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Der Nachtwandler
Gelobt sei uns die ew'ge Nacht,
Gelobt der ew'ge Schlummer.
Wohl hat der Tag uns warm gemacht,
Und welk der lange Kummer.
Die Lust der Fremde ging uns aus,
Zum Vater wollen wir nach Haus.
[2. Strophe "Sehnsucht nach dem Tode" aus "Hymen an die Nacht (Athenaeuumsfassung 1800)" von Novalis (Friedrich von Hardenberg)]
Das helle Mondlicht schwappt gelegentlich durch das halb verdeckte Fenster hinein. In dem riesigen Raum ist es das einzig wahrnehmbare Licht. Der Schein des verstaubten Kerzenleuchters wird gänzlich von der knurrenden Dunkelheit in den Zimmerecken verschluckt. Das Geäst der hohen Bäume malt bedrohliche Schatten auf den matten Fußboden, und hier und da springen Steinsäulen aus ihm hervor, die jedoch mit Gerümpel versperrt sind. Aus einer der Ecken hallt das Knistern von Papier wider.
Samir sitzt dunkel an einem Schreibtisch, vertieft in seinen Büchern. In der Stille lauscht er seinem Atem. Er findet keine Zeit und keinen Sinn darin, das Arbeitszimmer zu renovieren. Vom geliebten Vater erbte er es, zusammen mit den restlichen Räumen der Villa. In der Stadt hielt ihn nichts mehr, als die Leute begannen, überall künstliches Licht zu erzeugen. Sie fürchteten sich vor der Nacht und ihren Gefahren, und suchten Schutz in der Helligkeit. Samir lachte über sie. Aber sie machten die Nacht zum Tag, und so konnte er nicht mehr die Sterne erkennen. Er zog also aufgrund der unbegreiflichen Lichtverschmutzung in dieses Haus. Hier befindet er sich mitten auf einer Lichtung eines menschenleeren Waldes, und hat ungestört freie Sicht auf seine Sterne. Mit wertvollen Teleskopen versucht er, die Distanz zu ihnen zu überbrücken. Er bewundert ihre Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehen auf der Erde. Sie enttäuschen ihn nicht, wie es die Mitmenschen taten, sondern folgen bereitwillig seinen Berechnungen. Um sie zu studieren, schläft er des Nachts nie, und ruht am Tage. In wachen Träumen kommt er ihren Bildern zum Greifen nahe, und sieht sich mit Vergnügen als glitzernder Punkt unter ihnen.
Augenblicklich beschäftigt ihn die Berechnung der exzentrischen Laufbahn eines Kometen. Dieser bewegt sich in nahezu einzigartiger Weise. Unbeugsam fällt er oftmals in schwachen Staubwolken und Gesteinsfelder ein, und verwüstet sie völlig. Er würde ihn schon wieder zur Vernunft bringen, wenn er ihm nur etwas folgen könnte. Doch er kommt nicht voran. Sein Kopf hält sich nur noch mühsam in den aufgestützten Händen aufrecht. Entmutigt preßt er die Lippen zusammen, schlägt, begleitet von einem tiefen Seufzer, seine Aufzeichnungen zu, und gleitet langsam in den ergrauten Lodenmantel. Er haßt solche Reinfälle, und aus diesem Grund entschließt er sich zu einem Spaziergang.
Samir schreitet grimmig die steinerne Treppe hinab.
Aus der Nische am Treppenaufgang schlägt die trügerische Standuhr acht Mal. Der stumpfe Laut zerreißt die Stille. Ihr einförmiger Takt wird von den schweren Stiefelklängen begleitet. Tatsächlich aber ist es Mitternacht. Er liest die Zeit an den Schattierungen der Dunkelheit. Auf halbem Wege begegnet ihm ein klapperndes Fenster. Der Mond lacht ihm sichelförmig ins Gesicht, als er vorbeigeht; und er bliebe gern stehen, um sich länger in seinem Lächeln zu sonnen. Er wendet sich ab, und vergräbt aufgewühlt das Kinn im Kragen. Die Sorgen zwängen ihm die Augenbrauen zusammen, und verjagen die fahle Röte aus dem finsteren Gesicht. Für einen langen Augenblick scheint es, als trage er den Mondschein mit sich davon. In der Eingangshalle verschnauft er kurzerhand, und geht gemächlich zur geflügelten Außentür.
Samir öffnet sie, und erstarrt vor Verzückung über die Herrlichkeit dahinter. Dann tritt er in die sternklare Nacht ein. Über ihm spannt sich ihr gewaltiges Himmelszelt, ein schwarz schimmerndes Geflecht aus Sternen. In einem Märchen las er begeistert vom Nachtreich. Der Mond thront als König. An seiner Seite tanzen jauchzend die Töchter Asteroide und Kometia, und um den Thron funkeln die Sterne als seine Untertanen. Nur die kleine Fabel blickt traurig hinaus auf den Schloßhof, auf der Suche nach neuen Abenteuern. Manchmal entwischt ihr eine Träne, die wie ein Tropfen Öl im Feuer lodernd durch den Nachthimmel zieht.
Samir läuft auf zerfurchtem Waldboden durch die alte, tiefe Mitternacht. Das feuchte Herbstlaub gibt unter den Füßen sacht nach, und lässt ihn leichten Schrittes dem Trübsal daheim entkommen. Die Blätter sind bloß stumme Zeugen der gesamten Sternenpracht darüber. Obwohl der Wind schweigt, friert Samir sehr. Die Kälte entspringt dem Mond, der einsam und kühl hinunterblickt. Auf ihn. Seine Heimkehr erwartend. In der vollkommenen Nacht findet Samir sich zwischen Vergangenem und Zukünftigem. Dieses beruhigende Gefühl hält ihn noch auf Erden. Der hellichte Tag ist ihm zu dumpf, denn er versieht alles Vergängliche und Unbedeutende mit Licht, und es fällt schwer das Starke von dem Schwachem, das Bedeutende – seine Sterne – von der profanen Sinnesfülle zu unterscheiden. Der Tag ist ihm allzu plump und gefährlich, denn man denkt und handelt nach dem Augenscheinlichem, ohne den tieferen Sinn zu hinterfragen, oder ihn gar zu erkennen. Die Nacht ist gerecht. In ihr erhält nur das Reinste, Ewige das vom Mond dosierte und getönte Sonnenlicht. Alles stellt sich in ganzer Klarheit dar.
Über seinen Kopf beugen sich immer mehr Baumkronen, deren Äste schützend ineinandergreifen, je tiefer er in den unentdeckten Wald vordringt. Nie zuvor blickte jemand in diese Fremde. Nie jemand in seine Sterne. Der Mond gießt die Welt in Blei – farblos und rein leuchtet sie zurück. Die Füße schmerzen ihn. Nur noch vertrocknete Nadeln pflastern seinen unbehaglichen Weg. Trotzdem macht sich in ihm ein eigenartiges Gefühl von Wärme und Herzenslust breit, das ihn zu einem fröhlichen Lied ermuntert. Der Vater sang es ihm immer an seinem Bett. Aus der Ferne mischt sich Wolfsgeheul in die Melodie ein, und dicht bei ihm lässt der Gesang der Nachtigall seinen eigenen verblassen. Er schließt bedächtig die Augen. Ihre Klänge sind von besonderer Natur. Die Nacht hebt sie hervor, und lässt sie friedvoll in den Ohren nachhallen. Schon öfters hatte die Nachtigall ihn am Fenster mit ihren Strophen verzaubert, und die mühselige Arbeit erleichtert. Gespannt horcht er also nach ihr. Ihr Ruf lockt Samir zu einem Waldsee.
Zu seiner Linken ruht der Vogel hinter einigen Ästen in einem Baum, und beobachtet ihn ungläubig. Er lehnt sich an sein Versteck an, und spürt, wie der Rücken die weiche Rinde eindrückt. Ruhig schweift sein Blick umher. Der See liegt in stiller Abgeschiedenheit, umringt von Wald. In seiner Mitte spiegeln sich Mond und Sterne. Sie verleihen ihm den Eindruck von unendlicher Tiefe. Der See fasst einen irdischen Sternenhimmel. Als Horizont glänzt heilig die Wasseroberfläche, und hindert die ruhelosen Sterne an der Flucht in Richtung Nachthimmel. Samir aber weiß um deren List. Feiner Dampf – nein, Sternenstaub ! – steigt aus dem Wasser auf, und legt sich sanft auf umliegende Dinge nieder. Ein Tropfen Ewigkeit haftet als Tau an Blätter, Blüten und Gras. Hoffnungsvoll schmückt sich die Umgebung mit ihm, und scheint unvergänglich zu sein. Zumindest bis zum nächsten Morgen, sobald wärmende Sonnenstrahlen diese wieder entführen.
Er tritt näher ans Ufer. Ein Strauch Heidelbeeren bedeckt seine Wurzeln im lehmigen Boden. Hungrig sucht er nach Früchten an den Zweigen. Eine Handvoll davon steckt er in den Mund, und spuckt sie sofort wieder aus. Er hustet, und lässt vornüber gebeugt den bitteren Speichel hinauslaufen. Mit den Finger schiebt er störende Blätter beiseite, und sieht das Übel. Das Gewächs trägt sowohl reife als auch bittere Früchte zur Schau. Die Reifen aber sind im Begriff zu sterben, verfaulen und schmecken bitter. Allein die Unreifen trotzen noch dem Frost, und möchten zur Reife gelangen – um schließlich im kommenden Winter zu verderben, oder vorher verspeist zu werden. Er webt seine Gedanken in schmerzlichen Erfahrungen ein. Alles Reife in der Welt gelüstet zu sterben, und alles Unreife will leben. Die Menschen drängen im Alter zum friedlichen Sterben, und in jungen Jahren zum genügsamen Leben. Engstirnig verlieren sie sich dabei einander aus den Augen.
Die Nachtigall macht sich durch ein tiefes Knarren bemerkbar. Sie bekräftigt ihn in seinem Vorhaben. Kurz entschlossen wirft er seine Kleider ab, bis er nackt dem Schicksal und den Sternen gegenüber steht. Nichts ist ihm den Einsatz seines Herzens wert, weil nichts von Dauer ist. Aber seine Sterne, sie sind in Ewigkeit, und mit ihnen der vertraute Vater. Er sehnt sich nach ihm, will zurück in seinen Schoß. Das kalte Wasser des Sees beginnt fröhlich zu spritzen, als er hinein steigt. Mit dem Sternenstaub wäscht er sich rein, für einen letzten, verheißungsvollen Atemzug.
Dann taucht Samir auf ewig hinunter in die schwarz schimmernde Tiefe ...