Der Musikstudent
Der Musikstudent
Aufgeregt, doch ruhig und durchdacht nahm er seiner Geige die Schulterstütze ab und legte sie, nachdem er sie sorgfältig zusammengeklappt hatte in ihre Box. Die Geige legte er behutsam in den Ausschnitt des Etuis. Den Bogen, den er, während er die Violine einpackte, auf seinen Tisch gelegt hatte, nahm er von dort um ihn abzuspannen und legte ihn ebenfalls in den Geigenkasten.
Es war der Tag auf den er jetzt zwei Wochen mit vollem Elan hintrainiert hat. „Mindestens drei Stunden am Tag“, wie er sich immer selbst zugeredet hat. Es war das erste Mal, dass er das eingehalten hat, was er sich vorgenommen hatte. Vielleicht war das ein Zeichen, er wusste es nicht.
Selbstsicher nahm er den soeben gepackten Koffer mit der Violine und machte sich auf den Weg zur Bushaltestelle. Eigentlich würde er normalerweise mit dem Fahrrad in die Stadt fahren, es waren ja kaum 30 Minuten, die er dafür benötigen würde, aber es war bereits Ende Sommer und zu kalt. Seine Finger, die er gerade zwei Stunden aufgewärmt hatte, würden wieder völlig kalt werden, selbst wenn er Handschuhe getragen hätte. Außerdem wäre er ganz verschwitzt wenn er ankommen würde. Das würde nicht gerade einen guten Eindruck auf die Person machen, der er sein Können beweisen wollte. Also nahm er den Bus.
Natürlich wusste er, dass er vom heutigen Besuch bei der Professorin der Musikuniversität nichts erwarten konnte. Sie würde ihm sagen, dass es einfach zu wenig ist, was er kann und dass er zu spät damit begonnen hatte, Geige zu spielen. Trotzdem ließ er nichts unversucht. Er wollte um jeden Preis Musik studieren. Das war sein Lebenstraum. Er wollte einmal auf ein Leben zurückblicken, dass ihm Spaß gemacht hatte, ein Leben, in dem er das gemacht hatte, das er wollte. Trotzdem wusste er, der heutige Tag würde ein Rückschlag werden. Aber er konnte sich seelisch schon darauf vorbereiten, was die Dame sagen würde. Immer wieder spielte er im Kopf sie Szene durch und wie er antworten würde: „Ja, natürlich weiß ich das und mir ist klar, dass die Aufnahmekriterien an dieser Universität einfach zu hoch für mich sind.“ Darauf konnte sie natürlich vieles sagen. Und er wusste auch für jede Situation schon die richtige Antwort. So würde er ihr zum Beispiel mit: „Natürlich werde ich dranbleiben und mein Bestes geben, irgendwann vielleicht doch Musik studieren zu können, vielleicht nicht auf dieser Uni, aber es gibt auch noch andere“, sollte sie ihm entgegnen, er solle doch weitermachen mit dem Instrument, schließlich sei er trotz allem sehr talentiert.
Mittlerweile war der Bus gekommen und er fuhr Richtung Universität. Dort sollte er sich beim Sekretariat um fünfzehn Uhr einfinden.
Sein Geigenlehrer hatte ihm alle Ausgangsmöglichkeiten von diesem Vorspiel erzählt. Es gab drei: Sie könnte sagen, es passt alles, er sollte ihr noch einmal in einem halben Jahr vorspielen, wenn dann alles passt, könnte er nächsten Herbst beginnen zu studieren. Oder sie sagt, er müsse ein Jahr bei ihr Privatstunden nehmen, dann könne sie ein Studium quasi garantieren. Die Letzte, aber wahrscheinlichste Aussage, nachdem er erst knapp drei Jahre Geige spielte, die sie machen könnte, ist die, auf die er sich seelisch seit zwei Wochen psychisch vorbereitet hatte: Die totale Absage. Das wäre natürlich ein großer Rückschlag, doch er würde nicht überrascht sein. Schließlich hatte sie ihn vor zwei Wochen darauf hingewiesen, sich keine Hoffnungen zu machen, als er sie per Telefon um ein Treffen bat und die besonderen Umstände erwähnte. Schließlich kam das so gut wie nie vor, dass ein Junge, der erst drei Jahre Geige spielte, sich für ein Musikstudium bewarb.
Um vierzehn Uhr fünfundfünfzig kam er in der Uni an. Er wartete beim vereinbarten Treffpunkt noch etwa zehn Minuten. Diese zehn Minuten waren wohl die längsten seines Lebens. Noch nie zuvor war er so aufgeregt. Tausend Gedanken gingen ihm durch den Kopf, und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Endlich kam sie. „Grüßgott“, sagte er freundlich. Genauso erwiderte die Frau. Sie war nicht besonders groß und machte einen netten Eindruck. Genauso wie sie ihm beschrieben wurde. Sie stellten sich einander vor. „Bitte folgen sie mir“, forderte sie ihn auf und ging mit ihm in den ersten Stock, wo sie ein großes Zimmer betraten. „Sie können dort auspacken“, sagte sie und deutete auf einen kleinen Tisch in der Ecke des großen Zimmers. Er versuchte ruhig zu bleiben und einen kühlen Kopf zu behalten. Um von seinem hohen Grad der Aufregung herunterzukommen, dachte er sich in der Luft einen liegenden Achter und fuhr diesen mit seinen Augen nach, während er die Schulterstütze aus der Box nahm, auf der Geige anbrachte, den Bogen aus dem Halter nahm und diesen spannte.
„Und, was spielen sie mir heute vor, eine Etüde oder ein Concertino?“, lächelte sie ihn freundlich an. – „Und zwar spiele ich erstens das Preludium aus der Partita III von Johann Sebastian Bach und die Legènde op.17 von Henryk Wieniawski“, stotterte er. Mit gehobenen Augenbrauen schaute sie ihn verwundert an. „Und das nach drei Jahren? Nicht schlecht. Dann lassen sie mal hören“
Stolz, mit erhobener Brust legte er die Geige an und stimmte sein Instrument. Dann begann er mit dem Preludium. Er schloss seine Augen.
Nach etwa viereinhalb Minuten spielen öffnete er sie wieder. „Es ist vollbracht!“, dachte er bei sich. „Das ist sehr erstaunlich, was sie da innerhalb von drei Jahren gelernt haben, spielen sie mir doch bitte einmal aus der Legènde den Mittelteil vor, der mit den vielen Doppelgriffen.“, verlangte sie von ihm. Wieder legte er an und schloss seine Augen. Während er die letzten Töne des Mittelteils spielte, machte er sich darauf bereit, jede Aussage, sei sie noch so schlecht, mit Stolz und Würde zu ertragen.
„Ich bin restlos überwältigt. Wenn es stimmt, dass sie erst drei Jahre spielen, dann können sie noch heuer bei mir beginnen zu studieren!“