zwar auch genau wegen diesem Satz:
„Verlass mich nicht!“ Sie griff ins Leere.
Da denkt man, er ist ab nun verschwunden. Man bemerkt durchaus, dass Traumwelt und Realität verschwimmen, aber hier hast du dem für mein Empfinden ein Ende gemacht. Die Realität kehrt zurück, der Aar verschwindet.
Natürlich. Das liest man so. Das darf man doch auch so lesen. Der Aar bringt ihr Trost, zwar nur im Traum, aber sei's drum. Mein Problem ist einfach, dass ich mehrere Lesearten haben wollte.

Kennst du diese Situation: Man ahnt, dass irgendetwas nicht passt, kann es aber nicht greifen. So ging es mir mit dieser bestimmten Stelle im Text, diesem Sprung von Traum zum Abschied von Urs. Vielleicht verlange ich zu viel von mir, vom Text.

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder.
"Wir" eindeutig Jolanda selbst und ihr ungeborenes Kind. Ich lese jetzt mit der neuen Info zwar das Absuchen des Parkplatzes anders, bisher hatte ich mich darüber gewundert, aber das Bauchstreicheln hat mir nur eine Deutung nahegelegt.
Also ich würde sie den Aar auch etwas deutlicher auf dem Parkplatz sehen lassen. Für mich hat sich das tatsächlich nicht erschlossen, dass er da ist.
Es ist, wie gesagt, auch die Nahtstelle zwischen den beiden Abschnitten verantwortlich, dass mein Ansatz nicht greift. Der Aar dürfte nicht wortlos verschwinden.
Ich weiß noch nicht, wie ich hier ein Gleichgewicht erreiche und ich muss sehr feinfühlig vorgehen, sonst kippt mir die Geschichte schneller, als ich Finsteraarhorn sagen kann. :D

Dadurch war die Geschichte eher die Geschichte eines Verlustes und des Trostes, die zwar die sehr deutliche Anlage hatte, dass die Traumwelt von Jolanda Macht ergreift. Sie mit ihrer Hilfe gehen kann, aber eben auf Kosten ihrer Realitätswahrnehmung.
Ja, das sollte die Geschichte auch sein. Allerdings nicht nur.

Kurz und gut, ich würde auf jeden Fall auch den Punkt, dass sie Micha auf dem Parkplatz sieht und er ein Teil des "Wir" ist, verstärken.
Ich befürchte wirklich, wenn Jola beispielsweise winken würde, und sich dem Leser damit der Gedanke aufdrängt, sie sieht Micha oder etwas, das sie für ihn hält, dann ist die Variante, der Aar ist Tröster und Erlöser von der Trauer, dahin.

Manchmal hilft mir, ein bisschen Zeit verstreichen zu lassen, um klarer zu sehen. Vielleicht auch dieses Mal.

Danke für die hilfreichen Anmerkungen und ein glückliches 2020

Liebe Grüße von peregrina


Lieber @Friedrichard,

du bist der gute Geist dieser KG, der Geist aus der Flasche, der dreimal erscheint. Ich brauche das Glas nicht mal zu reiben, nur an dich denken muss ich, und schon bist du zu Diensten. Dankeschön!

Du schreibst in einer Antwort an @Peeperkorn
Sie verlässt die Schweiz nicht, um Urs zu entkommen (der ist krank und im Pflegeheim) oder ihm womöglich sein Enkelkind vorzuenthalten, sondern weil sie ihrem jetzigen Umfeld die „Auferstehung“ Michas nicht erklären könnte. Denn Jola sieht Micha, er wartet auf dem Parkplatz auf sie
Mit dieser Antwort hab ich quasi eine Lawine (nicht in den Berner Alpen) losgetreten, die u.a. bei dir einen Gedankenstrom ausgelöst hat.
Und ob du’s glaubst oder nicht, als ich die Fülle und Tiefe und Art der Vernetzung deiner Ausführungen gelesen habe, hat mich eine Gänsehaut heimgesucht.

Du schaffst quasi, als wär‘s mal eben so „nebenbei“ eine moderne Form des uralten Mythos der Wiederauferstehung, dessen älteste, mir bekannte Form im alten Ägypten mit Mord und Wiederauferstehung des Osiris … zusammenhängt, den wir heute mit Madonna und Kind unterm Weihnachtsbaum feiern (nur da eben umgekehrt, die Geburt ist ja nicht nur mit dem Kindermord, sondern gleich mit der Kreuzigung und Auferstehung zu verknüpfen), die ursprünglich Isis ... hieß und den Horus gebar, der Gott Ägyptens schlechthin, bis hin zu Pharao.
Ehrlich? Das würde jetzt niemand glauben, dass mir beim Schreiben der Geschichte solche Gedanken gekommen wären. Auch nicht „nebenbei“. :D

Wie komm ich darauf?

Nicht nur über die zitierte Stelle, sondern auch über die Wahl der Namen, die m. E. zunächst zufällig erscheinen mag (Jolanda in all seinen Formen werden – zumindest in Norddeutschland – nicht nur gelegentlich Sauen genannt) dann aber schon im „Urs“ als dem latinisierten „Bären“ eine Ergänzung findet: … Wenn ich Dir jetzt verrate, dass „bern“ der Genitiv des ahd. „bern“ (Genitiv), nhd. Bären + zugleich plutalistisch) ist, weißtu, woher „Bern“ … seinen Namen hat, dessen höchster Berg eben … wie eine Haiflosse in den Himmel ragt.

Beeindruckende Zusammenfassung!
Aber auch „Micha“ ist martialisch besetzt, nicht umsonst hat Kleist den Namen des „Hans Kohlhase“ in seiner historischen Novelle mit dem Namen des Erzengels „Michael“ (= „Wer ist wie Gott“) belegt, der in Glaubensfragen den Teufel - eigentlich ein überflüssiges Konstrukt im Monotheismus – bekämpft, der natürlich heutigentags motorisiert daherkommt
Genial konstruiert, lieber Friedel. Und so viel Mühe investiert.
Doch leider sind auch die Namen der Geschichte rein zufällig, so gerne ich mir das Mäntelchen der Tiefsinnigkeit überwerfen würde.

Achja, die schwache Klammer

Jolanda schaufelte Blumenerde in die Balkonkästen. Sie trug keine Handschuhe, sie wollte die feuchte Kühle [spüren], das Leben, das der fetten schwarzen Krume innewohnte[...].

So übernehme ich das, gefällt mir.

Außerdem ist der Text schon durch Friedrichard s Kontrollprogramm gelaufen.
Naja, bin weder Programm noch Papst oder auch nur unfehlbar,

Du bist natürlich kein Programm, aber du besitzt eins, und klar, kann dir auch mal ein Lapsus unterlaufen, doch im Großen und Ganzen konnte ich mich immer auf dich verlassen. :thumbsup:

aber geht beides, als (das von den vergleichenden Funktionen eben den Unterchied ausdrückt - am deutlichsten etwa im "er ist älter als ich". Aber Gedankenstriche ersetzen an sich "," ganz gut ...
Werde ich nachlesen.
Einer meiner guten Vorsätze für dieses Jahr: Selber schlau machen, versuchen zu verstehen, was die Regeln und ihre unzähligen Ausnahmen mir sagen wollen.

Danke für dein nochmaliges Erscheinen und alles Gute für dich 2020

Liebe Grüße von peregrina

Liebe @Fliege,

danke für deinen warmherzigen und hilfreichen Kommentar.

vor längerer Zeit bereits gelesen und auch in mir wollte kein Wahnsinn erwachsen, sondern eher so etwas wie ein imaginärer Freund (kennt man von Kindern) - ein Trauerhelfer - was ich eigentlich total hübsch fand. Also, für mich passte da alles zusammen, weil mit dem Kind wurde der überflüssig. Ich mochte die Geschichte in meiner Lesart total gern.
Das hört sich doch gut an. Und es kann ja auch sein, dass es eine vermessene Idee von mir ist, da noch mehr zu wollen, als Trost und Zuwendung bei der Trauerbewältigung. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich meine Vorhaben doch noch über’n Haufen schmeiße und alles so lasse, wie es gerade geschrieben steht.

Wahn ist auch okay, aber Seltsam deutet für mich auch immer auf etwas Schräges hin, Wahn wäre ja real, weniger Seltsam. Also, vielleicht hat der tag mich bereits in meiner Deutung gelenkt und Recht behalten . Wie auch immer, ich habe die Geschichte sehr, sehr gern gelesen.
Wie auch immer, ich freu mich, wenn du mit dem Text etwas anfangen konntest.

Urs versank mit dem Rollstuhl im Matsch. Er war geschrumpft und wirkte zerbrechlich. Sein Blick irrte heimatlos über die Grabsteine. Speichel rann ihm übers Kinn.
Ist sicher was persönliches, aber immer wenn eine Figur sabbernd dagestellt wird, mag ich das nicht. Ich mein, Urs ist kein Sympathieträger in der Geschichte und eine sabbernde Figur ist automatisch etwas, wo man das Näschen rümpft, insofern denke ich immer, die Autoren machen es sich damit zu leicht. Und ich glaube, er muss an dieser Stelle noch gar nicht "belastet" werden. Wenn man das erst später mitbekäme, was für ein Typ Urs war/ist, ist doch eine feine Steigerung der Figurenzeichnung. So nimmst Du das vorweg: Der sabbert, den hat Leser nicht zu mögen.
So hab ich das noch nie gesehen. Urs geht es schlecht, er ist krank und schwach. Auf keinen Fall wollte ich ihn als Widerling darstellen. Er hat nur die Kontrolle verloren.

Ich werde mir das aber mal für die Zukunft auf den Merkzettel notieren: Unsympathikus nicht sabbern lassen!

„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
Verlassen? Sagt man das so? Ich dachte erst so, äh, war er in ihrer Zeit mal weg, kam wieder, Happy End bis zu Tod.
Also: Meine Idee war, dass im Traum nichts logisch abläuft, auch die Dialoge nicht. Fast jeder Kommentator ist an der Stelle gestolpert. Ich frage mich, ob ich wirklich so ganz anders ticke als der Rest der Welt.

In Variante eins sprach Jola: „Mein Mann ist mit seiner Maschine unterwegs.“ Eine konfuse und unwahre Aussage zu diesem Zeitpunkt. Da sie sich aber voll im Verleugnen-Modus befindet, kann ich sie nicht zugeben lassen, dass Micha nicht mehr lebt. Sie will das ja nicht wahrhaben. Und ich brauche eine Aussage von ihr, die das belegt.

Mit jeder Kurve werde ich schwerer, während er federleicht zu schweben scheint.
Bei federleichten Tagen dachte ich schon so - na ja - wenn es so sein soll, aber zwei mal ... ist wie Camenbertkäse oder Salamiwurst. Sprich, eine Feder ist leicht, ein Camenbert ein Käse, eine Salami eine Wurst. Ich wäre sparsam mit solchen "Lieblingen".
Auch @lakita warnt vor dem häufigen Gebrauch von federleicht, weil es sich durch die Wiederholung abnutzt.
Das Adjektiv soll aber auch ein bestimmtes Lebensgefühl vermitteln. Im gesamten Text dreimal federleicht, einmal Federleichtigkeit, das trau ich mich totesmutig beizubehalten.:D

Natürlich sind das nette Beispiele mit dem Camenbertkäse und der Salamiwurst, und ich hätte beinahe gesagt: Fliege hat Recht! Aber ganz treffen die Vergleiche nicht ins Schwarze. Die humpeln schon ein bisschen. :D Käse und Wurst sind die Überbegriffe. Beim zusammengesetzten Adjektiv federleicht ist ja die Feder eine Art Verstärker, und es bedeutet schlicht einen Ticken leichter als leicht. Aber ist dir längst klar.

Fotoalben, Urkunden, Fachbücher lagen noch so, wie sie sie hinterlassen hatten.
Wie Urs sie hinterlassen hat, oder? Ist doch Urs seine Truhe.
Nee, Jola und Micha haben Truhe und Inhalt auf den Dachboden geschleppt.

Die geschlossenen Lider wurden zur Kinoleinwand, auf der die Bilder der federleichten Tage abliefen.
Wie gesagt ... Obwohl an dieser Stelle die Wiederholung schon Sinn macht. Nur gefiele mir ein anderes Wort besser. etwas, was die Tage für die beiden auch persönlicher macht.
Okay! Ein Adjektiv, das auf das Leben der zwei zugeschnitten und doch allgemeingültig ist.
Ich denk mal nach, was das sein könnte. Aber du sagtest schon: Ein Liebling.

Die Bewegung übertrug sich auf das Papier und es sah aus wie ein lebender Organismus, der atmete.
Schon klar was Du meinst, ist aber kein schönes Bild - lebender Organismus. Ist auch so ... nichtssagend?
Danke! Stimmt! Ich mach mir mal Gedanken, ob ich etwas Aussagestärkeres finde.

„Es geschah, dass sich ein noch unerfahrener Aar einer jungen, schönen Witwe annahm. Mit jeder Nacht, in der er in ihre Träume eindrang, gab er ein Stück von sich selber her, bis er sich unsterblich in sie verliebte.“
Hier hatte ich gleich die kleine Meerjungfrau vor Augen. Diese Märchenwelt funktioniert bei mir echt gut.
An die Meerjungfrau hatte ich gar nicht gedacht. Schön, wenn auch diese Passagen bei dir ankommen. Vielleicht sollte ich mich umorientieren. Kinderliteratur, soll gefragt sein. Nur fehlt mir jeglicher Bezug, fällt mit gerade ein.

Ich finde das wirklich schön für Jola, dass sie sich ihren Mann herbeisehnen kann. Ich würde an diesem Traum auch festhalten wollen, ihn ein ums andere mal heraufbeschwören. Echt jetzt. Und als Selbstbefriedigungsphantsie macht er doch einen guten Job :D .
Ja, da kann sie sich wirklich nicht beklagen.

Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkpatz ab. Dann lächelte sie. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.
Und jetzt hat sie ein Stück von ihrem Mann in real wieder, sie braucht die Ersatzfantasie nicht mehr, sie ist bereit, ihren eigenen, neuen Weg zu gehen, für mich liest sich das nach Happy End. Und okay, die federleichten Tage müssen wohl sein.
Man gewöhnt sich an vieles.

Danke liebe Fliege,
das war ein schönes Schlussplädoyer.

Liebe Grüße von peregrina und auch dir ein glückliches 2020

 
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Liebe @peregrina

Gratulation zum ersten Platz. Dieser erste Platz hat mich natürlich neugierig auf die Geschichte gemacht.

Vor allem angesichts der vielen lobenden Kommentare und des ersten Preises fällt es mir nun schwer, das zu sagen, aber mich hat die Geschichte nicht gepackt. Die gute Nachricht ist aber, dass es eigentlich nichts, oder weniger mit deinem Handwerk zu tun hat, als vielmehr mit meinem persönlichen Geschmack.

Bei dem Satz: Zwischen ihren Brüsten stand Schweiß, musste ich das erste mal innehalten, da mir das Bild von stehendem Schweiß auf einer liegenden Person nicht einleuchten wollte. Als ich aber in den bereits erstellten Kommentaren einen Hinweis auf diese Problematik sah, verzichtete ich in der Folge meiner Lektüre auf m.E. sprachlich schiefe Bilder, da ich fürchtete, schon längst Bekanntes nochmals zu Protokoll zu geben.

Die Struktur deines Textes, da nicht sofort ersichtlich, ließ mich schnell fahrig werden beim Lesen. Ich konnte die kursiv geschriebenen Teile nicht gleich einordnen und das hat mich dann noch nachlässiger beim Lesen werden lassen.

Sprachliche Bilder, die meinen Geschmack nicht treffen:

Seit Tagen nichts als Regen, auch in Jolanda.

Ein Bild, das für mich abgegriffen ist und kitschige Melancholie, erzwungene Düsternis zum Ausdruck bringt.

Ein weiteres Beispiel:

Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.

Diese Dali-Referenz erinnert mich an einen Kommentar, den jimmysalaryman kürzlich hinsichtlich eines meiner Texte machte. Er nannte es lazy writing. Und hier, wenn ich ihn richtig verstehe, vermute ich ähnliches. Frage: Warum dieses Bild? Dalis Gemälde handelt von der Vergänglichkeit und dem Verfall, aber hier möchtest du doch Jolandas Gefühlszustand beschreiben. Wie ist ihr Gefühlszustand denn? Was wäre anders, wenn du einfach sagst: Jolanda zerfloss vor Schmerz. Warum muss es Salvador Dalis Gemälde sein? Meine Vermutung wäre: Weil es einfach zum Genre 'Seltsam' passt. Aber dann widerum wäre es reiner Selbstzweck und hätte mit der Geschichte nicht unbedingt etwas zu tun.

Weitere Bilder, die einfach meinem persönlichen Geschmack zuwider laufen:

Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken.

Es fällt mir schwer, es in Worte zu fassen, aber auf mich wirkt es zu gewollt träumerisch, poetisch, melancholisch, als wolltest du auf Teufel komm raus Gefühle beim Leser hervorrufen, mit dem Schluss, dass ich mich bewusst weigere. Manchmal geht mir das in Hollywoodfilmen so, wenn ich das Rührselige so offensichtlich finde, dass ich bewusst nicht mitfühle oder weine, an Stellen, wo der Regisseur es von mir erwartet.

Wie gesagt, es ist nur meine persönliche Meinung. Ein Text, den alle nur toll finden, wäre doch auch komisch, nach dem Motto: Everybody's darling is everybody's fool.

Also, trotz allem, und ich hoffe, es kommt nicht falsch rüber. ich gratuliere dir zu deinem Erfolg.

Liebe Grüße,

HL

 

Lieber @HerrLehrer,

danke für die Glückwünsche, danke für die Zeit und die Mühe, die kritischen Gedanken in freundliche Worte zu kleiden.

Gratulation zum ersten Platz. Dieser erste Platz hat mich natürlich neugierig auf die Geschichte gemacht.
Sicher hast du gesehen, wir teilen uns den ersten Platz in wunderbarer Dreieinigkeit. @lakita, @Fliege und meine Wenigkeit.

Vor allem angesichts der vielen lobenden Kommentare und des ersten Preises fällt es mir nun schwer, das zu sagen, aber mich hat die Geschichte nicht gepackt. Die gute Nachricht ist aber, dass es eigentlich nichts, oder weniger mit deinem Handwerk zu tun hat, als vielmehr mit meinem persönlichen Geschmack.
Das ist doch vollkommen legitim. Unsere Geschichten können nun mal nicht in die Waagschale gelegt oder mit dem Zollstock gemessen werden. Das Maß ist Subjektivität: Vorlieben, Vorstellungen und natürlich Vorbildung, das Wissen darum, welche Kriterien eine KG erfüllen sollte. Und es ist auch kein Geheimnis: Wir können nicht alle Leser erreichen.

Und erster Platz hört sich super an (und unter uns: das ist auch eine tolles Gefühl), aber das bedeutet ja nicht, dass nun alle Leser vor Begeisterung völlig aus dem Häuschen sind bzw. dass die KG keine Schwächen hätte. Rein rechnerisch: 49 Wortkrieger haben ihre Stimme abgegeben. Darunter waren zehn, die diese Geschichte für sich als eine von drei Favoriten gesehen haben. Nicht mehr und nicht weniger. Aber pfeif auf rein rechnerisch: Ich freue mich darüber, aus mehreren Gründen.
Und jetzt sitzt ein goldener Pokal unter meinem royalblauen Avatar. :bounce:
Komplementärfarben, besser geht’s nicht!
An dieser Stelle: Danke an alle!

Bei dem Satz: Zwischen ihren Brüsten stand Schweiß, musste ich das erste mal innehalten, da mir das Bild von stehendem Schweiß auf einer liegenden Person nicht einleuchten wollte.
Echt? Aber auf einer liegenden weiblichen Person schon? Das funktioniert wirklich. Und wenn du durch die Kommentare gescrollt bist, hast du vllt. auch das Argument von Friedel gelesen: Auf der Stirn steht der Schweiß ebenfalls. Das ist so in unseren Sprachgebrauch eingeflossen, da wundert sich niemand.

Die Struktur deines Textes, da nicht sofort ersichtlich, ließ mich schnell fahrig werden beim Lesen. Ich konnte die kursiv geschriebenen Teile nicht gleich einordnen und das hat mich dann noch nachlässiger beim Lesen werden lassen.
Ja, das kann natürlich irritieren, dieser Zeiten- und Erzählerwechsel. Aber eigentlich müsste man doch aufmerksamer lesen, wenn sich ein Sachverhalt nicht sofort erschließt. Oder man bricht ab, weil der Text einfach nur nervt. Jedenfalls stehst du nicht alleine mit deiner Meinung.

Ich wollte das aber genauso. Das Vergangene ist der HF näher als das Jetzt. Mittlerweile habe ich erkannt, dass ich damit auch einen Stolperstein kreiert habe.

Sprachliche Bilder, die meinen Geschmack nicht treffen:

Seit Tagen nichts als Regen, auch in Jolanda.

Ein Bild, das für mich abgegriffen ist und kitschige Melancholie, erzwungene Düsternis zum Ausdruck bringt.

Ist das Bild abgegriffen? Aber stimmt schon, Regen und Beisetzung wurden schon öfter kombiniert. Ich tu’s nicht mehr.

Ein weiteres Beispiel:

Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.

Diese Dali-Referenz erinnert mich an einen Kommentar, den jimmysalaryman kürzlich hinsichtlich eines meiner Texte machte. Er nannte es lazy writing. Und hier, wenn ich ihn richtig verstehe, vermute ich ähnliches.

Da müsste ich nachschauen, worum es ging. Ich kenne weder die KG noch Jimmys Kommentar. Und mit der Theorie des lazy writing werde mich mal befassen.

Frage: Warum dieses Bild?

Dalis Gemälde handelt von der Vergänglichkeit und dem Verfall, aber hier möchtest du doch Jolandas Gefühlszustand beschreiben. Wie ist ihr Gefühlszustand denn?


Das Gemälde wird „Die Beständigkeit der Erinnerung“ oder auch „Zerrinnende Zeit“ genannt. Ich denke der Interpretationsspielraum ist weit, den Künstler können wir nicht mehr fragen. Aber die Uhren stehen angeblich für Vergänglichkeit, korrekt.
Nun die Verknüpfung, die ich herstelle: Micha ist gerade gegangen (vergangen) und Jola würde ihm gerne folgen, sie will nicht mehr sein und zerfließt. Und beide haben in der Illusion gelebt, sie könnten noch Zeit miteinander verbringen. Das Fließen soll schon mal eine Brücke zum Aar (der der Aare entsteigt) schlagen, der später so wichtig in ihrem Leben wird.

Was wäre anders, wenn du einfach sagst: Jolanda zerfloss vor Schmerz. Warum muss es Salvador Dalis Gemälde sein? Meine Vermutung wäre: Weil es einfach zum Genre 'Seltsam' passt. Aber dann widerum wäre es reiner Selbstzweck und hätte mit der Geschichte nicht unbedingt etwas zu tun.
Das Bild hat sich beim Schreiben einfach aufgetan. Völlig intuitiv. Nicht erzwungen, ich hab da nicht krampfhaft nach irgendeinem Kunstwerk gesucht, das ich verbraten könnte. Ich weiß nicht, was du mit Selbstzweck meinst.

Weitere Bilder, die einfach meinem persönlichen Geschmack zuwider laufen:

Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken.

Ich liebe den Kobold, der ist so tückisch und irgendwie auch so gar nicht abgenutzt. Hoffe ich.

Es fällt mir schwer, es in Worte zu fassen, aber auf mich wirkt es zu gewollt träumerisch, poetisch, melancholisch, als wolltest du auf Teufel komm raus Gefühle beim Leser hervorrufen, mit dem Schluss, dass ich mich bewusst weigere.
Wenn ich den Kern dieser Aussage richtig verstehe, dann unterstellst du mir, dass ich den Leser manipulieren möchte. Nun, ich denke, das ist zum Teil richtig. Seit ich weiß, dass das oberste Ziel des Schreibens ist, beim Leser Emotionen zu erzeugen, strebe ich das mit meinen Texten an. In erster Linie möchte ich hier Trauer und Verlorenheit der HF transportieren und dafür nutze ich Sprachbilder. Eben weil ich Sätze umgehen möchte wie: Sie ist traurig, sie fühlt sich allein, sie hat Angst.

Irgendwo habe ich mal gelesen: Für jeden Inhalt muss die ihm gemäße Form gefunden werden. Und das habe ich in der KG probiert umzusetzen. Die sprachliche Gestaltung und das Layout passen zum Inhalt. Bei einem Krimi würde ich andere Bilder strapazieren :D oder noch besser, keine.

Manchmal geht mir das in Hollywoodfilmen so, wenn ich das Rührselige so offensichtlich finde, dass ich bewusst nicht mitfühle oder weine, an Stellen, wo der Regisseur es von mir erwartet.
Ja, ich kenne das auch, dass ich mich sperre, wenn ich erkenne, wie meine Aufmerksamkeit gelenkt wird und meine Gefühle gesteuert werden sollen.
Schlussfolgerung für mich: In Zukunft subtiler vorgehen.

Wie gesagt, es ist nur meine persönliche Meinung. Ein Text, den alle nur toll finden, wäre doch auch komisch, nach dem Motto: Everybody's darling is everybody's fool.
Den Text gibt es mit Sicherheit nicht.

Danke für deine Meining, alles Gute für 2020

und liebe Grüße zurück von peregrina

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Peregrina, ich möchte mich in meinem Kommentar zu Deiner Geschichte auf ein paar Punkte beschränken und mich auf die problematischen Aspekte konzentrieren. Du hast bereits viel Lob bekommen, so dass jetzt sicher genug Raum für kritische Reflexionen vorhanden ist. Verzeih, dass ich aus dem Grund nicht noch einmal alles betone, was in dieser Geschichte gut gelungen ist.

Ich gehe mal gleich zur Stelle, die das Hauptproblem des Textes zeigt:

Speichelbenetzte Haut, gespannte Muskeln, zuckende Leiber, die sich in die Lüfte erhoben, durch Schluchten segelten, in tiefe Bergseen eintauchten. Fließende, geschmeidige Bewegungen. Zwei Balletttänzer unter Wasser, die ein graziöses, atemloses Pas de deux tanzten. Ein Schrei stieg in den Himmel und wurde von den schneebedeckten Gipfeln zurückgeworfen.

Wenn man das so überfliegt, könnte man es auf den ersten Blick für poetisch halten. Du glaubst das ganz bestimmt, und einige Kommentatoren glauben es sicher auch. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit ist es Kitsch. Und das ist problematisch, es sei denn Du willst eine Kitsch-Autorin sein.

Und das ist eben keine subjektive Angelegenheit, vielmehr ist das Kitschige an dieser und anderen Passagen ganz offensichtlich, wenn man weiß, um welches Phänomen es sich beim Kitsch handelt.

Um zu vermeiden, Dir einen Vortrag zu halten, raffe ich das Ganze auf ein Minimum zusammen. Kitsch strebt in zwei Richtungen, wie Du bei Gelfert nachlesen kannst. Diese Richtungen sind psychologisch gesprochen Regression und Projektion. Regressiv ist einerseits der Wunsch nach einer heilen Welt (unserer Kindheit), und in Form einer Projektion wird andererseits das Bedürfnis erfüllt, Anteil an einer machtvollen Autorität zu haben, indem man sich ihr unterwirft und in sie einbettet.

Alle Kitschtypen pendeln zwischen diesen Polen von Regression und Projektion. Im Fall Deiner Geschichte ist es primär der erste Typus, nämlich der Wunsch zu einer heilen, unbeschädigten, unkomplizierten Welt zurückzukehren, der den Text inhaltlich und von der Wortwahl her zu einem Kitschprodukt macht.

Nun ist der Wunsch, dem Leiden und den Konflikten des Lebens zu entgehen, ja nicht nur zutiefst menschlich, sondern eben auch das, was uns überhaupt dazu bringt, unser Schicksal in die Hand zu nehmen. Der springende Punkt ist aber, wie wir das einerseits anpacken und im Fall der Literatur, wie das durch die konkrete Erzählung bzw. die Erzähltechnik eingeordnet und bewertet wird.

Im Fall Deiner Geschichte - und das gilt ebenso für die endlose Zahl an Kitsch-Romanen - ist es so, dass dem Leser der Sprung in die falsche Tröstung als realistische Alternative zu harten Wirklichkeit angeboten wird. Denn die Tröstung ist deshalb falsch, weil sie eben verhindert, dass wir zu den Menschen reifen, die wir sein müssen, wenn wir das Leben in seiner Tiefe verstehen und bewältigen wollen.

Damit kommen wir auch zum Unterschied zwischen Kitsch und echter Poesie. Kitsch ist häufig durchaus kunstvoll gemacht. Deshalb verwechselt man ihn manchmal mit »wirklicher Kunst«. Entscheidend ist aber, dass uns diese meist einen gewissen Widerstand entgegensetzt und sich nicht einfach zum Erfüllungsgehilfen unserer Sehnsuchtsphantasien machen lässt.

Ein weiterer Aspekt von Kitsch besteht häufig darin, sich einen Anschein von Erhabenheit zu verleihen. Das ist insbesondere im Kontext der Erotik so und in Deiner Geschichte wunderbar zu beobachten.

Indem Du Dir für den Flug Deiner Liebenden eine majestätische Bergweltkulisse ausdenkst, ein Phänomen der Hochkultur (das Ballett/ Pas De Deux) hinzutust, Adjektive wie graziös, atemlos usw. verwendest, stilisierst Du das Ganze in einer Weise, die über den Schrecken des Todes eines geliebten Menschen leicht und widerstandslos hinweg flattert.

Nun magst Du einwenden, dass Du ja gerade diese Verdrängungsstrategie Deiner Hauptfigur aufzeigen wolltest. Dazu gibt es zwei Gegenargumente.

Erstens: Wie wahrhaftig ist ein Bild, das die Trauer einer jungen Frau, die geraden ihren Geliebten verloren hat als Pas de deux über einem Gletschersee zeigt. Wirklich – will man da fragen, das ist also das Bild, das einer jungen Frau angesichts dieses Verlustes durch den Kopf geht, ein Tänzchen vor schneebedeckten Gipfeln?

Zweitens: Selbst wenn diese Frau so oberfläch und albern ist, dass ihr zum Tod ihres Geliebten nichts anderes einfällt als diese theatralische Szene, dann dürfte sich die Geschichte aber nicht so widerstandslos dahin einfügen, sondern klar artikulieren: Sag mal, hast du sie noch alle?

Wir kennen in der Pop-Kultur z.B. so viele Kriegsfilme die mit der Rechtfertigung, sie wollten den Schrecken des Krieges zeigen, einfach nur die Lust des Publikums an der Gewalt bedienen. Das ist eine Form des Kitsches.

Eine andere Form des Kitsches ist eben, das Bedürfnis nach Sex und Erotik in ein erhaben-poetisches Gewand zu kleiden, aber bei genauer Betrachtung stellt sich gerade das als furchtbar vulgär heraus.

Abschließend noch ein paar sprachliche Marker, die Dir helfen können, zu sehen, wann Du den richtigen Weg verlässt:

Er schaut mich nur an mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt. Er riecht nach Harz, Leder und Motorenöl.

Kitsch steht in enger Verbindung mit Stereotypen. Hier haben wir das Klischee des kernigen Mannes, der nach Leder und Motorenöl riecht. Kennst Du diese Werbung mit dem Sexy-Typen (freier Oberkörper), der in verölter Kleidung Autoreifen schleppt. Genau da bist Du gerade.

Jolanda sehnte sich nach Schlaf, der dem ewigen Grübeln nach dem Warum ein Ende setzte. Wünschte sich zurück in den Traum, der nur noch eine Ahnung war und ein diffuses Gefühl von Sehnsucht hinterlassen hatte.

Hier sentimentalisierst Du durch Einfühlung den Text und die zahlreichen Wiederholungen tragen immer dickere Schichten auf, so dass unter all dem Schmalz das wahre, echte Gefühl kaum noch zu erkennen ist.

Es stimmt zwar, dass es viele Intensitätsabstufungen eines Gefühls gibt. Ein bisschen traurig ist was anderes, als tiefe Verzweiflung. Aber den Weg zu gehen, Deinem Leser immer und immer und immer wieder zu sagen, wie sehr sie ihn vermisst, wie sehr sie sich sehnt, wie unendlich … das ist sicher der falsche Weg, außer Du willst den Kitsch.

Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken.

Auch das ist Kitsch. Verniedlichung, Verharmlosung und damit letztlich Trivialisierung.

Jolanda fühlte sich nach dem Ausflug unendlich ausgelaugt. Sie beschloss, sich ein Stündchen auszuruhen

Das Schwelgen in Superlativen ist Kitsch. Und auch hier wieder Verniedlichung.

Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.

Ähnlich wie beim Pas De Deux, das Sich-Bedienen bei der Hochkultur. Nicht gut. Finde Deinen eigenen Weg, Gefühle authentisch auszudrücken.

Abschlussgedanken:

Wir tendieren dazu, authentische Kunst oder authentisches Schreiben höher zu bewerten als Kitsch oder als absichtsvoll nicht-authentische Ausdrucksformen. Aber das ist durchaus zu diskutieren. Denke an David Bowie als Ziggy Stardust. Das ist ja keinesfalls authentisch. Und um noch mal auf das Ballett zurückzukommen, ein Pas De Deux würde heute wohl niemand mehr als authentischen Ausdruck von Liebe und Erotik betrachten. Trotzdem geht von diesen Kunst-Phänomenen ein besonderer Reiz aus. Vielleicht ist es so, dass man sich einfach ganz klar machen muss, wohin man mit seinem Schreiben will. Wenn diese Geschichte dafür steht, wohin Du willst, würde ich das zwar bedauern, aber letztlich gibt es so viele Gründe, weshalb wir schreiben. Wenn Du damit glücklich bist, soll es mir recht sein.

Lieber Gruß
Und das Beste für 2020
Achillus

 
Zuletzt bearbeitet:

Wie du sicher weißt, lieber @Achillus, schätze ich deine Kommentare, da sie mir stets einen Impuls geben, über bestimmte Sachverhalte nachzudenken, mit denen ich mich bislang nicht auseinandergesetzt hatte.

Ich gehe mal gleich zur Stelle, die das Hauptproblem des Textes zeigt:

Speichelbenetzte Haut, gespannte Muskeln, zuckende Leiber, die sich in die Lüfte erhoben, durch Schluchten segelten, in tiefe Bergseen eintauchten. Fließende, geschmeidige Bewegungen. Zwei Balletttänzer unter Wasser, die ein graziöses, atemloses Pas de deux tanzten. Ein Schrei stieg in den Himmel und wurde von den schneebedeckten Gipfeln zurückgeworfen.

Wenn man das so überfliegt, könnte man es auf den ersten Blick für poetisch halten. Du glaubst das ganz bestimmt, und einige Kommentatoren glauben es sicher auch. Aber das ist ein Irrtum. In Wirklichkeit ist es Kitsch. Und das ist problematisch, es sei denn Du willst eine Kitsch-Autorin sein.

Woher kannst du wissen, was ich glaube?
Und will ich eine Kitsch-Autorin sein? Die Frage hat sich für mich bisher nicht gestellt. Aber wieso verschwindet das Problem, wenn ich mich bewusst für den Weg der Kitsch-Autorin entscheiden würde? Kitsch bleibt doch Kitsch.

Und das ist eben keine subjektive Angelegenheit, vielmehr ist das Kitschige an dieser und anderen Passagen ganz offensichtlich, wenn man weiß, um welches Phänomen es sich beim Kitsch handelt.
Während ich bisher tatsächlich in dem Wahn lebte, dass man die Qualität einer Geschichte nicht eindeutig messen kann (außer Rechtschreibung/Grammatik, Konstruktion, innere Logik, Adjektivlastigkeit), sondern subjektive Faktoren wie Vorlieben, eigenes Erleben Einfluss darauf haben, ob man eine Geschichte mag oder nicht, erfahre ich nun, dass es eine klare Definition für Kitsch gibt. Klasse!

Um zu vermeiden, Dir einen Vortrag zu halten, raffe ich das Ganze auf ein Minimum zusammen. Kitsch strebt in zwei Richtungen, wie Du bei Gelfert nachlesen kannst. Diese Richtungen sind psychologisch gesprochen Regression und Projektion.
Dass Gelfert nicht in meinem Bücherschrank steht, kannst du dir sicher denken. Aber ich werde mir das Buch organisieren, sobald es wieder zu haben ist. Anscheinend eine Thematik, die die Gemüter zurzeit stark bewegt.

Die Definition von Broch ist auch interessant:
„Der Kitsch ist nicht etwa schlechte Kunst, er bildet ein eigenes, und zwar geschlossenes System, das wie ein Fremdkörper im Gesamtsystem der Kunst sitzt oder […] neben ihm sich befindet: es läßt sich — und das ist keine bloße Metapher — mit dem System des Antichrist in seinem Verhältnis zu dem des Christ vergleichen“ (Broch: Einige Bemerkungen zum Problem des Kitsches, S. 305 f.).

Regressiv ist einerseits der Wunsch nach einer heilen Welt (unserer Kindheit), und in Form einer Projektion wird andererseits das Bedürfnis erfüllt, Anteil an einer machtvollen Autorität zu haben, indem man sich ihr unterwirft und in sie einbettet.

Alle Kitschtypen pendeln zwischen diesen Polen von Regression und Projektion. Im Fall Deiner Geschichte ist es primär der erste Typus, nämlich der Wunsch zu einer heilen, unbeschädigten, unkomplizierten Welt zurückzukehren, der den Text inhaltlich und von der Wortwahl her zu einem Kitschprodukt macht.

Erlaube mir, dir zu widersprechen! Die Aussage meiner KG ist insofern noch verwerflicher, weil meine HF sich a) den verlorenen Zustand herbeiwünscht und b) sich zusätzlich einer Autorität unterwirft, in dem Falle dem Aar, und ihr Wohlbefinden von seinem Erscheinen abhängig macht.
Was allerdings gegen eine kitschige Aussage der KG sprechen würde, ist die unter anderem von mir angestrebte (noch nicht gut umgesetzte) mögliche Leseart, die HF holt sich die Sagengestalt in ihr reales Leben, erliegt somit Wahnvorstellungen. Nach meinem Dafürhalten alles andere als eine heile Welt.

Im Fall Deiner Geschichte - und das gilt ebenso für die endlose Zahl an Kitsch-Romanen - ist es so, dass dem Leser der Sprung in die falsche Tröstung als realistische Alternative zu harten Wirklichkeit angeboten wird. Denn die Tröstung ist deshalb falsch, weil sie eben verhindert, dass wir zu den Menschen reifen, die wir sein müssen, wenn wir das Leben in seiner Tiefe verstehen und bewältigen wollen.
Meine Geschichte sagt doch an keiner Stelle, dass Jolas Verhalten, sich in Träume zu flüchten und dort ihrem verstorbenen Mann zu begegnen, eine gesunde, realistische Lösung wäre, die Trauer zu überwinden. Ich bitte dich, Achillus, die HF verbeißt sich in eine Sage und der Leser soll angeblich den Schluss ziehen, dass sei die Alternative, um Schmerz auszuweichen, und damit gleichzeitig sein Bedürfnis nach Regression befriedigen.

Ein weiterer Aspekt von Kitsch besteht häufig darin, sich einen Anschein von Erhabenheit zu verleihen. Das ist insbesondere im Kontext der Erotik so und in Deiner Geschichte wunderbar zu beobachten.
Indem Du Dir für den Flug Deiner Liebenden eine majestätische Bergweltkulisse ausdenkst, ein Phänomen der Hochkultur (das Ballett/ Pas De Deux) hinzutust, Adjektive wie graziös, atemlos usw. verwendest, stilisierst Du das Ganze in einer Weise, die über den Schrecken des Todes eines geliebten Menschen leicht und widerstandslos hinweg flattert.
Erstens: Die Bergwelt hab ich nicht erdacht, um die besagte Szene zu schreiben.
Und zweitens, richtig erkannt, wende ich genau das ein: Für die HF lebt ihr Mann in diesem Moment. Sie braucht nicht zu trauern.
Nun magst Du einwenden, dass Du ja gerade diese Verdrängungsstrategie Deiner Hauptfigur aufzeigen wolltest. Dazu gibt es zwei Gegenargumente.

Erstens: Wie wahrhaftig ist ein Bild, das die Trauer einer jungen Frau, die geraden ihren Geliebten verloren hat als Pas de deux über einem Gletschersee zeigt. Wirklich – will man da fragen, das ist also das Bild, das einer jungen Frau angesichts dieses Verlustes durch den Kopf geht, ein Tänzchen vor schneebedeckten Gipfeln?

Noch mal: Das Bild ist eindeutig die Vereinigung zweier Liebender unter Wasser, zumindest in meinem Kopf.
Ich hielt diese Form des Ausdrucks für angemessen, um das zu sagen, was ich zu sagen hatte. Auch um das Märchenhafte zu unterstreichen.

Momentan kann ich mir nicht vorstellen, dass wir in dem Punkt einen gemeinsamen Nenner finden können. Aber wer weiß, wenn ich versuche, eine andere Sichtweise einzunehmen, mit etwas zeitlichem Abstand gelingen mir solche Kunststücke ab und zu.
Bei aller Liebe zu klar definierten Begriffen und deren Anwendung in der Praxis denke ich doch, dass die Einschätzung und Wertung eines Textes zum Teil auch im Auge des Betrachters liegen.

Abschließend noch ein paar sprachliche Marker, die Dir helfen können, zu sehen, wann Du den richtigen Weg verlässt:
Wer sagt uns denn, welcher der richtige ist?

Er schaut mich nur an mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt. Er riecht nach Harz, Leder und Motorenöl.
Kitsch steht in enger Verbindung mit Stereotypen. Hier haben wir das Klischee des kernigen Mannes, der nach Leder und Motorenöl riecht. Kennst Du diese Werbung mit dem Sexy-Typen (freier Oberkörper), der in verölter Kleidung Autoreifen schleppt. Genau da bist Du gerade.
Nein Achillus, da bist du gerade. Ich sehe keinen nackten Oberkörper und auch keine Autoreifen. Ich sehe einen jungen Mann, der nicht viel redet, von Beruf Tischler ist und eine Lederkluft trägt, da Motoradfahren zu seiner Leidenschaft zählt. Und ganz nebenbei: Nein, die Werbung kenne ich nicht. Diese Form von Verblödungsversuchen habe ich seit langem abgewählt.

Jolanda sehnte sich nach Schlaf, der dem ewigen Grübeln nach dem Warum ein Ende setzte. Wünschte sich zurück in den Traum, der nur noch eine Ahnung war und ein diffuses Gefühl von Sehnsucht hinterlassen hatte.

Hier sentimentalisierst Du durch Einfühlung den Text und die zahlreichen Wiederholungen tragen immer dickere Schichten auf, so dass unter all dem Schmalz das wahre, echte Gefühl kaum noch zu erkennen ist.
Wiederholungen? Ich führe in das Thema der KG ein.
Fakt eins: Sehnsucht nach Schlaf,
weil er das Grübeln beendet, damit auch die Trauer
Fakt zwei: Die Wichtigkeit des Traums kommt hinzu, sie kann sich aber nicht erinnern, trotzdem weiß sie noch, dass es angenehm war

Gut, Sehnsucht kann weg,die gibt es schon im ersten Satz.


Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken.
Auch das ist Kitsch. Verniedlichung, Verharmlosung und damit letztlich Trivialisierung.

Jolanda fühlte sich nach dem Ausflug unendlich ausgelaugt. Sie beschloss, sich ein Stündchen auszuruhen.


Das Schwelgen in Superlativen ist Kitsch. Und auch hier wieder Verniedlichung.
Wird wohl auch etwas von der Häufung abhängen, behaupte ich mal kühn. Ich weiß nicht, wie viele Superlative der Text enthält, müsste ich untersuchen, und ob ich ein Stündchen als Verniedlichung bezeichnen will, werde ich entscheiden, wenn ich das Buch gelesen habe.

Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie die Taschenuhren auf dem Gemälde von Dali.
Ähnlich wie beim Pas De Deux, das Sich-Bedienen bei der Hochkultur. Nicht gut. Finde Deinen eigenen Weg, Gefühle authentisch auszudrücken.
Okay! Das nennt man dann wohl, die Abkürzung nehmen, wenn ich es richtig sehe.

Vielleicht ist es so, dass man sich einfach ganz klar machen muss, wohin man mit seinem Schreiben will. Wenn diese Geschichte dafür steht, wohin Du willst, würde ich das zwar bedauern, aber letztlich gibt es so viele Gründe, weshalb wir schreiben. Wenn Du damit glücklich bist, soll es mir recht sein.
Bisher kann ich keinen Trend meines Schreibens in Richtung Kitsch erkennen.

Ich werde mir das Buch „Was ist Kitsch“ vornehmen und dann werde ich mir die Frage beantworten. Und hoffentlich kann ich dann nachvollziehen, warum sich kluge Menschen seit Jahrzehnten die Mühe machen, Kitsch von Kunst unterscheiden zu wollen. Und ich bin sicher, irgendwann werde ich auch die Gefährlichkeit begreifen, die dem Kitsch angeblich innewohnt.
Ein Auszug aus der Rezension:
Es zeigt sich, dass die Lust am Kitsch nicht zuletzt darauf beruht, dass selbst die Einsicht in seine Gefahren Vergnügen bereitet. Deshalb werden wir wohl auch weiterhin Dinge mögen, die wir eigentlich geschmacklos finden sollten.” (amazon.de-Rezension, (c) 2001 by Amazon, Inc. und Tochtergesellschaften)

Danke, dass du den Text gelesen hast und mir deine klugen Überlegungen dazu hinterlassen hast.

Alles Gute für dich und lieben Gruß,

peregrina

 

Hallo Peregrina, vielen Dank für Deine Antwort. Ich möchte nur kurz auf zwei Punkte eingehen.

Meine Geschichte sagt doch an keiner Stelle, dass Jolas Verhalten, sich in Träume zu flüchten und dort ihrem verstorbenen Mann zu begegnen, eine gesunde, realistische Lösung wäre, die Trauer zu überwinden. Ich bitte dich, Achillus, die HF verbeißt sich in eine Sage und der Leser soll angeblich den Schluss ziehen, dass sei die Alternative, um Schmerz auszuweichen, und damit gleichzeitig sein Bedürfnis nach Regression befriedigen.

Dass man als Autor manchmal den Überblick verliert, was die eigene Geschichte behauptet, ist ein verbreitetes Phänomen. Ich sage das erst mal ganz allgemein, nicht auf diesen speziellen Fall bezogen. Man konstruiert einen Plot, Charaktere, Szenen, Dialoge usw. stattet das Ganze mit Atmosphäre aus und hofft, dass am Ende etwas Gutes dabei herauskommt.

Problematisch ist das, weil man dabei die Kontrolle über einen wesentlichen Aspekt der Geschichte verliert: die Prämisse. Grundsätzlich kann sich der Text gegenüber den Handlungen der Hauptfigur ja affirmativ/ sympathisierend, neutral-distanziert oder aber kritisch/ abwertend verhalten. Daraus lässt sich dann die Aussage/ Haltung des Textes ableiten.

In dieser Geschichte findet keinerlei Kritik oder Distanzierung statt. Im Gegenteil. Die Art, wie sich der Text in den Charakter und dessen Eskapismus einfühlt, zeugt von Sympathie. Der Wert der theatralischen Visionen der Hauptfigur wird nirgends in Frage gestellt. Auch sieht der Leser keine negativen Konsequenzen, die sich für die Beteiligten aus der Realitätsflucht ergeben.

Wenn ein Kriegsfilm das Schlachtgemetzel so zeigt, dass sich der Zuschauer lustvoll als Täter in die Gewaltexzesse hineinträumen kann, beispielsweise weil der Film geschickt Ängste, Ressentiments, Minderwertigkeitsgefühle, Frustration in Zerstörungsphantasien überführt und die Opfer der Gewalt »de-individualisiert«, dann kann man ihm vorwerfen, ein kriegsverherrlichender Film zu sein.

Um die Visionen und Vermeidungsstrategien Deiner Figur lediglich zu zeigen, sie dem Leser aber nicht anzuempfehlen, müsste sich der Text von ihnen distanzieren. Es reicht nicht zu sagen, dass der Leser schon selbst entscheiden müsse, wie er dazu steht.

Ich werde mir das Buch „Was ist Kitsch“ vornehmen und dann werde ich mir die Frage beantworten. Und hoffentlich kann ich dann nachvollziehen, warum sich kluge Menschen seit Jahrzehnten die Mühe machen, Kitsch von Kunst unterscheiden zu wollen. Und ich bin sicher, irgendwann werde ich auch die Gefährlichkeit begreifen, die dem Kitsch angeblich innewohnt.

Erlaube mir dazu noch einmal einen kurzen Exkurs. Kitsch ist ein relativ junges Phänomen. In der Antike und dem Mittelalter gab es keinen Kitsch. Der taucht erst mit der Neuzeit auf. Gelfert bezeichnet das 19.Jahrhundert als ein einziges Meer von Kitsch, aus dem vereinzelte Kunstwerke wie Inseln herausragen. Gelfert vermutet den Hauptgrund für die Sehnsucht nach Vertikalität (also nach Regression/ abwärts und Projektion/ aufwärts) in der Kunst im Verlust von Vertikalität in der Gesellschaft. Das ist eben seit der Neuzeit der Fall, seit dem Abflachen von Hierarchien, die Menschen werden immer gleicher, Könige und Bettler wie im Mittelalter gibt es nicht mehr.

Ich habe dazu auch eine weitere Idee: In der Antike wurden Gefühle ganz anders bewertet, als wir das heute tun. Sie wurden verachtet. Das Ideal der Philosophen bestand darin, Gefühle zu überwinden, um zu einer klaren, von Affekten unverfälschten Sicht der Dinge zu gelangen. Es liegt auf der Hand, dass in dieser Kultur keine sentimentalen/ sentimentalisierenden Kunstwerke entstehen.

Damit will ich sagen, dass die Frage »Was ist Kitsch« keineswegs so subjektiv ist, wie Du vielleicht glaubst. Wenn man sich damit befasst, wird die Sache ziemlich klar. Natürlich gibt es Grenzfälle. Gelfert erwähnt einige Beispiele die zeigen, dass auch anerkannte Literaten in die Kitschfalle treten können.

Das Buch »Was ist Kitsch?« ist leider seit Ewigkeiten vergriffen. Meine Hinweise beziehen sich auf Gelferts »Was ist gute Literatur?« In diesem Buch gibt ein Kapitel über Kitsch, das sich ausschließlich auf Literatur bezieht. Das wird Dir sicher nützlich sein. Überhaupt ist das ein wunderbares Buch. Kann ich nur empfehlen.

Wünsche Dir eine schöne Woche, Peregrina!

Gruß Achillus

 

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