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Der neue Manager
Kerner wusste, er hatte einen Fehler gemacht. Doch in seiner Position durften keine Fehler gemacht werden. Man übernahm Verantwortung und ging oder schob die Schuld auf höhere Gewalt. So einfach war das.
Noch einfacher, war es, keine Fehler zu machen. Lange Zeit war ihm das geglückt.
Der Neue hatte das Schreiben eine ganze Weile kritisch betrachtet und nicht zu ihm aufgesehen. Mit faltenfreiem Hemd und tadellos passender Krawatte hatte er Kerner gegenüber gesessen und nachdenklich seine Unterlippe geknetet. Kerner grinste, denn die Situation hatte etwas Ironisches, aber sein Grinsen hielt nicht lang. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte er auf der anderen Seite des Tisches gesessen.
Nachdenklich hob der Neue die Augenbrauen, legte dann das Schreiben vor sich hin und sah Kerner direkt ins Gesicht. "Sind Sie sich sicher?", fragte der Neue und versuchte dabei mitfühlend zu klingen, was ihm nicht recht gelang.
Kerner nickte. Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er sich sicherer als jemals zuvor. Man muss wissen, wann die Zeit gekommen war, sonst würde es zu spät sein.
Jahrelang hatte Kerner das richtige getan. Hatte Entscheidungen getroffen, mit Ausdrücken, mit Geld und manchmal auch mit Menschenleben gespielt. Humankapital, Umstrukturierung, Einsparung. Begriffe, die nun alle dasselbe zu bedeuten schienen. Man musste hart sein in Kerners Position. Erwartungen schüren, Nullrunden durchsetzen, die Anleger zufriedenstellen, Verluste mit hohen Investitionen begründen, zur richtigen Zeit einsteigen und auf der anderen Seite sparen. Es war eine schöne, eine saubere Welt für ihn gewesen.
Kaum dreißig Jahre war es her, da hatte Kerner dort gesessen, wo der Neue jetzt saß, genauso gut gekleidet, mit demselben arroganten Gesichtsausdruck, zwar ohne Gel in den Haaren aber sicher nicht viel älter. Der Neue war Ende 20, hatte für sein Studium nicht mal die Regelstudienzeit gebraucht und einen Abschluss par excellence hingelegt mit Auslandssemestern, Empfehlungen von Professoren und namhaften Firmen im Lebenslauf. Dabei hatte er natürlich nie das Privatleben aus den Augen verloren. "Freunde treffen" und "KFZ-Tuning" hatte unter Hobbys in seinem Lebenslauf gestanden. Kerner erinnerte sich noch gut. Er selbst hatte den Neuen vor einigen Jahren eingestellt.
Vor zwei Jahren hatte Kerner zum erstenmal einen groben Fehler gemacht. Eine Fabrik sollte in Osteuropa aufgebaut werden. Die Untersuchungen waren widersprüchlich, die Prognosen zurückhaltend, vieles sprach für einen Aufbau, einiges dagegen. Kerner setzte den Bau der Fabrik letztendlich durch. Doch die Schwierigkeiten nahmen schon nach kurzer Zeit Überhand.
Die Arbeiter waren nicht qualifiziert genug, die Aufträge stagnierten, die Nachfrage schwand. Mit wirtschaftlichen Begriffen lässt sich alles leicht erklären, dachte er. Die 100 Millionen Euro verzieh man ihm, doch Kerner wusste dass ein weiterer Ausrutscher sein letzter sein würde.
"Ich lese ihr Schreiben mit großem Bedauern", sagte der Neue, aber er klang nicht wirklich traurig. Sie werden ihn an meine Stelle setzen, dachte Kerner. Für den Neuen konnte es gar keine besseren Nachrichten geben. Jung, dynamisch und flexibel, kompetent und belastbar. Genauso muss ein Manager sein, doch Kerner wusste, dass er für viele dieser Ausdrücke inzwischen zu alt war. "Man soll dann gehen, wenn es am schönsten ist", sagte Kerner schließlich und versuchte schwärmerisch zu klingen.
Vor zwei Monaten hatte die Geschäftsleitung entschieden, eine Fabrik im Ruhrgebiet zu schließen - sie war schlicht nicht profitabel genug gewesen. 3.000 Arbeitsplätze standen auf dem Spiel. Kerner wurde dorthin geschickt, um mit den streikenden Arbeitern zu verhandeln. Er war nervös gewesen. Es war Jahre her, seit er zuletzt eine der Fabriken besucht hatte. Loyalität war für Kerner oberstes Gebot, gleich nach dem Wohl der Firma.
Als er ans Mikrofon trat, um vor den Arbeitern eine Rede zu halten, begann ein ohrenbetäubendes Pfeifkonzert. Die buhende Menge ließ ihn gar nicht zu Wort kommen und Kerner gab es nach einigen verzweifelten Versuchen auf.
Kerner entschied, dass es keinen Sinn machte, gegen die Menge anzureden. Er wollte ins Büro gehen und mit dem Vorsitzenden des Betriebsrats verhandeln. Verhandeln mit Entscheidungsträgern. Das war er gewohnt. Doch Arbeiter stellten sich ihm in den Weg: "Warum tun Sie uns das an?", rief ihm eine Frau zu. "Denken Sie überhaupt einmal an uns?". Kerner reagierte nicht. "Bezahlen Sie bald meine Miete von Ihrem Gehalt?" rief ein Arbeiter. Kerner winkte ab. "Meine Frau ist schwanger, wovon soll ich leben?" Kerner beschwichtigte: "Suchen Sie sich doch eine neue Arbeit!". "Es gibt hier keine Arbeit", ärgerten sich andere. Kerner wurde blass.
Man hatte ihm zwei Leibwächter an die Seite gestellt, die ihm nun den Weg freimachten. Doch Kerner kam nicht umhin, in die Gesichter der Einzelnen zu sehen. Die Drohgebährden galten ihm, der Zorn in den Gesichtern der einen, die Angst in den Augen der anderen richteten sich an ihn. Kritische Fragen kannte er, wenn überhaupt, dann nur von der Presse oder von den Sitzungen des Aufsichtsrates. Kerner schaffte es nicht, den Blicken auszuweichen, schaffte es nicht seine Ohren auf taub zu stellen. Er ließ die Menge hinter sich, aber er entkam ihr nicht.
Als er das Fabriksbüro erreicht hatte, hoffte er aufatmen zu können, doch die Rufe und Pfiffe der Menge drangen durch die dünne Wand. Die Rezeptionistin sah ihn geringschätzig an und wandte sich dann ab. Niemand grüßte ihn und Kerner ahnte, dass die Atmosphäre in dem Gebäude seinetwegen unterkühlt war. Kerner schloss die Augen und strich sich mit der Hand durchs Gesicht. Er atmete schwer und tief ein, dann blickte er durch die Scheibe hindurch wieder zu der Menge hinüber.
Noch am gleichen Abend flog er auf schnellstem Weg in die Zentrale zurück und berief für den kommenden Morgen eine außerordentliche Sitzung ein. Er machte deutlich, dass ihm eine sofortige Entscheidung wichtig war. Als alle Mitglieder versammelt waren, empfahl er der verblüfften Geschäftsleitung, die Fabrik nicht zu schließen.
"Meinen Sie das im Ernst?", hatte jemand aus der Runde nach einer kurzen Stille gefragt. Es war der Neue gewesen, der sich im Laufe der Sitzung zum größten Gegner von Kerners Vorschlag aufbaute: "Die Zahlen zeigen eindeutig, dass das Werk eine Kostenfalle ist, die wir nicht länger decken können."
Die Geschäftsleitung war verwirrt, doch sie folgte Kerners Empfehlung, das Werk in Betrieb zu halten. Weil er der erfahrenere Manager war. Keine zwei Monate später war die Fabrik im Ruhrgebiet pleite.
"Was werden Sie jetzt machen?", fragte der Neue und es klang eher wie die Sorge, Kerner könne nicht genug Geld auf die Seite gelegt haben. "Ach, wissen Sie", antwortete Kerner, "ich hab ja noch mein Haus in Spanien und das Wetter hierzulande macht mir schon lange zu schaffen." Ein vorgeschobener Grund. Er fühlte sich noch zu jung für den Ruhestand und wäre gerne geblieben.
Der Neue nickte: "In ihrem Schreiben klingen Sie sehr endgültig. Wir verlieren Sie wirklich ungern!"
"Wir", dachte Kerner. Zum ersten Mal während der Unterhaltung wurde er ein wenig wütend. Der Neue ist erst zwei Jahre dabei und redet mir gegenüber schon von "Wir". Es war Zeit zu gehen, aus eigenen Stücken zu gehen, so lange er noch konnte. Doch Kerner wusste, dass er der Geschäftsleitung nur zuvorgekommen war. Man hätte ihn ins Ausland versetzt oder ihm eine Denkpause vorgeschlagen. Unumstößlich war jedoch, dass man den Neuen nun an seine Stelle setzen würde.
Der Neue, der geleckte Überflieger, wird jetzt in meine Fußstapfen treten, dachte Kerner. Sein Leben den Umstrukturierungen und Einsparungen widmen. Nun würde er die richtigen Entscheidungen treffen, Geld einnehmen und auf der anderen Seite wieder investieren. Bis auch er sich eines Tages seinen Fabrikarbeitern würde stellen müssen.
Bei dem Gedanken daran lachte Kerner plötzlich laut auf. Er schüttelte dem verblüfften Neuen zum Abschied die Hand und entfernte sich rasch. Als er durch die Tür gegangen war, zog er sie fest hinter sich zu. So fest wie es ging.