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Der Monolith
Ich öffnete die Augen. Doch um mich herum blieb es grau, dunkelgrau. Meine Augen starrten in ein diffuses Nichts. Meine Handflächen spürten Glätte und Kälte. Ich blinzelte, dann drehte ich vorsichtig den Kopf. Grau. Ich drehte ihn in die andere Richtung: grau. Meine Finger versuchten die Bettdecke zu ertasten – nichts. Wenigstens das Laken auf der Matratze, die Matratze selbst – nichts. Stattdessen nur glatte Kälte. Und Härte.
Keuchend setzte ich mich auf und sah mich um. Träumte ich? Gerade eben war ich von einer Kneipentour mit meinem Kumpel nach Hause gekommen und war im Begriff gewesen, ins Bett zu gehen. Langsam sah ich an mir herunter: Ich hatte noch meine Klamotten an und lag offensichtlich nicht in meinem Bett. Was war passiert?
In dem diffusen Grau konnte ich nichts als dieses selbst erkennen. Grau, grau, grau, links, rechts, über mir. Nur das Unter mir machte eine Ausnahme. Das war nicht grau sondern schwarz. Tastend fuhr ich mit meinen Händen über die kalte Oberfläche. Keine rauen Stellen, keine einzige Unebenheit.
Ich stand auf. Fast wäre ich wieder zusammengesackt, meine zitternden Beine wollten anders als ich. Die Kälte bohrte sich durch meine oberste Hautschicht und eroberte die Wärme der darunter liegenden Zellstrukturen. In einer hilflosen Abwehrreaktion schlug ich die Arme um mich und hielt mich fest in dem kläglichen Versuch, nicht nur meine Körperwärme zu verteidigen, sondern auch meinen Körper vor dem Auseinanderfallen zu schützen.
Wie weit? Wie weit reichte dieser kühle Stein auf dem ich stand? Warum stand ich hier überhaupt? Und wo war ich?
Vorsichtig ging ich ein paar Schritte geradeaus. Der Boden unter mir änderte sich nicht. Ich ging weiter in irgend eine Richtung, Schritt für Schritt, zögernd, vorsichtig. Dann – plötzlich nichts mehr. Mein nächster Schritt wäre der letzte gewesen. Verdammt. Wo war ich? Zitternd ließ ich mich auf die Knie sinken. Sofort drang diese Steineskälte direkt in meine Knochen. Wieder blickte ich mich um, doch außer diesem diffusen Grau gab es hier nichts, was meinen Blick festhalten konnte. Keine Wolken, kein Himmel, keine Sonne, geschweige denn einen Mond, erst recht keine Sterne, nichts. Das Einzige, was ich nun erkennen konnte, war der Rand meines – ja, was eigentlich? Meines Raumes? Meines Aufenthaltortes? Meines Gefängnisses? Meines Standortes. Ja, das war gut. Das klang beruhigend und nach Existenz.
Nun begann ich, mit meinen Handflächen nach dem Rand zu tasten, den meine Augen kaum erkennen konnten. Ein Rand, ja, mit einer scharfen Kante, sehr scharf, fast messerscharf, dann nichts mehr. Die Kante führte meine Finger in einem 45-Grad-Winkel nach unten. Ich legte mich auf den Bauch und rutschte nach vorne, zog mich vorsichtig näher an die Kante, bis ich nach unten sehen konnte. Doch dort war – ebenso wie neben mir und über mir und um mich herum – nichts.
Halt, nein, nicht ganz. Je länger ich nach unten starrte und zu verstehen versuchte, was mir meine Augen so schonungslos zeigten, konnte ich doch etwas erkennen: Weit, weit unten sah ich schroffes Felsgestein – graues schroffes Felsgestein, grauere Schatten, die die Schroffheit modulierten in einem grauen Licht. Nein, korrigierte ich mich, kein Licht. Denn Licht bedeutete Helle, Freundlichkeit, Heimeligkeit, Zivilisation. Dies hier war alles andere. Also kein Licht, aber was dann? Wie nannte man einen helleren Schatten unter vielen dunkleren?
Fassungslos rutschte ich zurück, weg von der Kante. Wo war ich? Auf einer Steinplattform, hunderte Meter hoch? Irgendwo im Nirgendwo? Dies alles konnte doch nicht wahr sein. Ich musste Hilfe holen, jemanden anrufen, der mich retten konnte und mir dies erklären sollte. Hastig setzte ich mich auf, tastete nach meinem Handy in der Hosentasche – jetzt war ich froh, nicht schon ins Bett gegangen zu sein –, zog es heraus, suchte nach Empfang, aber da war keiner. Kein einziger Balken, nur das Datum leuchtete mir gespenstisch ins Gesicht: 01.Okt.2024. Trotzdem versuchte ich, eine Nachricht zu senden, doch es kam keine Versendebestätigung. Ich starrte lange auf das Display, nur um mich nicht dem stellen zu müssen, was danach auf mich wartete. Ich starrte so lange, bis der Akku aufgab und das Licht erlosch.
Der Schock des Verlassenseins kroch meinen Körper hinauf im Wettlauf mit der Kälte, die der Stein ausdünstete. Mutlos ließ ich meinen Kopf auf die Knie sinken.
Wo war ich? Wie kam ich hierher? Und warum?
Die Kälte, die sich weiter in meinen Körper fraß wie eine makabere Vorankündigung, brachte mich dazu, wieder aufzustehen. Ich zog ein benutztes Taschentuch aus meiner Hosentasche und legte es etwa zwei Fuß weit weg von der Kante auf den Boden. Dann fing ich an, mich mit meinem Fuß an der Kante entlang zu tasten, langsam und vorsichtig, um nicht von der wartenden Leere überrascht zu werden, die mich unweigerlich hinab in das diffuse Schatten/Schatten-Verhältnis gezogen hätte.
Nach gefühlten zehn Minuten sah ich etwas vor mir am Boden auftauchen, das ich im diffusen Grau nicht gleich erkennen konnte. Mein Herz setzte aus, bevor es zwei Schläge auf einmal tat. Doch dann holte es die Enttäuschung ein: Vor mir lag mein Taschentuch. Ich war einmal rundherum gegangen, ohne Abgang, ohne Steintreppe, ohne irgendwas.
Ich sackte zusammen wie ein alter Luftballon bei seiner letzten Berührung. Doch noch wollte ich der Verzweiflung keine Chance geben. Erneut legte ich mich auf den Bauch, rutschte mit dem Kopf über die Kante und sah nach unten. Einen irrsinnigen Moment hatte ich fast Panik. Was wäre gewesen, wenn ich dort unten nun doch Menschen gesehen hätte, eine Zivilisation mit Autos, Straßen, Bäumen, Motorrädern, bellenden Hunden und Licht? Sonnenlicht? Aber ich wurde bitter enttäuscht: Der Blick wich nicht im Mindesten von dem vorherigen ab. Nur wusste ich nun, was er bedeutete: Fremde, Einsamkeit, Verlassensein. Der Kloß in meinem Hals schmeckte nach Verzweiflung und ließ kaum den Speichel durch, den ich versuchte zu schlucken. Wie war ich nur in diese Sache hineingeraten?
Nun fing ich an, langsam im Zickzack zu gehen, doch ohne Anhaltspunkt um mich herum, der mich meiner Bewegung versicherte, konnte ich mir keiner Richtung sicher sein. Ich musste mich auf meinen Instinkt verlassen. Egal wohin ich ging, ich fand immer nur die Kante, die in die Tiefe führte. Meiner Illusionen beraubt setzte ich mich und ergab mich der Kälte, schlang die Arme um meine zitternden Knie und legte den Kopf darauf.
Ich musste wohl eingeschlafen sein, denn als ich erwachte, lag ich zusammengekrümmt auf der Seite und fühlte mich so elend wie nie zuvor in meinem Leben. Elend und einsam und verzweifelt und verwirrt. Und kalt. Als ich mich aufsetzte, zog die Verzweiflung schwer an meinem frierenden Körper. Die Tatsache, dass ich geschlafen hatte trieb mir eine andere, entsetzlichere Tatsache ins Bewusstsein: Das diffuse Grau hatte sich nicht verändert! Egal welche Tages- oder Nachtzeit hier vorgeherrscht hatte, als ich gestrandet war, inzwischen hätte es getreu den Gesetzen der Natur heller oder dunkler werden müssen, wenigstens anders. Doch offensichtlich hatten diese Gesetze hier keine Gültigkeit. War ich noch auf der Erde?
Auf den Schock folgte der Irrsinn dieser Überlegung und ich musste lachen. Der Klang meines Lachens erschreckte mich und ich verstummte. Denn nun wurde mir eine weitere Tatsache bewusst, die sich außerhalb der Naturgesetze bewegte: Es herrschte absolute Totenstille. Jetzt konzentrierte ich mich auf Geräusche, die dort draußen hätten sein müssen. Wenn schon nicht die Geräusche der Zivilisation, dann doch wenigstens die Geräusche der Natur: Vogelgezwitscher, Insektenbrummen, Wassergeplätscher, Windrauschen? Die fehlenden Geräusche konnte man noch mit der Höhe meines Standortes entschuldigen, doch genau diese Rechtfertigung war die essentielle Grundlage für Wind. Dort oben, wo ich saß, musste verdammt noch mal eine kleine Luftbewegung zu spüren sein. Ich verlangte ja keinen Monsun, aber irgend eine Luftbewegung, ein poetischer zarter Hauch, irgend eine Berührung meiner Haare, meiner Haut auf den Wangen – nichts. Ich traute mich kaum zu atmen – dieses Geräusch hätte ich jetzt nicht ertragen – und lauschte um so verzweifelter, da mir die Sinnlosigkeit bewusst war.
Doch gerade als ich wieder in ein irres Lachen ausbrechen wollte, nur um mich meiner Menschlichkeit zu versichern, hörte ich tatsächlich etwas! Ein leises Brummen, zwar weit weit weg, aber eindeutig: Flugzeugmotoren? Flugzeugmotoren! Die Erleichterung machte meinen Körper ganz weich, die Tränen brannten sich heiß über meine Wangen. Kein Paralleluniversum, kein außerirdisches Sonnensystem. Zivilisation, Rettung, Klärung, Leben! Ich wollte aufstehen, jubeln, einen Freudentanz aufführen, stattdessen blieb ich sitzen und grinste still vor mich hin, schwach und erleichtert. Genüsslich lauschte ich diesem leisen Brummen, wartete, dass das Summen näher kam, dass das Rauschen lauter wurde, doch es wurde nicht lauter, egal wie lange und wie verzweifelt ich es herbeisehnte. Irgendwann musste ich mir eingestehen, dass es das Rauschen meines eigenen Blutes in den Ohren war, das ich hörte.
Diese Endgültigkeit war grausamer als alles zuvor. Ich bekam kaum noch Luft, die Ausweglosigkeit hatte sie mir geraubt. Verloren. Ich hatte meine letzte Hoffnung verloren und stattdessen Gewissheit gewonnen. Gewissheit, dass niemand mit einem Hubschrauber kommen würde und mich von diesem verdammten Standort holen würde. Gewissheit, dass ich absolut alleingelassen war, dass ich ausgeliefert war und machtlos ... da hörte ich ein neues, beunruhigendes Geräusch, das aus mir herauskam: Mein Magen fing an zu knurren ...
Nachrichten: Wie das Ministerium für Posthumane Teleportation heute verkündete, ist es erstmals gelungen, ein humanes Individuum, das vor 1133 Jahren gelebt hat, aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu teleportieren. Allerdings ist es den Forschern entgegen der Prognose nicht gelungen, diesen Vorgang umzukehren und das humane Individuum wieder an seinen ursprünglichen Standpunkt zu portieren. Die Forscher sind aber zuversichtlich, den Fehler nach nur wenigen weiteren Tests zu finden, um auch diesen Meilenstein der menschlichen Entwicklung künftig erfolgreich ausführen zu können.