Der Neue
Der Neue
Wie lange kenne ich ihn eigentlich schon? Sind es jetzt schon zwei Jahre ? Ich glaube so in etwa. Eigentlich doch ein recht hübscher Zeitabschnitt, um jemanden kennen zu lernen – oder besser, sich in dem Glauben zu wiegen, Wesentliches über einen Anderen zu wissen. Ich erinnere mich noch, wie Frank eines Tages auf unserem Flur stand, in ein offenbar angenehmes Gespräch mit meinem Chef vertieft. Ein Austausch einiger verbaler Nettigkeiten, unüberschaubar mit positiver non-verbaler Kommunikation vorgetragen, leicht vorgebeugt und lächelnd, nicht zu devot, aber auch nicht zu frech. Kurz gesagt :Mein Chef plauschte mit einem Unbekannten, den er mir kurz darauf als einen neuen Oberarzt , der über uns angesiedelten Abteilung, vorstellte. Ein kurzes „Guten Tag“, „ich heiße..“ und ein „Hallo“ zum Schluß. Das war dann unser erstes Zusammentreffen. Das leichte Bizarre daran; kaum ein paar Tage später konnte er mich überhaupt nicht mehr einordnen. Es waren wohl doch zuviel der Vorstellungen und Bekanntschaften gewesen. Meine beschwichtigenden Worte: „Ich vergesse auch jeden Namen sofort, der mir das erste Mal genannt wird“ waren fast mehr an meine Adresse gerichtet. So stimmte zwar der Satz im Prinzip; aber Name und Gesicht ! Das kratzte am Ego, diese Demonstration offenkundiger Bedeutungslosigkeit der eigenen Person. Denn auf allzu viel Senilität und Zerstreutheit konnte ich angesichts seiner 38 – 40 Jahre schwerlich hoffen.
Aber was soll`s. Irgendwie trafen wir uns in der Zukunft häufiger, beim Essen in der Kantine oder bei uns auf Station. Über fachliche Kontakte hinaus stellte sich mit der Zeit auch eine gewisse persönliche Beziehung her. Aber schon bei den Worten „persönliche Beziehung“ wird mir klar, dass damit die Situation, das was zwischen uns war oder auch nicht existierte kaum adäquat beschrieben werden kann. Vielleicht war es diese interessante, in gewisser Weise regelrecht angenehme Ambivalenz unseres gegenseitigen Umgangs, der einerseits doch persönlicher war als ein rein fachlicher, andererseits aber strikt eine deutliche Distanz aufrecht erhielt. Wir sagten „Sie“ zueinander. Dabei lagen keine Jahrzehnte unterschiedlicher Berufs.- oder Lebenserfahrung zwischen uns. Nein, ganze 700 Tage hatte er früher Windeln und Fläschen benötigt. Welch ein Lebensvorsprung! Doch wir sagten „Sie“ oder „Herr Kollege“. Jeden anderen hätte ich ob eines solchen Verhaltens als Arschloch bezeichnet oder zumindest mit Missachtung gestraft, was zwecklos aber enorm befriedigend gewesen wäre. Doch bei ihm genoss ich es. Ja, klamm heimlich beschlich mich das Gefühl, dass sich so bestimmt vor hundert Jahren echte Gentlemen im Club bei einer guten Zigarre und einem lange gelagerten Whiskey, bequem zurückgelehnt in einen ledergepolsterten Sessel, unterhalten hätten – und natürlich: kein Zutritt für Frauen !
Kein Zutritt für Frauen; unsere Gespräche schienen sich ebenfalls daran zu halten. Alles was ich zu Thema „Frank und Frauen „ wusste, resultierte sozusagen aus Sekundärquellen, die ich z.T. meinerseits als gar nicht so sekundär ansah. Allein Kristina aus der Funktionsabteilung hatte für mich absolut das Zeug primär zu sein. Ihr trainierter Körper und das ausgesprochen nette, etwas zurückhaltende Lächeln waren mir schon lange aufgefallen.
Seit wann stehe ich denn eigentlich auf muskulöse Frauen ?
Doch mit Frank sprach ich niemals über Derartiges. Wie ich erfuhr, lebte er in gewisser Weise mit zwei Frauen zusammen – aber auf Distanz. Ein Lebensmodus, den ich in meinem Bekanntenkreis mit dieser Konsequenz noch nie gesehen hatte.
Da gab es eine Frau in ca. sechzig Kilometer Entfernung und eine in unserer Stadt. Mit beiden hatte er ein Kind. Am Wochenende A kümmerte er sich um das eine, am Wochenende B um das andere Kind – vorausgesetzt, berufliche Zwänge wie Dienste, Kongresse o.ä. brachten den Rhythmus nicht durcheinander.
Wenn ich mir Frank so anschaute und bei Gesprächen auch bewusster darauf achtete, nicht nur was, sondern wie er es sagte, entstanden in meinem Kopf so ein paar Bilder, in denen ich mir seine Partnerinnen vorstellte. Ich glaube es ist ziemlich normal, das so etwas passiert. Man kann sich gar nicht der eigenen Gedankenwelt , dem eigenständigen Konfabulieren einiger Neurone entziehen. So entstehen nicht immer in jedem Detail scharf gezeichnete Bilder, aber doch ziemlich umfassende Prinzipskizzen, mit vielen konkreten Konturen und Farben, im Einzelnen variierbar, aber doch in der Grundansicht recht festgelegt.
Welche Frauen passen zu einem recht smarten, schlanken Typ, mit einzelnen grauen Haaren in der sportlich kurzen Frisur ? Ein leicht gebräunter Teint und meist ein angedeutet, ja fast spöttisches Lächeln. Überwiegend sachlich, nett im Umgang, gelegentlich mit einem Hauch Snobismus – aber in homöopathischer Dosis.
Ich gebe zu nicht zu wissen, wie er sich außerhalb unserer sterilen oder zumindest hellen Räume verhielt. Aber es fiel mir schwer zu glauben, dass er zu der Sorte gehörte, die kaum Jeans und T-shirt übergestreift plötzlich die Sau rauslassen. Nun, man weiß es nicht. Aber das war wohl nicht sein Stil.
Wenn ich mir nun anlässlich sich manchmal ergebender entspannter sechzig Sekunden mir ein Bild von seinen Frauen zu machen versuchte, stellten sich recht reproduzierbar immer die gleichen Gedanken ein: Sportlich- schlank, egal ob lange oder kurze Haare, diese Details erwiesen sich beim meinem geistigen Phantombild als austauschbar. Auf alle Fälle irgendwie mit beiden Beinen im Leben stehend und nicht darauf angewiesen, dass abends immer jemand mit konstanter Regelmäßigkeit nach Hause kommt und erzählt, was es in der Klinik so Neues gab. Und dann musste da auch noch viel Toleranz dabei sein. Wer ließe sich schon auf Dauer auf eine solche Beziehungskiste ein, die ja quasi eine Dreiecksbeziehung war, wenn auch mit verlängerter Hypothenuse.
Auf alle Fälle kein Heimchen am Herd, auch kein Trampel, nein – irgendwie ein bisschen rassig und mit spitzer Zunge, um gelegentliche , leicht arrogante Äußerungen schon im Keime ersticken zu können.
Das waren also so meine Gedanken zum Thema. Das Realität und persönliche Vorstellungen manchmal nicht unbedingt deckungsgleich sind ist eine Binsenwahrheit. Im Einzelfall ist man jedoch immer wieder überrascht.
An einem Samstag Vormittag platzte meine Gedankenblase. Im Comic hätte an dieser Stelle „ paff“ oder „ peng“ gestanden. Ich dagegen war eher nur sprachlos; zumindest ein bisschen.
Kurz zuvor hatte ich mich mit wenigen essbaren Dingen auf dem Markt versorgt und schlenderte gerade durch einige Buchläden, um wie so oft mit mehr Zeitschriften und Büchern als mit Brot und Butter nach Hause zu fahren – warum kann ich eigentlich nicht Zellulose verdauen ? Auf dem Wege zum Parkhaus, wo mein altes Auto, liebevoll „Gehhilfe“ genannt, auf mich wartete, passierte es dann. Es tippte mir jemand auf die Schulter, es war Frank. Er schob gerade mit dem Kinderwagen durch die Stadt – ich weiß nicht ob Woche A oder B war. Wir redeten über Dies und Das. Mir wurde klar, er wartete auf Jemanden. Er machte nicht den Eindruck, mich loswerden zu wollen. Also Plausch mit Zeitgewinn, warten was passiert. Es war praktisch die Gelegenheit mein virtuelles Bild, mit der Realität zu vergleichen – zumindest zur Hälfte. So plötzlich, wie er mir auf die Schulter getippt und ein Gespräch angefangen hatte verstummte er auch, drehte sich um und verpackte ein paar große Fleisch.- und Wurstpakete in einer Tasche. Seine Frage, ob auch die Steaks dabei wären, gerichtet an eine plötzlich aufgetauchte sie, machten mir endgültig klar, dass er nicht zufällig die kulinarischen Mitbringsel irgendeiner Passantin einpackte – das wäre ja noch was gewesen – nein, das stand eine seiner zwei besseren Hälften in Gänze vor mir. Er stellt mich ihr kurz vor; wie immer vergaß ich sofort den Namen. Es war einfach nicht zu fassen: 1,60 groß, trotz vorteilhafter Kleidung immer noch als ziemlich beleibt und unsportlich zu erkennen. Dann dieser Dialekt, genauso weich wie der kurze Händedruck, den ich über mich ergehen lassen musste, wobei sie ihren Blick für Sekunden vom Wurstpaket hob.
Ich habe schon oft den Spruch gehört, dass es auf die inneren Werte ankommt, was immer das heißen mag. Ich konnte ihn immer nur teilweise nachvollziehen. Gewiß, man muss auch mit dem Herzen sehen und nicht nur mit den Augen, besonders wenn man so kurzsichtig ist wie ich. Aber was neben den Augen da meinem Herzen angeboten wurde lag ziemlich außerhalb des Erwarteten. Kurz, ich konnte mich nur wundern. Der Ausstieg aus der Situation war einfach. Sie zog es vor, mich zu ignorieren. Nicht der Hauch einer unverbindlichen Äußerung wie man sie manchmal von sich gibt, um Gesprächspausen zu überbrücken oder bei Unbekannten die ersten Sekunden des Kennenlernens geschmeidiger zu machen. So zog ich mich mit meinem knappen Nahrungsmittelbeutel und einem kurzen „Tschüß“ zurück, ohne auch nur den Anschein von Unhöflichkeit oder Sprödheit zu hinterlassen.
Bei solchen Gelegenheiten frage ich mich , ob mir nicht allzu große Vorurteile ein Bein stellen und mich in die Irre laufen lassen. Doch dann denke ich an meine Oma, die immer sagte: Vertrau darauf, was dir dein Gefühl sagt ! Und das sagte damals: Vergiss es , geh los und wundere dich ein bißchen.
Und das tat ich dann auch.