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Der Mond im Mann
Es war schon fast Winter. Alles was in den Süden wollte, war dorthin geflogen. Ein paar Tannenbäume säumten die Lichtung. Ihre immergrünen Nadeln waren wie ein Wunder. Ein Wunder, das Gott anscheinend nur den Nadlern geschenkt hatte. Alle anderen Bäume im Wald waren kahl, verhungert, als wären sie tot. Auf die Lichtung prahlte der Mond. In seiner ganzen Fülle und weiß wie eine Oleanderblüte, wenn sie im Mai den harten Winter überstanden hat und endlich die Sonne erblickt, warm und lächelnd, wie ein Freund, den man lange Zeit sucht und plötzlich wieder sieht.
Mitten in diesem Grün, Braun und Weiß stand ein Mann. Kaum Kleider am Leib. Nur ein Fetzen auf der frierenden, blassblauen Haut. Diesen Fetzen hatte ihm eine Frau geschenkt hatte, die Mitleid hatte. Mitleid, weil es ihr doch so gut ging und ihm so schlecht. Mitleid, weil man doch selbst alles hatte und er nichts. Schließlich heißt es nicht DIE Leben, sondern DAS Leben, das man genießen sollte. Dies entdeckte in diesem Moment wohl auch die Frau. Selten hatte sie einen so starken Kontrast gespürt. Einen Kontrast wie zwischen den zwei Nichtfarben. Grübelnd blickte sie dem Mann lange nach, wie er sich nochmals bedankend von dannen zog, bis ihr eine Träne die letzte Fassung kostete und sie gleichzeitig in die Realität zurückholte. Tatsächlich wanderte der Mann ein wenig glücklicher weiter; auf seinem leichten, unbeschwerlichen Weg rund um die Welt. Nichts schien ihn aufzuhalten auf seiner Suche nach dem Etwas, dem Etwas, das er sein ganzes Leben gesucht, aber nie gefunden hatte.
So war er auch auf die Lichtung gekommen, frierend und mit starrem Blick. Er war schon alt und gebrechlich. Sein Rücken war gekrümmt, wie ein Grashalm, der keine Kraft mehr besitzt, um gerade zu stehen und fast vom Wind umgeweht wird. Trotzdem hatte er noch die Kraft um seinen Kopf zu heben und empor zu richten.
Seine Augen blickten zum Mond, der sich vom Schwarz und Grau des Himmels abhob.
Plötzlich fing der Mann an zu schmunzeln. Er setzte sich auf das Gras, das mit einer leichten Frostschicht überzogen war; er fror jedoch kaum noch, denn der große Mond spendete dem kleinen alten Mann Wärme.
Er überlegte, warum er überhaupt hier stand. In seinem Gedächtnis, auf das er sich immer hatte verlassen können, strömten Gedanken wie in einem Bach, der sich hoch oben in den Bergen aus schmelzendem Eis bildet. Der dann etliche Kilometer fließt, sich um Biegungen windet, Wasser bei Regen aufnehmen muss sogar - manchmal mehr, als er tragen kann - um dann nach langer Zeit einem größeren Gewässer sein Wasser zu schenken.
Langsam entsann sich der Mann. Der Strom aus Gedanken in seinem Kopf schien sich zu ordnen. Und es kam dem Alten vor, als könne er für seinen Zustand gar nichts. Er hatte sein ganzes Leben hart gearbeitet, immer fleißig wie eine Biene, darum bemüht Nahrung für den Nachwuchs zu sammeln; er hatte schließlich länger gearbeitet, als er hätte müssen. Der Mann hatte immer Spaß am Leben gehabt; freute sich über jede Kleinigkeit, wie ein kleines Kind, das einen Lutscher geschenkt bekommt. Doch dann kamen sie und nahmen ihm alles weg. Sein ganzes Leben nahmen sie ihm, spielten mit ihm wie mit einem Ball, es schien, als wüssten sie nicht, was sie da taten. Nachhaltig dachten sie jedenfalls nicht!
Als der Mann mit solchen Gedanken um sich warf, schaute ihn der Mond böse an. Wie konnte man so über sein Leben denken? Hatte nicht jeder einen Sinn zum Leben geschenkt bekommen und bestand das Leben nicht daraus, diesen Sinn zu suchen?
Der Mond verschwand kurz hinter einer Wolke. Man konnte fast meinen, er wollte den Mann für solche Gedanken bestrafen. Und tatsächlich fror der alte Mann wieder. Doch schon bald kam der gelbe Ball wieder und zeigte sich in Hülle und Fülle, spendete Licht und Mut, als wolle er den Mann wieder trösten. Sofort fing es im Gehirn des Alten wieder an zu arbeiten. Über und über dankte er dem Mond für seine Vergebung, wie eine Henne, die ihre Eier behalten darf. Der Mann pries alle, die ihm geholfen hatten, zu überleben und es bis hier her zu schaffen. Außerdem gab er dem Mond Recht, schließlich hatte der Mann ja noch ein Ziel im Leben, das er erreichen konnte, nämlich das "Etwas" zu finden.
Kurzum, der Mann war wieder glücklich, dachte erneut an früher und ertappte sich dabei, wie er sich lange seiner großen Liebe zurückerinnerte. Er war damals noch jung und sie war zärtlich. Doch er hatte sich nie sie zu fragen getraut. Immer wenn sie auftauchte, verschwand er. Langsam war der Kontakt zu ihr abgebrochen. Er hatte ihr nur noch seine Träume gewidmet, die überschwemmt waren mit traurigen Gedanken. Sie waren nie klar; hatten selten ein Ende.
Letztlich kam er zu einem Entschluss: Er liebte sie immer noch. Tief im inneren weinte er, doch er wusste, dass alles seinen Sinn hatte. Doch die Frage nach dem Sinn des Leben, ließ in nicht los, wie eine Klette, die sich im Wald an die Hose hängt, in der Hoffnung sich fortpflanzen zu können. Sofort bekam er Antwort: Denn als er den Mond anschaute, bemerkte er seine unübertreffbare Pünktlichkeit, jede Nacht, 365 Tage im Jahr, schon über 150 Millionen Jahre. War und ist es nicht er, der uns vor zigtausenden Meteoriteneinschlägen bewahrt hatte. Unermüdlich dreht er seine Kreise, ohne sich zu beschweren. Ohne mal eine Pause einlegen zu wollen. Warum sollte das keinen Sinn haben? Dieser Mond also, der ständige Begleiter des Menschen, gab dem Mann jedenfalls eine Antwort.
Nach kurzer Zeit dachte der Mann auch schon an etwas ganz anderes: An die letzten Winter, denn es hatte angefangen zu schneien. Als Kind hatte er oft im Winter Schneemänner gebaut und mit ihnen gespielt als wäre es seine Geschwister, denn er hatte nie welche gehabt. Zumindest erinnerte er sich an keine.
In all dieser Zeit war der Mond schon ein ganzes Stück auf seiner Sisyphos-Strecke weiter geglitten, ohne dass es dem alten Mann aufgefallen war. Langsam rieselten die Schneeflocken vom Himmel hernieder, in der Hoffnung, den Boden bald zu erreichen und den Kindern wenigstens ein kleines Geschenk zu machen. Der Mann fing eine Flocke nach der anderen und freute sich seines Lebens. Er spielte im sich langsam wachsenden Schnee wie ein kleines Kind. Das Leben noch mal leben, das müsst man, nichts würde er genauso machen, alles anders, neue Grenzen entdecken würde er, sich neue Ziele setzen.
Bald ließ er den Stofffetzen auf den Boden gleiten und sprang unermüdlich auf dem weichen Waldboden.
Nach langer Zeit bemerkte er das Verschwinden des Mondes und wurde wieder ein wenig stiller. Er ließ sich nieder und dachte wieder ein wenig nach. Und als er so da saß, in seiner Kahlheit, taute der Schnee unter seiner Körperwärme. Die Bäume fingen an zu blühen, aus dem Boden sprießen Keimlinge und der Alte hörte den ewigen Schrei eines gerade erschossenen Vogels. Wie ein Pfeil schoss dieser Schrei in das Herz des Mannes und ließ dieses aufflammen - blutrot. In seinem Körper brannte es, aber nirgends hörte man die schrillen Sirenen der Feuerwehr. Keiner schien sich für den innerlich brennenden Leichnam zu interessieren.
Vom Mond war jetzt nur noch ein kleiner Zipfel zu sehen.
Der alte Mann, von der Schönheit ringsherum in einen Bann gerissen, blickte hoch und grinste, lachte, grölte dem großen, runden Mond entgegen. Dankte ihm und Gott für sein Leben, kniete nieder und tat etwas, dass er seit etlichen Jahren nicht mehr gemacht hatte - er betete.
Lange dauerte dies und es schien bald, als würde der Mann schlafen, doch plötzlich riss er seine Augen auf.
Sein Puls raste, wie der eines Leistungssportlers. Schnell blickte er ein letztes Mal hoch in den stahlgrauen Himmel und schmunzelte- er hatte das Etwas entdeckt...
Der Mond verschwand nun ganz, zog weiter Richtung Norden. Auf seiner ewigen Bahn umkreiste er weiter die Erde, um Platz zu schaffen für die Sonne, die den Menschen das Tageslicht und somit neue Kraft, aber auch einen Tag voll harter Arbeit schenken wird. Als treuer Freund der Sonne ging er, ohne sich zu verabschieden...
...und gleichzeitig erlosch die letzte Flamme auf der Lichtung.
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Wenn man sich einmal von dieser Welt verlassen fühlt, dann blicke man einmal bei Nacht hinauf in den Himmel und betrachte den wohl treuesten Begleiter und manchmal letzten Freund des Menschen- steckt nicht vielleicht in jedem von uns ein MOND?
Mfg Schwiminator