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Der neue Manager

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22.12.2004
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Der neue Manager

Kerner wusste, er hatte einen Fehler gemacht. Doch in seiner Position durften keine Fehler gemacht werden. Man übernahm Verantwortung und ging oder schob die Schuld auf höhere Gewalt. So einfach war das.
Noch einfacher, war es, keine Fehler zu machen. Lange Zeit war ihm das geglückt.

Der Neue hatte das Schreiben eine ganze Weile kritisch betrachtet und nicht zu ihm aufgesehen. Mit faltenfreiem Hemd und tadellos passender Krawatte hatte er Kerner gegenüber gesessen und nachdenklich seine Unterlippe geknetet. Kerner grinste, denn die Situation hatte etwas Ironisches, aber sein Grinsen hielt nicht lang. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er auf der anderen Seite des Tisches gesessen.

Nachdenklich hob der Neue die Augenbrauen, legte dann das Schreiben vor sich hin und sah Kerner direkt ins Gesicht. "Sind Sie sich sicher?", fragte der Neue und versuchte dabei mitfühlend zu klingen, was ihm nicht recht gelang.
Kerner nickte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er sich sicherer als jemals zuvor. Man muss wissen, wann die Zeit gekommen war, sonst würde es zu spät sein.

Jahrelang hatte Kerner das richtige getan. Hatte Entscheidungen getroffen, mit Ausdrücken, mit Geld und manchmal auch mit Menschenleben gespielt. Humankapital, Umstrukturierung, Einsparung. Begriffe, die nun alle dasselbe zu bedeuten schienen. Man musste hart sein in Kerners Position. Erwartungen schüren, Nullrunden durchsetzen, die Anleger zufriedenstellen, Verluste mit hohen Investitionen begründen, zur richtigen Zeit einsteigen und auf der anderen Seite sparen. Es war eine schöne, eine saubere Welt für ihn gewesen.

Kaum dreißig Jahre war es her, da hatte Kerner dort gesessen, wo der Neue jetzt saß, genauso gut gekleidet, mit demselben arroganten Gesichtsausdruck, zwar ohne Gel in den Haaren aber sicher nicht viel älter. Der Neue war Ende 20, hatte für sein Studium nicht mal die Regelstudienzeit gebraucht und einen Abschluss par excellence hingelegt mit Auslandssemestern, Empfehlungen von Professoren und namhaften Firmen im Lebenslauf. Dabei hatte er natürlich nie das Privatleben aus den Augen verloren. "Freunde treffen" und "KFZ-Tuning" hatte unter Hobbys in seinem Lebenslauf gestanden. Kerner erinnerte sich noch gut. Er selbst hatte den Neuen vor einigen Jahren eingestellt.

Vor zwei Jahren hatte Kerner zum erstenmal einen groben Fehler gemacht. Eine Fabrik sollte in Osteuropa aufgebaut werden. Die Untersuchungen waren widersprüchlich, die Prognosen zurückhaltend, vieles sprach für einen Aufbau, einiges dagegen. Kerner setzte den Bau der Fabrik letztendlich durch. Doch die Schwierigkeiten nahmen schon nach kurzer Zeit Überhand.
Die Arbeiter waren nicht qualifiziert genug, die Aufträge stagnierten, die Nachfrage schwand. Mit wirtschaftlichen Begriffen lässt sich alles leicht erklären, dachte er. Die 100 Millionen Euro verzieh man ihm, doch Kerner wusste dass ein weiterer Ausrutscher sein letzter sein würde.

"Ich lese ihr Schreiben mit großem Bedauern", sagte der Neue, aber er klang nicht wirklich traurig. Sie werden ihn an meine Stelle setzen, dachte Kerner. Für den Neuen konnte es gar keine besseren Nachrichten geben. Jung, dynamisch und flexibel, kompetent und belastbar. Genauso muss ein Manager sein, doch Kerner wusste, dass er für viele dieser Ausdrücke inzwischen zu alt war. "Man soll dann gehen, wenn es am schönsten ist", sagte Kerner schließlich und versuchte schwärmerisch zu klingen.

Vor zwei Monaten hatte die Geschäftsleitung entschieden, eine Fabrik im Ruhrgebiet zu schließen - sie war schlicht nicht profitabel genug gewesen. 3.000 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Kerner wurde dorthin geschickt, um mit den streikenden Arbeitern zu verhandeln. Er war nervös gewesen. Es war Jahre her, seit er zuletzt eine der Fabriken besucht hatte. Loyalität war für Kerner oberstes Gebot, gleich nach dem Wohl der Firma.
Als er ans Mikrofon trat, um vor den Arbeitern eine Rede zu halten, begann ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. Die buhende Menge ließ ihn gar nicht zu Wort kommen und Kerner gab es nach einigen verzweifelten Versuchen auf.

Kerner entschied, dass es keinen Sinn machte, gegen die Menge anzureden. Er wollte ins Büro gehen und mit dem Vorsitzenden des Betriebsrats verhandeln. Verhandeln mit Entscheidungsträgern. Das war er gewohnt. Doch Arbeiter stellten sich ihm in den Weg: "Warum tun Sie uns das an?", rief ihm eine Frau zu. "Denken Sie überhaupt einmal an uns?". Kerner reagierte nicht. "Bezahlen Sie bald meine Miete von Ihrem Gehalt?" rief ein Arbeiter. Kerner winkte ab. "Meine Frau ist schwanger, wovon soll ich leben?" Kerner beschwichtigte: "Suchen Sie sich doch eine neue Arbeit!". "Es gibt hier keine Arbeit", ärgerten sich andere. Kerner wurde blass.

Man hatte ihm zwei Leibwächter an die Seite gestellt, die ihm nun den Weg freimachten. Doch Kerner kam nicht umhin, in die Gesichter der Einzelnen zu sehen. Die Drohgebährden galten ihm, der Zorn in den Gesichtern der einen, die Angst in den Augen der anderen richteten sich an ihn. Kritische Fragen kannte er, wenn überhaupt, dann nur von der Presse oder von den Sitzungen des Aufsichtsrates. Kerner schaffte es nicht, den Blicken auszuweichen, schaffte es nicht seine Ohren auf taub zu stellen. Er ließ die Menge hinter sich, aber er entkam ihr nicht.

Als er das Fabriksbüro erreicht hatte, hoffte er aufatmen zu können, doch die Rufe und Pfiffe der Menge drangen durch die dünne Wand. Die Rezeptionistin sah ihn geringschätzig an und wandte sich dann ab. Niemand grüßte ihn und Kerner ahnte, dass die Atmosphäre in dem Gebäude seinetwegen unterkühlt war. Kerner schloss die Augen und strich sich mit der Hand durchs Gesicht. Er atmete schwer und tief ein, dann blickte er durch die Scheibe hindurch wieder zu der Menge hinüber.

Noch am gleichen Abend flog er auf schnellstem Weg in die Zentrale zurück und berief für den kommenden Morgen eine außerordentliche Sitzung ein. Er machte deutlich, dass ihm eine sofortige Entscheidung wichtig war. Als alle Mitglieder versammelt waren, empfahl er der verblüfften Geschäftsleitung, die Fabrik nicht zu schließen.
"Meinen Sie das im Ernst?", hatte jemand aus der Runde nach einer kurzen Stille gefragt. Es war der Neue gewesen, der sich im Laufe der Sitzung zum größten Gegner von Kerners Vorschlag aufbaute: "Die Zahlen zeigen eindeutig, dass das Werk eine Kostenfalle ist, die wir nicht länger decken können."
Die Geschäftsleitung war verwirrt, doch sie folgte Kerners Empfehlung, das Werk in Betrieb zu halten. Weil er der erfahrenere Manager war. Keine zwei Monate später war die Fabrik im Ruhrgebiet pleite.

"Was werden Sie jetzt machen?", fragte der Neue und es klang eher wie die Sorge, Kerner könne nicht genug Geld auf die Seite gelegt haben. "Ach, wissen Sie", antwortete Kerner, "ich hab ja noch mein Haus in Spanien und das Wetter hierzulande macht mir schon lange zu schaffen." Ein vorgeschobener Grund. Er fühlte sich noch zu jung für den Ruhestand und wäre gerne geblieben.
Der Neue nickte: "In ihrem Schreiben klingen Sie sehr endgültig. Wir verlieren Sie wirklich ungern!"

"Wir", dachte Kerner. Zum ersten Mal während der Unterhaltung wurde er ein wenig wütend. Der Neue ist erst zwei Jahre dabei und redet mir gegenüber schon von "Wir". Es war Zeit zu gehen, aus eigenen Stücken zu gehen, so lange er noch konnte. Doch Kerner wusste, dass er der Geschäftsleitung nur zuvorgekommen war. Man hätte ihn ins Ausland versetzt oder ihm eine Denkpause vorgeschlagen. Unumstößlich war jedoch, dass man den Neuen nun an seine Stelle setzen würde.

Der Neue, der geleckte Überflieger, wird jetzt in meine Fußstapfen treten, dachte Kerner. Sein Leben den Umstrukturierungen und Einsparungen widmen. Nun würde er die richtigen Entscheidungen treffen, Geld einnehmen und auf der anderen Seite wieder investieren. Bis auch er sich eines Tages seinen Fabrikarbeitern würde stellen müssen.

Bei dem Gedanken daran lachte Kerner plötzlich laut auf. Er schüttelte dem verblüfften Neuen zum Abschied die Hand und entfernte sich rasch. Als er durch die Tür gegangen war, zog er sie fest hinter sich zu. So fest wie es ging.

 

Hallo JayWalker,

Eine interessante Geschichte, wie ich finde. Einzig der viele Bericht stört mich, und hätte mich beinahe dazu bewogen, wegzuklicken. Es geht um die Neubesetzung des Sessels des Vorstandsvorsitzenden in einer globalen Aktiengesellschaft. Der Konzern verbucht in jüngster Vergangenheit Verluste, und da erscheint es nur logisch, dass der bisherige Firmenchefe zugunsten eines Neuen abdankt. Der Alte aber sieht für den Neuen ein ähnliches berufliches Schicksal voraus. Nicht zuletzt schließt er am Ende die Türe fest zu, damit der Neue nicht aus diesem scheinbar natürlichen Kreislauf ausbrechen kann. Die Wirtschaft ist nicht nur hierzulande abhängig von Konjunktion.
Gesellschaftskritik? Nur auf dem zweiten Blick. Die Profitgier des Konzerns, respektive des Neuen, und die Kehrseite des globalen Kapitalismus. Das hättest du meines Erachtens noch genau herausarbeiten müssen.

Lieben Gruß,
moonaY

 

Hallo JayWalker,

mir hat deine Geschichte gut gefallen. Du zeigst ein Stück wirtschaftlichen Alltag, die Perspektivlosigkeit, in der sich viele Betriebe und Tochterfirmen befinden. Und hinter alldem ein Stück Menschlichkeit, vermittelt durch den Protagonisten, der wider besserem Wissen sein Gewissen durchsetzt - umsonst. Und daraufhin zum Aussteiger wird und der Sinnlosigkeit den Rücken kehrt.

Den Plot fand ich also sehr gut, und das gesellschaftliche Thema schön eingearbeitet. Auch von der Umsetzung hat's mir gefallen. Stilistisch sauber geschrieben, bildlich genug um mitfühlen zu können...

Einzig etwas mehr Details hätte ich mir ob der angebrachten Verzweiflung gewünscht, die den Prot dann zu seinem schwerwiegenden Fehler veranlassen, da könntest du ausbauen. Und die Tatsache, dass es sich bie den hundert Millionen um Peanuts handelte, hättest du subtiler darstellen können.

lieben Gruß,

Anea

 

Hallo moonaY und Anea,

vielen Dank für eure Tipps. Ich habe die Geschichte noch einmal leicht überarbeitet und ein wenig gekürzt. Freut mich, dass sie euch gefällt. Noch mehr ins Detail gegangen, wäre ich an einigen Stellen sicher gerne, aber zu lang wollte ich die Geschichte dann auch nicht werden lassen. ;)

Liebe Grüße,
Jay

 

Hallo JayWalker,

deine Geschichte gefiel mir sehr gut. Am besten fand ich, dass du auf Klischees verzichtet hast - der Neue ist kein herzloses Ungeheuer, sondern so, wie der Prot früher war; dein Prot ist kein "letzter Manager mit Herz", der von herzlosen Neuen überrannt wird, sondern ein ganz normaler Manager, der in seiner Entwicklung schon weiter ist als der Neue.
Du beschreibst den ganz normalen Alltag, das quälende Dilemma - wie es Anea schon sagte - das aber so fesselnd, dass man deine Geschichte gerne liest.

Eine Sache hat mich etwas irritiert. Erst schreibst du:

Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er auf der anderen Seite des Tisches gesessen.

und zwei Absätze später:

Kaum dreißig Jahre war es her, da hatte Kerner dort gesessen, wo der Neue jetzt saß,

Also, objektiv gesehen finde ich 30 Jahre schon lang. Ich dachte erst, der Neue sei Kerner vor die Nase gesetzt worde, nachdem Kerner von seinem Chefposten degradiert worden ist.
Kerner kommt es in dem Moment wahrscheinlich so vor, als sei er noch vor gar nicht langer Zeit selbst neu gewesen und dort gesessen. Dieses subjektive Empfinden würde ich vielleicht noch etwas deutlicher herausstellen. Oder aber die Stelle ganz weglassen bzw. in der Aussage verändern: Ist es nicht eine der Aussagen der Geschichte, dass Kerner eben schon lange in der Firma ist, einiges erlebt hat und eine Entwicklung durchmachte, weswegen er jetzt nicht mehr so weitermachen kann?

Ist aber nur eine Kleinigkeit am Rande.

Viele Grüße
Pischa

 
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Ja, ich bin beeindruckt, eine wirklich sehr runde Geschichte. Und auch sehr stilsicher erzählt. Und, wie auch schon lobend angemerkt wurde, ohne anklagenden, ohne reißerischen Unterton.

Wie aus den vorherigen Kommentaren herauszulesen ist, hast Du den Text bereits überarbeitet. In dieser Fassung gefällt er mir wirklich sehr gut.

So gut, daß ich wirklich nur noch einige Detailanmerkungen habe:

  • Noch einfacher, war es, keine Fehler zu machen. - Das erste Komma ist zu viel.
  • "Sind Sie sich sicher?", fragte der Neue - Das Komma ist zu viel. An anderer Stelle läßt Du es auch weg.
  • nahmen schon nach kurzer Zeit Überhand. - "überhand"
  • dass es keinen Sinn machte, - Ist dem Manager-Jargon vielleicht angemessen, dieser Anglizismus. Andernfalls: "Sinn hatte"
  • "Suchen Sie sich doch eine neue Arbeit!". - Der Punkt ist überflüssig. Vielleicht machst Du wegen der darauffolgenden wörtlichen Rede einen Absatz?
  • Man hatte ihm zwei Leibwächter an die Seite gestellt, die ihm nun den Weg freimachten. [...] - Die Zeiten stimmen in diesem Absatz nicht. Ich denke, statt des "nun" solltest Du ein "schließlich" und den Rest auch in die Vorvergangenheit setzen.
  • Fabriksbüro - Der Fugenkonsonant kommt mir hier merkwürdig vor.

Nachtrag: lukas_iskariot hat mich im Gewand des schwarzen Grammatik-Ritters inzwischen darüber aufgeklärt, daß das Komma nach Fragen in der wörtlichen Rede (zumindest nach neuer Rechtschreibung) stehen muß oder darf (? Ich kann es selbst nirgends finden). Da Du das im Text aber unterschiedlich handhabst, empfehle ich Dir, es zu vereinheitlichen.

 

Hallo cbrucher,

freut mich, dass dir mein Text gefällt und danke für deine Anmerkungen. Ich bin außerdem sehr überrascht und erfreut, dass du diese Geschichte von mir wieder ausgegraben hast. Sie ist immerhin schon ein gutes halbes Jahr alt.

Deine Anmerkungen werde ich auf jeden Fall mal genauer betrachten. Ich bin kein Rechtschreib-Experte und deswegen für jeden Hinweis dankbar!

Beste Grüße,
Jay

 

Hey JayWalker,

wo ich schon dabei bin. ;)
Obwohl ich mich doch bemühe, in dieser Rubrik wirklich alles zu lesen, habe ich diese Geschichte seinerzeit offensichtlich verpasst. In sofern ist es also gut, dass cbrucher sie wieder hervorgeholt hat, denn auch mir hat sie in ihrem wirtschaftlichen Kernkonflikt gefallen.
Auch die Zyniker in den Chefetagen verlieren ein Stück in dieser Realität: ihre Menschlichkeit. Wenn Wirtschaftsdaten nur aus Kennzahlen bestehen, kann keine soziale Gesellschaft dabei herauskommen. Und die Debatten über drohende Konkurse und Schließungen sind einfach zu heftig, als dass die Entscheidung Kerners zu einem kurzfristigen Aufschwung durch ein repariertes Image hätte führen können.

Habe ich gern (wenn auch ein bisschen spät) gelesen.

Lieben Gruß, sim

 

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