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Der Nachfolger

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12.07.2002
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Der Nachfolger

Claire und Karl betraten den Friedhof durch das schmiedeeiserne Tor. Die Schwüle eines Sommertages, nach einer langen Regenperiode, hing über den Gräbern. Hoffentlich würde alles vorbei sein, bis der nächste Gewitterregen niedergeht. Sie kamen als Letzte in die kleine Abdankungshalle und fanden nur noch einen Stehplatz am oberen Treppenabsatz, neben dem Eingang. Claire hatte heute besonders viel Zeit gebraucht, um sich herzurichten.

Klar, dass fast das ganze Dorf da war. Immerhin war das tödlich verunglückte Ehepaar Braun Inhaber der größten Firma am Ort gewesen. Viele der Trauergäste waren Mitarbeiter, Lieferanten, oder Kunden dieser Firma. Andere gehörten der gleichen politischen Partei an, waren auch katholisch wie die Brauns, oder sogar beides. Und diejenigen, die weder von den Brauns abhängig, noch katholisch waren, mussten zur Beerdigung kommen, weil man sonst über sie geredet hätte. Es war wichtig sich sehen zu lassen. Wie in jedem Dorf, wenn eine „wichtige Persönlichkeit" zu Grabe getragen wird. Das Ehepaar Braun hatte weder nahe Verwandte, noch eigene Kinder. Um eine Familie zu gründen, hatten sie in der Periode des Aufbaus keine Zeit gehabt. Und als der Erfolg ihres Unternehmens zum Selbstläufer wurde, wollten die beiden das Leben genießen und die knappe Zeit nicht der Kindererziehung opfern. Auch ohne Verwandtschaft war die Abdankungshalle randvoll. Das war wirklich bemerkenswert.

Ja, Claire hatte heute wirklich viel Zeit benötigt, sich besonders schön zu machen. Das dunkle, eng anliegende Kleid betonte ihre Figur und der kleine Schal war ein dezenter Farbtupfer. Der elegante Hut mit der breiten Krempe brachte ihr Gesicht besonders gut zur Geltung. Schade nur, dass die Schuhe mit den hohen Absätzen so drückten. Und das bei einem Stehplatz für die ganze Dauer der Beerdigungszeremonie! Aus Claires leicht erhöhter Position konnte sie die ganze Trauergemeinde gut überblicken und auch sie wurde von vielen gesehen. Darauf legte sie besonderen Wert.

Karl stand direkt neben ihr. Er war auffallend klein neben seiner Frau. Dabei hätte man nicht behaupten können, dass Claire groß gewachsen sei. Sein Gesicht lag im Schatten der ausladenden Krempe ihres Hutes. Ihr aufdringliches Parfum bereitete ihm Übelkeit. Der dunkle Anzug, der seit Jahren für Beerdigungen und andere Feierlichkeiten reserviert war, spannte über seinen Speckfalten. Eine unauffällige Krawatte schmückte sein schneeweißes Hemd. ‚Öffentliche Auftritte’ nannte er Veranstaltungen, die er unfreiwillig besuchen musste und die er nicht mochte. Und dann diese Nachrufe: Würde man sie auswringen wie einen Waschlappen, könnte man zuschauen, wie der gute Charakter des Verstorbenen herunter tropfte. Widerlich war das Ganze für Karl und sein Magen begann zu rebellieren.

„... und die lieben Verstorbenen waren ein Segen für ihre Mitarbeiter“, fuhr der Priester in seiner heruntergeleierten Rede fort.

Karl kannte doch den alten Braun, diese menschliche Dampfwalze! Noch höher konnte ein Mensch die Nase gar nicht tragen, ohne sich das Genick zu brechen! Zwanzig Jahre lang hatte Karl die Ausgeglichenheit einer zufriedenen Zuchtsau an den Tag gelegt, nur weil er sich Hoffnungen auf eine angemessene Beförderung gemacht hatte. All seine Energie hielt er krampfhaft zurück, um sie dann beim Einzug in die Chefetage geballt, und zum Wohl des Unternehmens, einzusetzen. Die Pläne für eine Reorganisation des ganzen Ladens hatte er fix und fertig ausgearbeitet in der Schublade seines Sachbearbeiter-Schreibtisches liegen. Die ganzen Jahre kam er sich vor wie ein Tiger im Valiumrausch. Wehe, wenn er losgelassen!

Und jetzt war der Alte einfach abgekratzt, ohne auch nur das Geringste für ihn getan zu haben. Wie gemein doch die Welt sein konnte!

Und die Schlampe von Chefin, die mit ihren manipulierten Belegen stets den Fiskus betrügen wollte. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Karl als Buchhalter diese fiesen Manöver nicht durchschauen würde? Aber dass ihr Mann in Frankfurt für eine gewisse Chantal seit Jahren eine luxuriöse Dachterrassenwohnung finanzierte, hatte sie offenbar niemals mitbekommen. Immerhin war der Braun clever genug gewesen, für jede in Frankfurt verbrachte Nacht eine Rechnung des Hilton-Hotels einzureichen. Und er musste die Niederlassung am Main sehr oft besuchen. Karl konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Da er Chantal nicht persönlich kannte, stellte er sich die Dame so vor, wie er sie am liebsten gesehen hätte: das pure Gegenteil der Chefin, die einermFriedhofspargel nicht unähnlich war.

Der Hagemann? Der saß natürlich ganz vorn, gleich neben dem Priester. Hätte die Braun den Unfall überlebt, würde er garantiert direkt an der Seite der trauernden Witwe Platz genommen haben. War ja auch nicht anders zu erwarten von diesem Schleimer. Wenn es eine Chance gab, sich vorzudrängen, war Hagemann stets der Erste, der sie nutzte. Mit Ellenbogen hatte er sich betriebsintern durchgeboxt und glaubte nun, kurz vor seinem Ziel zu sein. ‚Sollte er nur glauben’, giftete Karl in Gedanken zu ihm hinunter. Dass der Anzug des Emporkömmlings wesentlich eleganter war als sein eigener, wollte sich Karl nicht eingestehen. Aber er konnte auch nicht erkennen, dass seine Gattin dies über seinen Kopf hinweg sehr wohl - und mit Wohlwollen - bemerkt hatte.

„Hast du die blitz-blank polierten Schuhe von Hagemann gesehen?“ Sie sagte es zu ihm, ohne den Kopf zu drehen.

„Dieser Banause ist mit dem großen BMW ja auch bis zum Eingang der Aussegnungshalle gefahren! Im Gegensatz zu ihm haben wir Stil bewiesen und das Fahrverbotsschild respektiert. Gut, dafür mussten wir einige Lehmspritzer auf unseren Schuhen in Kauf nehmen, aber man kann uns nichts vorwerfen. Wir sind rechtschaffene Leute“, zischte Karl zu ihr hoch und versuchte, auf einem Bein balancierend, mit einem Papiertaschentuch seine Schuhe zu säubern. „Verzeihung, ich bin ausgerutscht“, entschuldigte er sich bei der Dame vor ihm, als er ihr aus Versehen das Knie in den Rücken rammte.

„... und wir erbitten den Segen des Herrn für unsere beiden Verstorbenen“, schloss der Priester seinen Sermon. Und dann - Karl konnte es kaum glauben - stand Hagemann auf und trat ans Rednerpult. Mit geübter Hand bog er den Hals des Mikrophons auf die richtige Höhe, strich eine Fussel von seinem schwarzen Anzug, sah siegessicher in die Runde der Zuhörer und hub an: „Liebe Trauergemeinde. Im Namen der Belegschaft unseres Betriebes ...“

Hatte Karl richtig gehört? Dieser Schnösel bildete sich ein, im Namen der ganzen Belegschaft zu sprechen! Für Karl sprach er nicht! Aber gut, er war früher da und konnte sich seinen Platz in der Nähe des Rednerpults aussuchen. Zu dumm, dass Claire zu spät fertig wurde mit ihrer Toilette!

Karl hätte ganz anders zu „seiner“ Belegschaft gesprochen! Keine Sentimentalitäten und Plattitüden, sondern handfeste Aussichten auf eine bessere Zukunft für alle im Betrieb. Zwar hatte er für diese Gelegenheit keine Rede in der Schublade liegen; der Tod der Brauns war ja nicht voraussehbar. Aber er war sich sicher, dass er das besser gemacht hätte, als Hagemann. Er streckte den Rücken durch und kam dabei fast auf Augenhöhe mit seiner Gattin. Nur eine Handbreit fehlte noch.

„Komm, wir gehen schon mal vor, dann sind wir als Erste am Grab.“ Claire zog Karl energisch fort, lange vor dem letzten Amen in der Aussegnungshalle.

Als die Grabprozession dann an der offenen Grube ankam, konnten Claire und Karl ganz unauffällig den vordersten Platz ergattern.

Der Priester warf die ersten drei Schaufeln Erde auf die beiden Särge. „Dust to Dust ...“, er hatte mitbekommen, dass auch Vertreter der amerikanischen Niederlassung an dem Begräbnis teilnahmen. Dann reichte er den kleinen Spaten an Karl weiter. Dieser stieß ihn tief in den Erdhaufen und schleuderte eine gehäufte Ladung in das offene Grab. Er achtete darauf, dass der nasse Dreck dort auf die Särge platschte, wo die Gesichter seiner früheren Chefs unter den Sargdeckeln lagen. Diese kleine persönliche Rache tat ihm wohl. Und jetzt war er gekommen: der letzte Moment für Karl, sich als potenzieller Nachfolger seines Chefs zu präsentieren, und sich an seine Kollegen zu wenden.

Die Schaufel noch in der Hand warf er sich ins Kreuz ... aber dann versagte ihm die Stimme. Statt der schwungvollen Rede, die er sich auf dem Weg zum Grab zurecht gelegt hatte, warf er schweigend noch eine Ladung Erde ins Grab und reichte den Spaten an Claire weiter.

„Pfeife!“, raunte Claire ihrem Mann zu und verabschiedete sich dann mit leuchtenden Augen von Hagemann.

Claire saß schon im Auto, als Karl sich nochmals auf dem Parkplatz umschaute und dabei eine hübsche Blondine sah, die gerade in ihr Auto einstieg. Das Frankfurter Kennzeichen des Porsches hatte sich Karl gemerkt.

Das erste, was er am folgenden Arbeitstag machte, war eine Reise nach Frankfurt zu organisieren. Er wollte Chantal die gute Nachricht persönlich überbringen, dass die Finanzierung
Ihrer Wohnung weiterhin gesichert sei.

 

Hallo Ernst Clemens,

mir gefällt der Plot deiner Geschichte; zwei Besucher eines Trauergottesdienstes, die sich über die anderen Leute aufregen, selber aber nicht besser sind.

Ein paar Anmerkungen:

Hoffentlich würde alles vorbei sein, bis der nächste Gewitterregen niedergeht.
Bin mir nicht sicher, aber Zeitenfehler? Hätte 'niederging' genommen.

Das war wirklich bemerkenswert.
Überflüssig, du hast vorher ausführlich berichtet, dass es da voll war.

Ja, Claire hatte heute wirklich viel Zeit benötigt, sich besonders schön zu machen.
Finde ich einen plumpen Übergang zu der Beschreibung der Frau, weil du es vorher schon angerissen hattest.

Dabei hätte man nicht behaupten können, dass Claire groß gewachsen sei.
Bin mir wieder nicht sicher, hätte aber 'wäre' statt sei genommen.

Sein Gesicht lag im dunklen Schatten der ausladenden Krempe ihres Hutes.
Dunklen kann weg. Schatten sind immer dunkel.

fuhr der Priester in seiner herunter geleierten Rede fort.
heruntergeleierten (?, hätte ich zumindest gemacht)

Friedhofspargel
Soll heißen?

‚Sollte er nur glauben’, giftete Karl in Gedanken zu ihm hinunter.
Schätze, das soll sozusagen direktes Denken sein. Dann: 'Soll' statt sollte.

Viele Grüße,
Maeuser

 

hallo maeuser,

danke für's lesen und für deine hinweise.

einige habe ich sofort übernommen - danke.

"friedhofspargel" = eine extrem dünne frau (noch dünner als "schlank")

herzliche grüße
ernst

 
Zuletzt bearbeitet:

Und dann diese Nachrufe: Würde man sie auswringen wie einen Waschlappen, könnte man zuschauen, wie der gute Charakter des Verstorbenen herunter tropfte.

Hallo Ernst Clemens,

diese kleine Studie über Erwartungen & Vorstellungswelt von potenziellen Aufsteigern ist in der gewohnt nüchternen Sprache angefertigt. Selbst wenn man zu Beginn die Vielzahl der Adjektive als einer KG ungehörig ansieht ("typischer Fehler von Anfängern", behauptet der erste Eindruck, "gepfiffen!, weil notwendig", ruft schon der zwote), die Geschichte widerlegt den ersten Eindruck und sie kommen nur in der beschreibenden "Rahmenerzählung" zu einer Beerdigung vor. Überwiegend ist die Geschichte aber die eines inneren Monologs (Karls), der schon mal von Claire und der Trauergemeinde gestört wird. Da spekuliert einer auf den Chefsessel incl. mutmaßliches Liebschaft zu Ffm., die beide soeben verwaist sind.

Da es überwiegend innerer Monolog ist, bei dem ich unterstelle, dass er in Umgangssprache erfolgt, gibt's auch nix zu den würde-Konstruktionen - mit einer Ausnahme: der ersten nämlich, bei der mein Vorredner ein unbestimmtes Gefühl hatte:

Hoffentlich würde alles vorbei sein, bis der nächste Gewitterregen niedergeht.
Hier "würde" m. E. ein einfaches Futur statt des Konjunktivs reichen und zwar - ohne dass der Duden maulen wird - als Gegenwart: der Nebensatz kennzeichnet die Konstruktion als futuristisch und wer wollte bezweifeln, dass
"Hoffentlich ist alles vorbei, bis der nächste Gewitterregen niedergeht"
nicht alles aussagte, was es auszusagen gibt?

Kleinigkeiten:

... und fanden nur noch einen Stehplatz am oberen Treppenabsatz, neben dem Eingang.
An sich ist das Komma entbehrlich. Ich unterstell einfach, dass Du den Standort besonders hervorheben willst.

Hingegen ist im folgenden Satz schon allein durch die Konjunktion das Komma zu viel:

..., waren auch katholisch wie die Brauns, oder sogar beides.

Dann noch ein kleiner Hinweis zur Wortwahl:
...; der Tod der Brauns war ja nicht voraus planbar,
klingt ein wenig nach Vorsatz. Vorhersehen wäre m. E. ein angemesseneres Verb.

Letztlich Flüchtigkeit:

..., lange vor dem letzte Amen in der Aussegnungshalle.
//
„Pfeife!“KOMMA raunte Claire

Gruß

Friedel

 

hallo friedel,

diese kleine Studie über Erwartungen & Vorstellungswelt von potenziellen Aufsteigern ist in der gewohnt nüchternen Sprache angefertigt.
- darf ich daraus schließen, dass man meine texte schon vom stil her als "meine" erkennt? das würde mich freuen....

ich wollte zeigen, welche phantasien ein "kleiner buchhalter" hat, der zudem unter dem pantoffel seiner frau steht. basierend auf einiger "bauernschläue" holt er sich aber doch das eine, oder andere vergnügen.

danke dir für deine hinweise auch zur grammatik. ich werde korrigieren!

herzliche grüße
ernst

 

darf ich daraus schließen, dass man meine texte schon vom stil her als "meine" erkennt? das würde mich freuen....

Lieber Ernst,

darfstu & soll so sein. Müsste man natürlich in einer Versuchsreihe anonymisierter Texte herauszufinden versuchen. Bin überzeugt, dass selten danebengetippt wird.

Gruß

Friedel

 

Salü Ernst,

ziemlich fiese Abdankungsgeschichte. Aber so ist es wohl unter Kollegen, die auf der Leiter nach oben stehen oder unten warten. Da bleibt dem kleinen Mann nur die Schaufel voll Dreck …

Hier noch ein wenig Textarbeit, damit du in der Übung bleibst:

Die Schwüle eines Sommertages, nach einer langen Regenperiode, hing über den Gräbern. Hoffentlich würde alles vorbei sein, bis der nächste Gewitterregen niedergeht.
Das ist kein schöner Satz. Würde ich umstellen:
Nach einer langen Regenperiode hing die Schwüle eines Sommertages über den Gräbern. Hoffentlich würde alles vorbei sein, bis der nächste Gewitterregen niederging.
Sie kamen als allerletztes in die kleine Abdankungshalle und fanden nur noch einen Stehplatz am oberen Treppenabsatz, neben dem Eingang.
Sie kamen als Letzte (die Letzten, nicht das Letzte und es braucht kein aller)
Claire hatte heute besonders viel Zeit gebraucht, um sich herzurichten.
Der 3. Absatz beginnt ähnlich:
Ja, Claire hatte heute wirklich viel Zeit benötigt, sich besonders schön zu machen.
der Chefin, die einermFriedhofspargel nicht unähnlich war.
r raus und Leerschlag rein
‚Sollte er nur glauben’, giftete Karl in Gedanken zu ihm hinunter.
‚Soll er nur …
„Hast Du die blitz-blank polierten Schuhe von Hagemann gesehen?“
du klein
„Diese Banause ist mit dem großen BMW
„Dieser Banause …
Mit geübter Hand bog er den Hals des Mikrophons auf die richtige Höhe, strich eine Fusel von seinem schwarzen Anzug
Was macht denn der Fusel da? :lol: Du meinst einen Fussel, oder?

Lieben Gruss,
Gisanne

 

hallo gisanne,

danke dir für deine hinweise - wenn du in st.gallen wohnst, wirst du ja die unsitte von schweizern kennen, wenn sie hochdeutsch schreiben!

in den meisten punkten hast du recht und ich habe sie übernommen.

lediglich bei der doppelung bei:

Zitat:
Claire hatte heute besonders viel Zeit gebraucht, um sich herzurichten.

Der 3. Absatz beginnt ähnlich:

Zitat:
Ja, Claire hatte heute wirklich viel Zeit benötigt, sich besonders schön zu machen.

möchte ich bleiben. es war mir wichtig, doppelt darauf hinzuweisen.

herzliche grüße
ernst

 

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