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Der Namenlose
Myriaden von Sternen, anziehend und zugleich doch unerreichbar, funkelten am wolkenlosen Nachthimmel über dem unruhigen Meer. Am fernen Horizont schienen sich Sternenmeer und Ozean zu berühren. Eine schöne, Sehnsucht erweckende Illusion. Er ließ sich mit den Wellen treiben und beobachtete die Stadt an der Küste. Nicht sehend, wie wir es gewohnt sind, sondern eher, wie etwa ein Baum seine Umgebung wahrnimmt. Er registrierte die vielen Lichter, spürte das Leben auf den Straßen und in den Häusern – und Gefahr.
Lange Zeit war nichts geschehen. Zumindest nichts, was ihn über die Maßen beunruhigt hätte. Doch nun bedrohte ein, für die Menschen kaum wahrnehmbarer Feind deren Leben. Etwas war aus den Weiten des Alls gekommen, hatte sich in der Atmosphäre der Erde verfangen und trieb nun in der Stadt sein Unwesen. Dieses Etwas, das zunächst nur wie ein diffuser, schwarzer Schatten gewirkt hatte, stellte sich bald als der schlimmste Alptraum dar, der die Menschheit bereits heimzusuchen begonnen hatte. Ein parasitäres Beinahe-Nichts, das den Menschen sämtliche Lebensenergie entzog, deren katatonischen Hüllen sterbend zurückließ, um sich in Schlupfwinkeln der Stadt durch Verdoppelung zu vermehren. Unsichtbare Schatten der Nacht, die willkürlich ihre Gier stillten und nicht aufzuhalten waren - nicht durch die Menschen und auch nicht durch eine solch unbedeutende, an den Lebensraum Wasser gebundene Existenz, wie ihn.
Erde, Feuer, Wasser – Luft. Vielleicht würden seine Verbündeten, die Großen Vier, etwas bewirken können. Noch konnten sich die Schatten in der Küstenstadt austoben. Sollten sie jedoch nicht mehr genügend Opfer finden und über das weniger dicht besiedelte Hinterland der Stadt ausschwärmen, würde es keine Möglichkeit mehr geben, sie aufzuhalten.
Der Versuch des Windes, die Schatten aus ihren Verstecken zu vertreiben, scheiterte. Sie wurden mit dem Boden eins und machten kriechend Beute. Das Feuer konnte ihnen nichts anhaben. Es züngelte einfach durch sie hindurch und schien sie noch zu laben. Die Erde wollte sich auftun, um sie zu verschlingen. Doch – konnte diese Energie gefangen werden? Auf Dauer?
Das Wasser? Ja, sie mieden es, doch waren sie für dieses Element beinahe unerreichbar. Anhaltender Regen zwang sie für kurze Zeit in den Schutz der Behausungen zurück. Als einer von ihnen einen Reisebus als Heimstatt auswählte, hörte der Regen auf.
In der folgenden Nacht begann es, unter dem Meeresboden zu rumoren. Feuer und Erde vermählten sich dort, um Magma zu gebären, das ungestüm nach oben drängte und unter starkem Beben die See erzittern ließ. Das Beben wiederum wühlte ungeheure Wassermengen auf, die von einem aufkommenden Orkan in Richtung Küste getrieben wurden. Höher und höher türmten sich Wellenberge zum Himmel auf. Die entfesselten Elemente hatten nur ein Ziel: Ein gewaltiger "Tsunami" rollte mit einer Geschwindigkeit von bis zu tausend Kilometern pro Stunde auf die Stadt zu, die dessen Urgewalt schutzlos ausgeliefert war.
Die Riesenwelle überraschte die meisten Menschen im Schlaf. Die Fluten drangen mit verheerender Wucht überall ein, rissen Alles mit sich - auch die Schatten, die sich im Schutz der Nacht in Sicherheit wähnten. Tiefschwarze „Blitze“, die von den Energie-Räubern ausgingen, ließen das Wasser brodelnd kochen und verdampfen. Sie wehrten sich. Er aber warf sich ihnen entgegen und kämpfte mit aller Kraft, bis das Meer alle Spuren von ihnen beseitigt hatte.
Das Inferno war vorüber. Im Morgengrauen kamen die Ausmaße der Katastrophe zum Vorschein. Die Stadt an der Küste gab es nicht mehr. Ausgelöscht, wie auch Tausende von Menschen. Trümmer und Kadaver schwammen an ihm vorbei. Fort! Er wollte weit fort von diesem verwüsteten Ort. Die Schlacht war gewonnen – doch um welchen Preis! Bei seiner Flucht streifte er ein rötliches, durchtränktes Fellbündel. Es war eine Katze, die alle ihre Leben etwas Höherem hatte opfern müssen.
Jeder muß irgendwann Opfer bringen. Jeder.