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Der Nostalg
Rückblickend war das eine gute Investition gewesen. Male-Man, Herstellungsjahr 1982, erste Figurenstaffel, fabrikneuer Zustand, originalverpackt mit sämtlichem Zubehör. Ein Schatz, ein Kleinod, kaum mehr zu bekommen in diesen Tagen. Und sogar verdammt günstig, ein Schnäppchen, da lachte das Herz. Einige Scheine fanden einen neuen Besitzer, Kennerblicke wurden über den Tresen gewechselt.
Glücklich ging der Nostalg nach hause, auch ein wenig erleichtert, seine wertvolle Neuerwerbung sicher in einem Beutel verstaut. Wieder eine Lücke geschlossen. Kaum konnte er es erwarten, das Kunststoffstandbild seines Jugendhelden auf dem Regal zu plazieren, neben Male-Mans verschlagenen Feinden und treuen Gefährten. Die erste Serie war jetzt beinahe komplett, fehlte nur noch Fakir, eine hierzulande äußerst seltene Figur, blauer Lendenschurz und überdimensionierte Axt mit Häckselfunktion. Diesen finsteren Bösewicht hatte er als Kind zu seinem Unmut nie bekommen, aber irgendwann wird auch diese vakante Position besetzt sein. Noch einmal lugte er in die Tüte, ob die Beute auch unversehrt den Transport überstand. Alles in Ordnung.
Kurz blitzte jener sonnendurchflutete Nachmittag auf, als er seine erste Male-Man-Figur aus der Verpackung schälte, der frische Plastikgeruch, die Beschaffenheit der Pappe, die Farben, die Oberfläche der beigelegten Handfeuerwaffe, die Freude, endlich mit Tobi Grünspan gleichgezogen zu haben. Der hatte es sich Tags zuvor nicht nehmen lassen, seinen nagelneuen Zombior stolz in der Klasse herumzuzeigen. Aber als die plastikglänzende Male-Man-Statuette aus dem Schulranzen zum Vorschein kam, um die gebührende Bewunderung einzuheimsen, prahlte der entsetzliche Tobi bereits mit Smellor und Breast-Man. Dieser Vorsprung sollte in der Folgezeit uneinholbar bleiben. Doch nicht einmal dem Bonzen Grünspan sollte es vergönnt sein, jemals über solche Perlen wie das Castle Mountainstein-Set oder den Skeletal Dragon Tank zu verfügen. Sämtliche Figuren und Fahrzeuge der Serie zu besitzen, die Sammlung zu komplettieren, das war damals ein Traum, ebenso erreichbar wie ein Mondflug oder ein Treffen mit dem Sänger von Vulture Club. Fast zwanzig Jahre mussten vergehen, ehe dieser Traum in greifbare Nähe gerückt war.
„Was haste denn da gekauft?“
Teddy Wisent, einstmals Schulkamerad, jetzt gescheiterter Großhändler für Kaugummi-Klebebildchen.
„Das, Teddy, ist ein Male-Man von 82, Topzustand, alles dran, Spottpreis.“
„Zeig mal.“
„Hier. Vorsichtig!“
„Nicht schlecht. Den hatte ich auch mal. Wo wir gerade dabei sind: Ich hab mit letztens alle Folgen der Serie auf DVD gekauft. Was hab ich das damals gern geguckt.“
„Ich auch. Müssen uns mal treffen und die zusammen anschauen. Kennst du noch die Folge mit dem Riesenadler, der sich Caffeela greift und dann zu dem Bergaffenvolk...“
„Klar, die war super, aber meine Lieblingsfolge ist die, wo Zombior den Diamanten der Macht konstruiert, und damit den Schlangenvogel von Ozra beschwört, der...“
„Wie ging das noch mal? ‚Ich habe den Zauber von tausend Sonnen‘...“
„...‘Der Sohn des Lichts, Beschützer von Grah‘...ja, weiß ich noch.“
„Vor Kurzem hab ich mal wieder eine Folge gesehen. Im Grunde genommen beknackt. Aber witzig.“
„Damals hat man sich eben nicht so viele Gedanken gemacht.“
„Gut, Teddy, alter Speichellecker des Zombior, dann treffen wir uns demnächst mal. Vielleicht sehen wir uns auch noch ein paar Folgen der Galaktischen Wikinger an.“
„Ah! Die Galaktischen Wikinger, stimmt. Die hatte ich ja ganz vergessen! Weißt du noch, wie sie diese Laser-Enterhaken benutzten, um...“
„Ja, war klasse. Aber das bereden wir dann alles in Kürze! War nett, dich mal wieder zu treffen.“
Jetzt wurde es aber wirklich Zeit, die kostbare Fracht schleunigst nach Hause zu befördern, bevor sie im Getümmel der Straße noch Schaden nahm. Der Nostalg bog ab in Richtung Heimat.
Es warteten Rechnungen und Formulare auf ihre Bewältigung, Behördengänge und Telefonate wollten erledigt, der kleine Konrad versorgt, der Rasen gemäht werden. Seine Frau erwähnte vergessene Verabredungen, Termine, jemand von der Arbeit hatte angerufen, die Bank verlangte irgendein Dokument. Dringend.
Folgendes erledigte der Nostalg zuerst: Betrat seinen Zufluchtsort, schloss die Tür hinter sich, entkleidete die Neuerwerbung feierlich, warf die Tüte weg, hob die Figur vorsichtig an und beseitigte damit das klaffende Loch in der Kollektion. Eine Weile lang schob er die Schachtel auf dem Regal zurecht, bis er zufrieden war und dann lehnte er sich zurück. Das Ritual war vollbracht.
Zur Beruhigung, wenn wieder eine Ratenzahlung fällig, wenn der Kreditrahmen einmal mehr ausgereizt war, wenn die Ämter erneut drohten und der Haussegen in die Diagonale kippte, legte der Nostalg immer eins der alten Hörspiele auf. Detektivclub Schwarze Dreizehn, oder Spukschloss Grausamia, Doktor Rüffels Wunderzoo oder Pitty, der kleine Flusskrebs.
Viele der älteste Kassetten waren bereits ausgeleiert, rauschten, wurden schließlich zu einem dumpfen, verhedderten Magnetbandknäuel. Er hatte versucht, einige der Bänder zu digitalisieren, doch der Originalzustand ließ sich vielfach nicht wieder herstellen. Diejenigen Aufnahmen, die von den Herstellern längst nicht mehr aufgelegt wurden, machten ihm ein wenig Sorgen. Nicht mal fanatischste Sammler hatten alle davon vorrätig. Das war das Problem. Nach hinten weg fledderte die Welt aus, vergilbte und knickte, wurde schließlich sepiagetönt und verkratzt, monochrom, staubig, zersetzte sich, verschwand im Bermudadreieck. Hinterrücks türmte sich die Vergangenheit auf, wuchs ständig an zu einer bizarren Wanderdüne aus Erinnerungen, und am Ende fiel immer mehr bröseliger Sand hinunter und verschwand auf Nimmerwiedersehen. In Vorwärtsrichtung verwandelte sich die Düne in einen Schnellzug, der unaufhaltsam weiterraste und laufend Neues zu der Gammelflut addierte, kaum noch zu bewältigen, der Gammel häufte sich mehr und mehr auf zu einem monströsen Wust, einem Konglomerat, über das niemand mehr den kompletten Überblick behalten konnte, es wurde mit der Zeit zu einem stetigen, bedrohlichen Hintergrundrauschen. Universalgelehrte konnte es nicht mehr geben. Jeder kannte nur einen kleinen Teil des Ganzen. Niemals würde der Nostalg alles in Sicherheit bringen können. Jetzt galt es zu retten, was zu retten war. Das Rauschen wurde stärker.
Die Musikstücke aus den alten Telespielen hatte er bereits auf CD gebrannt, er konnte sich selbst an die obskursten davon erinnern. Rattenlabyrinth und Might of Power, Sphinx-Thinx und Attack of the Mutant Asteroids. Wohlige Schauer liefen ihm über den Rücken, als er die vertrauten Töne des 8-Bit Soundchips vernahm.
Auch viele der Filme hatte er dank digitaler Technologie in den Griff bekommen, aber es traten Schwierigkeiten bei der Rekreation der Ur-Erfahrung auf. Hatten die Bilder schon immer so farblos ausgesehen, oder waren sie inzwischen verblichen? War der Ton originalgetreu? Das Format?
Die Herkunft beinahe aller filmischen Erinnerungsschnipsel hatte in mühsamer Detektivarbeit ermittelt werden können, alle unheimlich beeindruckenden Szenenfragmente und einflussreichen cineastischen Erlebnisse, die seit Jahrzehnten im Hinterkopf spukten, alle Staffeln dieser oder jener Kindersendung, Kopien von Horrorstreifen, die ‚nichts für sein Alter gewesen waren‘ und die er heimlich angesehen hatte, während die Eltern außer Haus weilten.
Desweiteren stapelten sich Fotos und Privatvideos in der Schatzkammer, auf denen der Nostalg die Jahre festhielt, jeden Raum, jeden Gegenstand. Nichts war schlimmer, als die versäumte Chance zur Aufzeichnung einer wichtigen Örtlichkeit oder Begebenheit. Die bräunlich-ausgeblichenen Aufnahmen aus den späten Siebzigern und frühen Achtzigern würden bald unrettbar verloren sein. Etwas musste unternommen werden. Die Angelegenheit war dringend.
„Weshalb musst du noch einen Film aufnehmen? Du guckst die ganzen Kassetten doch niemals an!“
„Der Streifen fehlt mir aber noch!“
„Und wenn du ihn auf Kassette hast, dann stellst du ihn ins Regal, wo er Staub fängt.“
„Nein, ich muss ihn digitalisieren. Das analoge Band verfällt doch mit der Zeit!“
„Sag mal, du spinnst doch. Geh mal lieber draußen die Hecke schneiden.“
Klara verstand einfach nicht. Der Nostalg gab das Versprechen ab, sich so bald wie möglich um die Hecke zu kümmern, begab sich aber schnurstracks in die Asservatenkammer, in die Gesellschaft von Male-Man und den Transbotern, den Schallplatten von The Why und den Stoned Rollers, hunderten von selbst besprochenen Tonbändern, allen jemals gelesenen Büchern, achthundert Videos, tausenden von beschriebenen Seiten in Schutzhüllen, ungezählten Disketten, einem ganzen Schwarm von Spielzeugen, allesamt säuberlich geordnet und katalogisiert, beschriftet und sortiert, unfassbar zahlreich, unmöglich zu zählen.
Vor einigen Tagen war der Nostalg in den Besitz einer ganz besonderen Beute gelangt: Eine exakte Replik jenes Parkhauses, welches in Kindertagen so emsig von seinen Modellwagen befahren worden war. Sofort griff er sich die alten Candlebox-Fahrzeuge und legte einige Runden auf den verschiedenen Parkdecks ein. Das war noch ein richtiges Kindervergnügen gewesen. Anders als dieser japanische Kampfkitsch, durch den sein Sohn heutzutage seines Taschengeldes beraubt wurde.
Die vorsintflutlichen Holzbausteine und wollenen Stofftiere aus Omas Kommode, mit denen der Nostalg bei Besuchen so gern gespielt hatte, wurden nach dem Tod der Großmutter vorsorglich aus dem Erbe geborgen, vor der Versenkung gerettet. Jetzt zierten sie, durch Plastikfolie vor Staub und Verfall geschützt, die Ecke des Sammlungsraumes, der Zeitkapsel.
Schritt für Schritt trug der Nostalg die früheren Eindrücke zusammen, umgab sich mit Vergangenheit. Die Welt begann, sich stückchenweise zu ordnen; zuvor schwammige und undeutliche Bereiche klarten sich auf, Muster kristallisierten sich heraus, verborgene Zusammenhänge erschlossen sich. Doch trotz aller Bemühungen blieb der größte Teil der schier unendlichen, erdrückenden Weite dort draußen bestehen.
Jahrelang hatte ein fast vergessener Schatz in Kartons auf dem Dachboden der elterlichen Wohnung gelagert, ein Schatz, der erst jetzt gehoben werden konnte. In der Mitte des Raumes waren die Behältnisse nun gestapelt und warteten auf ihre Öffnung. Zum Glück war nur wenig Staub ins Innere der Kisten gedrungen, der Inhalt war größtenteils unversehrt. Der Nostalg machte sich daran, die Funde auszuwerten.
Die erste Kiste enthielt Kinderbücher, meist großformatige und bebilderte, viele Märchen, pädagogisch wertvolle und lehrreiche Geschichten, bis zu fünfzig mal gelesen, jedes einzelne Wort noch präsent im Gedächtnis. Willi und die Riesenerdbeere, Honskis lustige Abenteuer beim fröhlichen Piratenkapitän Hickhack, Die Geschichte vom Räuber Pistolowitsch.
Tränen der Rührung beim Durchblättern der vergilbten Bände.
Von außerhalb des Raumes drangen Geräusche ins Refugium, vielleicht Rufe oder Klopfen, vielleicht nur ein Rauschen. Der Nostalg ignorierte die Störung und ging über zur nächsten Schatzkiste. Darin befanden sich die wichtigsten Reliquien seiner Kleinkinderzeit. Bunte Bausteine aus Plastik, Sandförmchen, die Melodie einer Spieluhr, der Gummigeschmack eines Beißringes, der fellige Geruch eines alten Kuscheltieres, das streichelwarme Gefühl eines Stückchens Kaninchenfell, der Klang seiner liebsten Rassel.
Das Rauschen der Außenwelt startete mit aller Macht einen erneuten Anlauf, als der Nostalg die dritte Kiste öffnete und sofort die kleine Kunststoffbox wiedererkannte. Zitternd öffnete er die Schachtel und betrachtete den Inhalt eine Weile lang, der Atem stockend, die Knie weich wie Brei, er stolperte aufs Sofa, lag dort bebend; das Rauschen strömte ins Zimmer, doch sein Körper war warm und sicher, umfangen von einer wohligen Schutzblase, nichts konnte ihm etwas anhaben, als er den Schnuller aus dem Kästchen nahm und in seinen Mund steckte. Verträumt nuckelte und saugte er daran, schloss die Augen und rollte sich zusammen, die angewinkelten Beine ganz fest umklammert. So lag er da und wollte zurück. Nur zurück.