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Der Mond ist Amerikaner
„Der Mond ist Amerikaner“, sagte mein Freund und drehte sich weg von mir, „is’ doch logisch.“
Er sagte das mit seiner arroganten Beiläufigkeit, die mir vermitteln sollte, dass ich keine Ahnung hätte und alle Leute im Land, nein, auf der Welt!, mehr wüssten als ich. Ich traute mich fast nicht, aber ich fragte dann:
„Warum?“
Ich fragte seinen Rücken, und drehte mich danach auch um, 1:1, Gleichstand.
Wir waren auf das Dach unseres Mietshauses geklettert wie schon viele Male zuvor. Auf diesem Dach hatten wir schon Partys gefeiert und Sonnenuntergänge beobachtet, hier konnte man philosophieren oder knutschen oder übers Knutschen philosophieren, dieses Dach war geschichtsträchtig.
Heute knutschten wir nicht.
„Warum ist der Mond Amerikaner?“, fragte ich noch mal. Ich wollte es wirklich wissen. Klar hatten die Amis ihre Flagge dort oben gehisst, aber bedeutete das wirklich, dass der Mond der 51. Bundesstaat der USA war? Ich setzte mich auf und steckte mir eine Zigarette an. „Warum ist der Mond Amerikaner?“ Mir gefiel der Satz, plötzlich machte es Spaß, ihn zu sagen, so oft bis er seine Bedeutung, seinen Sinn verlor.
„Warum ist der Mond Amerikaner? Warum ist der Mond Amerikaner? Warum ist der Mond Amerikaner? Warum ist der Mond Amerikaner?“ Ich wartete, dass mein Freund ausflippte, aber er regte sich nicht, vielleicht war er eingeschlafen, so dass ich allein war mit dem Dach und meinem Satz. „Waaaaa- rruuuuu- mm“, intonierte ich, „iiiiisssstttt“, mein Kehlkopf vibrierte, es war, als spräche ich ein uraltes Gebet, das von allen Menschen auf der Welt verstanden wird, ein Gebet vor dem Turmbau zu Babel, als alle die selbe Sprache sprachen, „deeeeerrrr Mmooonnnnddd...“
„Wenn du weitermachst, knall ich dir eine“, sagte mein Freund. Ich hatte kurz vergessen, dass er da war; nun war er da und ich musste mich irgendwie verhalten, aber wie? Vielleicht sollte ich mich freuen.
„Schön, dass du wieder wach bist“, sagte ich und achtete auf seine Reaktion. Er reagierte gar nicht. Er starrte durch mich durch auf die anderen Häuser, auf die anderen Dächer.
Ich drehte mich um und folgte seinem Blick; da war nichts, rein gar nichts, was nicht sonst auch immer da war, kein Grund, dahin zu starren.
Ich hatte Geschmack daran gefunden, meinen Freund zu veräppeln.
„Wenn der Mond Amerikaner ist, gehört dann die Erdumlaufbahn den Russen? Müssen dann Raumschiffe Maut zahlen, wenn sie da durch wollen? Und was ist mit dem Mars, den teilen sich auch ein paar Nationen und die anderen gehen leer aus?“
„Du brauchst gar nicht so dumm zu gucken“, sagte mein Freund, „es werden da oben schon die ersten Grundstücke verkauft.“
Ich wusste nicht, was er wollte; ich war mir sicher, ich guckte nicht dumm. Und ich war mir sicher, er redete Unsinn, aber ich sagte nichts. Kein Mensch verkaufte Grundstücke auf dem Mond, und wenn, dann war es illegal, ein Partywitz, ein albernes Geburtstagsgeschenk.
„Mäuschen“, sagte er gedehnt, „musst doch nicht beleidigt sein.“
„Ich bin nicht beleidigt“, sagte ich. Ich war es doch. „Ich kümmere mich mal um die Salate.“
„Denkst du an den vegetarischen Salat für Nadine?“
„Seit wann interessieren dich die Essgewohnheiten anderer Leute? Und wer ist Nadine?“
„Flipp doch nicht sofort aus!“
Ich flippte nicht aus. Dass ich eine Lactose-Unverträglichkeit hatte, war ihm sechs Monate lang nicht aufgefallen.
Ich kletterte die Leiter in den Hausflur hinunter und schloss die Wohnungstür auf.
Heute war der 20. Juli 2009, der 40. Jahrestag der ersten Mondlandung. Mein Freund hatte sich in den Kopf gesetzt, eine riesige Party zu feiern, da dieser Tag auch sein 40. Geburtstag war, und ich war für die Fressalien verantwortlich. Sein Bereich war die Deko. Er hatte schon angefangen, die gesamte Wohnung, alle Möbel und technischen Geräte, sogar das Telefon, mit Alufolie einzupacken, alles sollte nach Raumschiff aussehen. Sogar die meterhohe Yukkapalme hatte er in einen silberfarbenen Spacetree verwandelt. Ich wusste nicht, wie viele Rollen Folie er schon verbraucht hatte; ich musste immer wieder los und Nachschub kaufen. Es sollte spacig aussehen, wie in einem Science-fiction-B-Movie der 60er Jahre, und es nahm langsam Form an. Da mein Freund ein Fan der Sixties war und gut verdiente, war die gesamte Wohnung mit teuren Fiberglasmöbeln und Kunststoff-Kunstgegenständen ausstaffiert, die er liebte, es sah aus wie in einem alten Bondfilm, penibel gestylt; man musste aufpassen, wo man was hinstellte. Ich kämpfte schon lange für ein eigenes Zimmer, in dem ich nachdenken und arbeiten konnte, vergebens. Alles war schwieriger, seit ich nicht mehr trank.
Ich mühte mich mit den Kartoffeln für den Kartoffelsalat ab, es gab einen großen Haufen zu schälen, während auf dem Herd Nudeln für Nudelsalat und Eier für Eiersalat köchelten, ich hatte eine Menge zu tun. Auf mich wartete noch die Zubereitung der großen Schüssel Bowle und einer zweiten, kleineren Schüssel: alkoholfrei. Ich war erstaunt, wie viele Menschen, die kein Alkoholproblem hatten, gern auf alkoholfreie Getränke umstiegen, früher war mir das nie so bewusst gewesen, ich hatte einfach nicht drauf geachtet. Also machte ich zwei Bowle-Varianten, nicht zuletzt um meinen Freund zu befriedigen, der mich immer noch verdächtigte, heimlich zu trinken; so musste immer alkoholfreies Bier neben dem normalen im Kühlschrank liegen, obwohl ich gar kein Bier mochte, damit er sich blöde Sprüche schenken konnte. Andererseits hatte er das Recht, Angst zu haben, er hatte in meiner Trinkerzeit viel mitgemacht, es ausgehalten bei mir, wo andere sich schon längst aus dem Staub gemacht hätten.
Mein Freund kam runter, gab mir einen Kuss in den Nacken, „Na, bist du fleißig“ und schnappte sich dann die Alufolie, wichtig, denn es gab noch einige Möbel einzuwickeln.
Dann erschienen die ersten Gäste.
Und es kam, wie es immer kam: die Angst. Die Angst vor Leuten, die Angst vor Menschen, allumfassend, unausweichlich, immer. Ich kannte die meisten Gäste, trotz allem erschreckten sie mich, sie kamen mir vor wie eine Herde Nilpferde, die im Fluss lauerten und sich die Zeit mit dem Aufreißen ihrer Mäuler vertrieben. Ich beruhigte mich, ich konnte mich den ganzen Abend in der Küche verstecken.
Aber ich war die Freundin des Gastgebers, ich musste mich zusammenreißen. Ich war nicht die Gastgeberin, erinnerte ich mich, dieses Unterscheidung war wichtig, unausgesprochen war es für meinen Freund wichtig, so wie er immer betonte, dass es seine Wohnung war und nicht unsere, dass es sein Fernseher war und nicht unserer. Deshalb auch kein eigenes Zimmer.
Ich sprach meinen Namen laut aus: „Ivy Kiefer.“ Es war ein komisches Gefühl. Als wäre ich jemand anderes und hätte mich gerade eben kennengelernt. Ich ging mit einer Flasche Diät-Cola ins Badezimmer. Dort nahm ich eine Handvoll Baldriandragees und schluckte sie mit einem Glas Cola herunter. „Ivy Kiefer. Ich heiße Ivy Kiefer. Ivy Kiefer muss keine Angst haben. Es kann ihr nichts passieren.“
Die Faust, die meinen Magen umschloss, lockerte sich etwas. Plötzlich klopfte es an der Tür; eher: es hämmerte an der Tür. Wer zum Teufel ...
„Ivy, bist du da drin?“ Die Stimme meines Freundes. „Ivy, was machst du da drin?“
Ich öffnete die Tür. Dort stand mein Freund, mit geöffnetem Hemdkragen, schwitzend.
„Was soll ich schon machen?“, fragte ich.
„Ich hab dich mit einer Flasche ins Bad gehen sehen, da kann man schon mal misstrauisch werden. Denn meine Kleine hier“, rief er, es hatten sich Leute um uns versammelt, die wissen wollten, was los war, „meine Kleine darf nämlich keinen Alkohol trinken, sie ist Alkoholikerin! Aber ich pass auf sie auf, nicht, Mäuschen?“ Er tätschelte meine Wange. „So, kommst du jetzt allein klar?“, fragte er und als ich nickte, ging er, ein Bierglas in der Hand, auf den verglasten Balkon zu seinen Kumpeln. Ich kochte und war doch wie gelähmt. Er schaffte es wirklich immer wieder. Ich stand da und wartete. Wartete, dass sich etwas verändern würde. Es änderte sich nichts. Ich ließ kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen und stürzte mich dann wieder ins Getümmel.
In der Küche hatten sich drei Mädels versammelt, um über irgendwelche Typen abzulästern. Mir machte das nichts, ich hatte hier meine Ruhe. Vor mir stand die Bowle, alkoholfrei. Ich schöpfte mir einen Becher und trank. Ich hatte sie gemacht, viele Früchte, viel Orangensaft, viele Vitamine, lecker, ich hatte mir Mühe gegeben, genau das richtige jetzt. Mein Freund sah nicht zu mir rüber.
„Du lässt dir ja einiges gefallen“, sagte jemand neben mir. Ich machte eine Kehrtwendung und sah Oliver, einen Freund von mir, noch aus Kindertagen, wir kannten uns dank diverser Doktorspielchen wirklich in- und auswendig.
„Oli! Ich wusste gar nicht, dass du gekommen bist!“
Wenige von meinen alten Freunden waren heute aufgeschlagen.
„Na, meine Kleine. Ich wäre sonst nicht gekommen, aber die Buschtrommeln verkündeten, dass es nicht so super läuft zwischen euch, da wollte ich tröstenden Beistand spenden.“
„Nicht super läuft! Das hört man?“, fragte ich, und leiser: „Ist es so offensichtlich?“
„Ich verstehe nicht, warum du dich so hin und her schubsen lässt.“
„Ach, er hat auch nette Seiten, ... nur zeigt er die leider immer seltener. Ich warte, ich verbringe viel Zeit mit warten. Manchmal lohnt sich das ja. Eigentlich wollten wir ja sogar ...“
Mein Freund hatte in der Zwischenzeit ein paar Bier getrunken, er wollte einen Film mit der Mondlandung vorführen und machte sich jetzt lautstark am DVD-Player zu schaffen, ein kicherndes Mädel mit langem Haar und Minikleid half ihm dabei. Ich war nicht eifersüchtig.
Ich stellte mir vor, ich würde mit einem kleinen Raumschiff auf dem Mond landen und dann ganz allein in Raum und Zeit die Einsamkeit genießen. Ich ließe mich fallen, säße im Mondstaub, der mich an den Sand der flirrenden Wüste von Las Vegas in Nevada erinnerte, ließe ihn durch meine Finger rieseln, insofern die Handschuhe des Raumanzuges dies möglich machten, und widerstände der Versuchung, meinen Helm abzunehmen und mit der lebensfeindlichen Mondatmosphäre Selbstmord zu begehen – oder auch nicht.
Es gäbe keinen zweiten Astronauten, der Bilder von mir machte und mir half, die Flagge irgendeines Staates in den verletzlichen Mondboden zu rammen, es gäbe keinen, der markige Sprüche wie „Der Adler ist gelandet“ oder „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein großer Schritt für die Menschheit“ verkündete, einfach weil es nicht stimmte, es gab immer nur kleine Schritte, Babyschritte hatte mich mein Therapeut gelehrt, alles in der Welt verändere oder entwickele sich in Babyschritten, man darf nicht den Fehler machen und ungeduldig werden, große Schritte erwarten, denn damit könnte man alles zunichte machen. Babyschritte.
Ich machte meine Babyschritte zögerlich, fast unmerklich. Manchmal ging ich rückwärts. Heute hielt ich mich fest, damit ich nicht davonflog, ich hielt mich sprichwörtlich fest an der Arbeitsplatte der offenen Küche, so dass ich alle Gäste sehen konnte und sie mich, nur nicht meine Hände, die zu gespreizten Krallen geformt waren und sich an dieser Arbeitsplatte festkrampften.
Mein kleiner Astronaut saß weiterhin dort oben, während andere Astronauten kamen und ihn in seiner Andacht störten. „Geht’s dir nicht gut?“, fragte mich Oliver. „Du siehst aus, als seiest du auf einem anderen Planeten.“
Ich wollte nicht beichten, wie Recht er damit hatte.
Ich muss hier weitermachen, dachte ich, dann wird alles gut. Ich checkte den Inhalt der Bowle-Schüsseln: Es war noch genug da. Dann stellte ich weiteres Bier kalt und legte ein paar Sektflaschen auf Eis. Außerdem platzierte ich saubere Gläser bei den Getränken. Der Käseigel und die Hawaiitoasts warteten unberührt auf der Servierplatte. Stattdessen hatten die Leute bei den Chips und Salzstangen zugegriffen.
Die Musik wurde lauter; das Gelächter der Gäste auch. Mein Freund schien irgendeinen Witz zum Besten zu geben, das machte er gerne ab einem gewissen Alkoholspiegel. Man brauchte auch einen gewissen Alkoholspiegel, um über die Witze lachen zu können, aber den hatten die Leute scheinbar.
Mein kleiner Astronaut zog mutig für seine Einsamkeit zu Felde. Andere konnten ihm nichts anhaben. Sie kämpften halbherzig, beneideten ihn nicht, weil sie nicht wussten, was Kostbares er hütete wie einen Schatz: seine Selbstbestimmung.
„Wir wollten mal heiraten“, sagte ich, „aber irgendwie haben wir das Thema vergessen.“ Es war im Mondsand verlaufen.
„Vielleicht ist es besser so“, antwortete Oliver.
„Wie geht es dir eigentlich?“, fragte ich.
„Ich habe herausgefunden, dass ich schwul bin und habe deshalb mit meiner Freundin Schluss gemacht. Das ist alles.“
Ich starrte ihn an.
„Reingefallen!“ Er lachte. „Nein, bei mir läuft’s wie immer. Viel Arbeit, wenig Zeit; große Wohnung, immer noch Single – noch irgendwelche Fragen?“
Ich lächelte.
Wir unterhielten uns eine Stunde, dann noch eine. Wir rauchten und tranken, es war angenehm, sich mal richtig ausquatschen zu können. Nebenbei stellte ich Nachschub an Getränken kalt. Essen wollte sowieso keiner. Und dann, ich weiß nicht, wie es kam: Als wir mitten im Gespräch waren, passierte es.
Aus den Augenwinkeln sah ich einen großen schwitzenden Außerirdischen durch den Salon stürmen. Mein Freund.
Dann hörte ich Krach aus dem Wohnzimmer. Geschrei und zerbrechendes Geschirr. Hoffentlich kein Rotwein, das wäre eine schöne Sauerei. Ich lief mit Oliver nachsehen.
Im Wohnzimmer rangen mein Freund und ein Kumpel von ihm vor dem Fernseher. Ein Aschenbecher und zwei Glasteller mit Eiersalat lagen zerscheppert auf dem weiß polierten Boden. Mein Freund wollte wohl beweisen, dass er die Bond-Filme aufmerksam studiert hatte, er tänzelte, täuschte an und zeigte irgend so etwas wie einen rechten Haken. Freunde gingen dazwischen. Ich wollte nicht noch mehr Dreck hier haben, und schon gar kein Blut. „Hey “, rief ich, „hallo! Schluss jetzt!“ Die Leute gingen langsam auseinander.
„Was war denn los?“, fragte ich meinen Freund. Der schnaufte und schien noch nicht ganz beruhigt.
„Bob hat mich genervt mit tollen Tipps zum Einlegen einer DVD, und außerdem hat er Nadine hier beleidigt.“ Das Mädchen mit den langen Haaren guckte unschuldig.
„Er hat Nadine beleidigt?“, fragte ich freundlich, „Na und? Was geht dich das an?“
Erst jetzt schien mein Freund zu begreifen, was offensichtlich war. Er sah Nadine an, dann mich, dann wieder Nadine. Endlich hatte es klick gemacht.
Er wollte es nicht zugeben und sah mich an. Ich schaute weg. Ich hatte keine Lust mehr, es war mir zu anstrengend. Eigentlich war ich froh, dass es so endete. Ich räumte das kaputte Geschirr mit einem Handfeger weg. Dann trank ich in einer Ecke noch ein paar Gläser alkoholfreie Bowle. Als Nadine sich auch einen Becher holen wollte, sah sie mich zu spät, um sich wieder zurückzuziehen, ohne, dass es peinlich gewirkt hätte. Ich goss ihr einen Becher ein und prostete ihr zu. Ich wünsche dir viel, viel Glück, dachte ich.
Später vor dem Einschlafen überlegte ich, welche Sachen ich zuerst in eine eigene Wohnung schaffen würde, meine Bücher oder meine CDs. Ich lag erleichtert auf dem Sofa vor dem Schlafzimmer meines Exfreunds und plante meinen Auszug.
Der Adler war nicht gelandet. Der Adler war abgehoben.