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Der Orgelbauer und sein Mädchen oder wie man sich selbst verliert
Und wieder eine Terz weiter. Endlich, denn der Finger drohte zu verkrampfen.
„`ne große Terz!“, hallte es aus den Gedärmen der Orgel. Leises Fluchen folgte.
Schnell hielt er das zweigestrichene Cis. Wie gerne hätte er jetzt „con moto maestoso“ von Mendelssohn Bartholdy, eingeleitet mit einem wunderschönen A-dur-Akkord, hingeschmettert, das neu eingebaute Subbassregister im Pedal dazugeschaltet und auf dem eher barocken Flötenprinzipal im zweiten Manual improvisiert, es zumindest versucht, oder noch viel lieber: den Tutti Schalter betätigt und den unsäglichen Orgelwolf, möglichst schrill, urplötzlich erhallen lassen, sodass dem diktatorischen Arbeitskollegen im Inneren der Orgel das Bier aus den Adern schießen und er sein eigenes Geschrei nicht mehr verstehen würde. Bei einem ernst zu nehmendem Tinnitus könnte der verhasste Meister, der sich gerade wie eine Schlange durch das Hauptwerk wand, vorzeitig in Rente gehen.
„Ja hörst du das denn immer noch nicht?“, kläffte der Mentor, während er die passende Pfeife zur dazugehörigen Taste suchte. „Und jetzt weitaa!“
Dieses „weitaa!“ erklang ungefähr alle zwanzig Sekunden, hinderte den jungen Tastenhalter am Einschlafen. Eigentlich war es nicht schwer: auf Kommando immer eine große Terz weiter. Zweiundfünfzig Tasten, achtundvierzig Register, dreihundertsechsunddreißig Mal also. Tastenblei, mehr war er nicht. Neun, manchmal sechzehn Stunden pro Tag. Manchmal nachts. Von Stadt zu Stadt, von Tag zu Tag, von Kirche zu Kirche, von Orgel zu Orgel, von Hotel zu Hotel, von Ei mit Orangensaft und Schinken zu Kaffee und Frühstücksflocken mit Ahornsirup, von Neutrup zu Oberuntertrup nach Arschtrup. Ob er dort auf der Dachkammer der Pastorenfamilie nächtigte, wo ihm der Ausgang nach zehn Uhr verwehrt blieb, er in Berlin-Siemensstadt ein, an eine Bienenwabe erinnerndes, Hotelzimmer mit Blick auf fahlen Backstein bezog oder es sich mit Schlafsack, Buch und vielen Decken auf der Orgelempore gemütlich machte, er dachte an Zuhause; an seine Band, bei der nicht jeder Ton akribisch genau gestimmt sein musste, an das Frühstücken mit seiner Familie und schlichtem Nutellatoast, an sein Bett mit dem Traumfänger darüber und seinem Geruch und an Mutters grandiosen Nudelauflauf, nicht zu vergleichen mit all den „Tonis“ und „Angelos“, all den urigen und zünftigen Bauernstuben, in denen er dem Geseier seines Kollegen aufmerksam und interessiert zuhören und daraus etwas fürs Leben lernen musste. Und auch alle spesengeldfressenden, orientalischen, australischen, kenianischen oder grönländischen Gasthäuser ragten beileibe noch lange nicht an Mutters Bratkartoffeln heran.
Mitunter geschah es, dass dem aufrichtigen Lehrling eine schenkeltriefende Prostituierte aufs Zimmer geschickt wurde. Er bräuchte so etwas auf den wochenlangen Montagen, prophezeite ihm sein freigiebiger Meister, der die kaugummischmatzenden Schabracken väterlich im Voraus bezahlt hatte, immer wieder. Sie setzten sich dann zu ihm an die Bettkante, drehten in den Kaugummis oder den Haaren, fragten, wie er es denn gerne hätte und stöhnten wie zuvor im Nachbarzimmer; genauso kurz, genauso vergnügt, genauso wenig befriedigt, allerdings angezogen und vertikal. Alles auf Wunsch des genervten Freiers, welcher damit dem Geschwafel seines Meisters ausweichen wollte. Auch dieser hatte ja eine Frau zu Hause, und Kinder, aus denen unter Garantie mal etwas Besseres werden würde, als aus dem aufmerksamen Orgelbaulehrling.
Beim weihnachtlichen Betriebsessen sah er die zwanghaft-zufriedene Ehegattin mit ihren glubschäugigen Kindern, die das Gemüse nicht wollten, sondern jetzt schon die Eiscreme und sie auch bekamen. Das dahingestellte Schmunzeln seines ihm diktierten Vorbildes, von dem er noch so viel lernen konnte und sollte, und wie dieser den Kollegen von seiner Väterlichkeit unserem Protagonisten gegenüber erzählte und über dessen Zukunft er nur allzu genau Bescheid wusste, ihn als zu sensibel und weich einstufte, ihm das Gehör eines Hufschmiedes vorhersagte und diese langen Hippiehaare müssten so langsam auch mal der Vergangenheit angehören. Er, der Meister der Intonation höchstpersönlich, konnte ein Gehör vorweisen, das ihm erlaubte, die Läuse beim Beischlaf zu belauschen.
„Du musst nur hinhören!“, erklang es immer wieder aus seinem Klumpen von Gesicht, dessen Mund nur schwieg, um die Flasche anzusetzen.
Aber er hörte schon lange nicht mehr zu, beruflich wie privat, hielt die Tasten, wechselte die Terzen und fiel, schwer wie Tastenblei, ins steril riechende Bett.
Denn, was er noch mehr vermisste als Mutters Essen, die Lockerheit seiner Band oder seinen leiblichen Vater, war der Geruch seiner Freundin, seiner auserkorenen Bienenkönigin.
Vom läppischen Gehalt hatte er ihnen Mobiltelefone gekauft, mit denen sie sich Bildmitteilungen senden konnten.
Die Bienenkönigin stürzte sich, stationär wie ihr Leben war, mit voller Kraft in ihr Abitur, um nicht an ihren Geliebten denken zu müssen, den sie bei einem seiner Auftritte kennengelernt hatte, als er sie „Backstage“ geladen hatte, oder wie man ein Hinterzimmer mit Bierkästen und Grasgeruch auch immer nennen mag. Schon fast idealistisch hatte er sein Leben auf die Musik beschränkt, wollte nie etwas anderes machen. Als Kind hatte er mal Klavierunterricht bekommen und wollte dies nun nutzen, um ins Berufsleben einzusteigen. Die Mischung aus Handwerk und Musik war es, die ihn zum Orgelbau getrieben hatte.
Jetzt war er Tastenblei, in illusionistisch gestalteten, uninteressanten Dorfkirchen, bei denen höchstens zwei todbleiche Omas dem Gottesdienst beiwohnten.
Mit seiner Band hatte er schon lange nicht mehr geprobt und der neue Gitarrist, der zwar nicht seit seiner Kindheit mit der Band agierte, aber zumindest vor Ort war und Zeit hatte, wurde ihm verheimlicht.
Melissa, wie seine Herzdame hieß, heulte jeden Montagmorgen unter dem Traumfänger im Duft der Symbiose und sah ihren Freund die nach Asbest stinkenden Klamotten überstreifen, die Reisetasche mitreißen und ihn für mindestens fünf Tage aus ihren Augen und ihrem Leben verschwinden. Was machte er auf seinen Montagen? Seine Reisetasche war voll mit CDs, Büchern, Räucherstäbchen und Haschisch. Er schickte Fotos von engen Hotelzimmern, weiten Kirchen, Kruzifixen und seinem unglücklichem Gesicht, welches mit Staub aus der Orgel, älter als er selbst, überzogen war.
Doch wenn sie zusammen im Geruch lagen, er seine Tränen unterdrückte und sie ihn krabbelte, wollte er sich die Blöße nicht geben. Hauptsache Musik! Hauptsache etwas mit Musik! Nie würde er im Bürostuhl versauern, nie in Ärsche kriechen oder am Fließband stehen.
Die Wochenenden und Feiertage, die Urlaubstage und Telefonate, die fast sein ganzes Gehalt verschlangen, dienten ihm nur dazu, sie noch mehr zu vermissen.
Mit der Zeit und den Orgeln wurde er immer wortkarger, konnte die Zusammenkunft mit seiner Freundin, Mutters Essen oder die gemeinsamen Session mit seiner ehemaligen Band nur getrübt genießen. Sein Meister und dessen Schnauzerei saßen ihm im Nacken.
Und auch der Blockunterricht auf der Berufsschule brachte ihn nicht im Geringsten weiter, da dieser in Stuttgart stattfand und er dort zwar neue und interessante Bekanntschaften knüpfen konnte, Leidensgenossen um sich hatte und sogar eine Neigung zum exakten Hören entwickelte und durchaus eine Begabung zum Intonieren vorweisen konnte, aber abends doch nur wieder stundenlang auf das Foto von ihr starrte, welches durch einen selbst gewerkelten Bilderrahmen umschlossen wurde.
Und so begann er, die feierabendlichen Biere mit seinem Meister zu genießen. Sie blieben von Tag zu Tag immer länger sitzen, fanden Gemeinsamkeiten und der Generationsunterschied zwischen ihnen verblasste und schien bald nicht mehr vorhanden. So langsam konnte der Lehrling Funken von Wahrheit in dem Geseier seines Meisters finden, wenn dieser das Leben periphrasierte. Er entwickelte ein sarkastisches Lachen, welches seiner Freundin Angst machte und begann zu Hause in ähnlichen Phrasen zu erzählen wie sein tagtäglicher Teilzeitvater.
Auch dieser war ja nicht ohne Grund Orgelbauer geworden. Auch er spielte Gitarre, hatte den Blues, wie er in einem Musikinstrumentenladen unter Beweis stellen konnte. Und so wurde er zum Lehrer und erreichte auch endlich das lange Zeit verschlossene Gehör des eifrigen Schülers.
Er musste nur hinhören! So schwer war es gar nicht. Bald konnte er einzelne Zungenpfeifen stimmen, bald ganze Register intonieren. Er wurde zu mehr als Tastenblei und auch die Montagen schienen mit Einbruch des Frühlings immer interessanter zu werden. Erst Polen, wo sie gemeinsam Zigaretten schmuggelten, dann das atemberaubende Nordkap, wo sie in der scheinbar ewigen Dunkelheit schwedisches Marihuana genossen, oder das Land der Geysire, wo sie die heißen Quellen bestaunten, dann England, wo sie sich durch sämtliche Pubs und Whiskeysorten tranken, bis hin zur Küste Frankreichs, wo sie sich in die Wellen warfen.
Der Schüler wuchs an sich selbst, lernte die Fremde zu lieben und entwickelte Identitäten, die es ihm ermöglichten, Kontakt mit Fremden aufzubauen. Was hatte er auch zu verlieren? Er konnte doch offen auf die Menschen zugehen, denn er würde sie ja nie wiedersehen. Inkognito war er Student, wenn er auf Unipartys ging, Austauschschüler aus Frankreich, wenn er in Kneipen war oder Orgelbauer, das war auch interessant genug. Bei Frauen konnte er sich Körbe einhandeln, denn seine Freunde erfuhren es ja nicht und seine Freundin schon gar nicht. Immer weniger telefonierte er mit ihr, ließ ihr Bild meistens in der Reisetasche und schaffte es manchmal sogar, fremde Frauen mit aufs Hotelzimmer zu nehmen. Unter den stolzen Augen seines Lehrers hatte er sich eine Sammlung an Damenunterwäsche angelegt.
Und auch den Nutten war er nicht mehr abgeneigt. Wie sagte sein Meister immer: „Auf älteren Gäulen lernt man das Reiten.“ Und sie beherrschten immerhin ihr Handwerk, fragten nicht nach Morgen und machten Dinge mit ihm, die ihm seine Freundin verweigert hätte. Er ließ sich die Haare schneiden, woraufhin ihm sein Vorbild zwei Prostituierte auf einmal spendierte, rasierte sich nicht mehr und begann sich in Weihwasserbecken die Hände zu waschen.
Es wurde Sommer und sie kassierten das Spesengeld für die Hotelzimmer, obwohl sie an abgelegenen Baggerseen zelteten, wo der Meister dem Schüler in langen Nächten Angeln, Skat und den Umgang mit Schusswaffen lehrte. Auch die rasanten Autobahnfahrten wurden für den Lehrling zur Sucht. Er genoss das Adrenalin, welches durch seine Venen schoss, wenn er mit zweihundertzwanzig Kilometern pro Stunde an den anderen Versagern vorbeibretterte.
Seine Heimat widerte ihn an, sie war langweilig. Auf der Abiturentlassungsfeier des Jahrgangs seiner Freundin prahlte er mit seinen Reisen, seinen neu erlangten Fähigkeiten, rümpfte die Nase über die ortsansässigen Kneipen und Diskotheken und über seine ehemalige Band, deren Klang Schmerz in seinen musikalischen Ohren verursachte. Er schwärmte von Geysiren, dem Nordkap und seinen neuen sexuellen Erfahrungen, verteilte zollfreie Zigaretten. Naiv war es zu denken, dass diese Prahlereien nicht auch in das Ohr seiner Freundin dringen würden, von der er sich immer mehr distanzierte, da die Gemeinsamkeiten schrumpften und er Dinge von ihr verlangte, die sie niemals schätzen lernen würde.
Was er zu schätzen lernte, war die Ästhetik der Kirchenbaukunst. Schon bald konnte er zwischen Barock und Gotik unterscheiden, erkannte überhöhte und gedrückte gotische Bögen und interessierte sich für die Dispositionen der Orgeln.
Mit stolzer und angetrunkener Brust lief er durchs Neuland, bellte Weibchen an und verspottete sie, wollten sie die Zweisamkeit mit ihm nicht. Zusammen mit seinem Arbeitskollegen, den er inzwischen duzte, klapperten sie die Jazzklubs der Montagestädte ab, waren zu einem Duo geworden, und wenn es nicht klang auf den „offenen Bühnen“, lag es ganz bestimmt nicht an ihnen, sondern an den untalentierten Schlagzeugern oder Bassisten, die den Blues nicht im Blut hatten und schon gar kein musikalisches Gehör besaßen.
Der Sommer blieb lang und intensiv und er verbrachte ihn größtenteils in Stuttgart, wo auch die am strengsten orthodox erzogenen Orgelbaulehrlinge ihre Freundinnen mit schwäbischen Friseurinnen, ostdeutschen Blasinstrumentenbauerinnen oder asiatischen Klavierbauerinnen betrogen, den Alkohol aus den Poren kotzten und bei den Essensschlachten im Jugendgästehaus mitmischten. Er lebte drei Monate lang mit zwei anderen Auszubildenden auf acht Quadratmeter Fläche und viel zu wenig Luft zum Atmen. Sie tauschten Musik und Drogen, wurden zu Tischfußball- und Tischtenniscracks, hatten den Blues und betäubten sich gemeinsam und gegenseitig.
Immer, wenn sie ihn anrief oder er sich dazu bequemte es zu tun, verstand er die Situation nicht, konnte nur lachen und grölen. Sie hörte die lasziven Ziegen im Hintergrund, die Stimmung einer Orgie gleich und wurde ständig zu anderen Mitbewohnern weitergereicht, die sie dann mit ekeligem Gelaber quälten, bis sie wieder ihren Liebling am Hörer hatte, der in einem Atemzug an der Bong zog sowie die drei Worte „ich liebe dich“ sagte. Sie klangen gleichgültig aus seinem Mund. Sie war nur noch ein Foto, mit dem er bei seinen Kollegen Eindruck schinden konnte. Wenn sie sich mal sahen, musste sie Verständnis für seine Bedürfnisse haben, sich anhören, wie schön es doch überall außer hier sei, und dass ihr Schatz plante ein Wandergeselle zu werden, wo er drei verteufelte Jahre seine Heimat und einen Radius von fünfzig Kilometern darum herum meiden und von Stadt zu Stadt ziehen musste. Aber wo war sie? Sie hatte im Genuss der Fremde wohl keinen Platz auserkoren bekommen. Sie traute sich nicht, dies zu erwähnen oder mit ihm darüber zu reden, da er so rabiat und egoistisch geworden war, dass sie seine Reaktion und seine Antwort fürchtete. Wo war ihr Gitarre spielender Träumer geblieben, der ihr nächtelang unnützes Zeugs über Bands und die weite Welt, irgendwelche Philosophien oder aus dem Tierreich erzählt hatte, wobei sie lediglich den sachten Klang seiner Stimme genoss? Diese Stimme klang nicht mehr aus ihm, sondern ein abgestumpfter Dämon musste sich seiner angenommen haben. Den so lang herbeigesehnten Sommer verbrachte er komplett in Stuttgart, fuhr mit ihr auf kein einziges Festival, wo sie so farbenfroh den letzten Sommer verbracht hatten.
Krampfhaft versuchte sie die schönen Momente mit ihm in Erinnerung zu behalten, sich Bilder von ihm aus einer vergessenen Zeit zu malen, in der sie zusammen überall hingegangen waren. Aber so sehr sie es auch versuchte, er war ein anderer Mensch geworden, der durch die Gleichgültigkeit und die Einfachheit lebte, sich überall so benehmen zu können, wie es ihm seine Laune gerade gewährte.
Unterdessen hatte ihr Freund, wo auch immer er sich zu diesem Zeitpunkt befinden mochte, seinen Urlaub eingereicht, freute sich auf Mutters Essen, gemeinsamen Session und den Geruch seiner Angebeteten, die er zuletzt ganz schön links liegen gelassen hatte, wie es ihm von den Leidensgenossen gesagt wurde, und fuhr direkt zu ihr, wo ihm allerdings von der Mutter gesagt wurde, dass sie nicht da sei und sie machte ein merkwürdiges Gesicht dabei, schloss ungeschwätzig schnell die Tür vor seiner verwunderten Nase.
Seine Freunde erzählten ihm, sie hätte jemand anderen gefunden, nicht hier aber nicht weit, nicht viel älter aber stationär. Und er sei selbst schuld dran, sie sei oft bei den Proben gewesen, hätte geweint und sei einfach schon lange nicht mehr das strahlende Mädchen gewesen, das auf dem Sofa im Proberaum stolz auf ihren Liebling wartete, unbeholfen zum Takt wippte und das Bier nicht mochte, aber trank.
„Soll sie doch gehen, diese Schlampe!“, schrie er. Ja, sie hatte erst ihren zweiten Freund, während er die Unterwäsche und die Nutten nicht mehr zählen konnte, aber sie war eine verdammte Schlampe. Was fiel ihr ein? Sie war sein Mädchen! Aber soll sie doch gehen!
Er hatte Jenny in Bremen, Jutta in Adelebsen, Franka in Berlin und er konnte geschichtenlang so weitermachen. Dann rief er sie alle an, hatte ja ihre Nummern gespeichert, wollte sich ja melden, hatte es ja geschworen. Irgendwo könnte er schon seinen Urlaub verbringen. Doch teilweise legten sie direkt auf, antworteten mit einem „ich hab einen Freund“ oder „ich dachte, es sei nur für eine Nacht gewesen“, teilweise wusste er nicht mehr, welchen Namen und welche Maske er den einzelnen Frauen vorgegaukelt hatte, oder musste sich erzürntes Fluchen gefallen lassen, bevor er sich sagen ließ, dass es jetzt ja auch zu spät sei.
So schnappte er sich seine Freunde und spendierte einen Ausflug nach Holland, redete allerdings nur von dieser Schlampe, und wie sie es nur hatte wagen können und dass er ihrem neuen Stecher eine verpassen werde, aber frag nicht nach Sonnenschein.
Festgefahren im Hass, wie er war, war es für seine genervten Freunde unmöglich ihm die Realität aufs Auge zu drücken, ihm zu sagen, dass es verdammt noch eins seine eigene Schuld war und ist und all das. Und er trank und rauchte und erzählte von Nutten und Schusswaffen und seine Freunde schämten sich seiner, gingen ohne ihn tanzen.
Ab und zu gelang es ihm, seine Ex-Freundin ans Telefon zu bekommen, sie zu beschimpfen und ihr von Jenny aus Bremen, Jutta aus Adelebsen und Franka aus Berlin zu erzählen. Dann schickte er ihr Bildmitteilungen, wo er und diese Frauen zu sehn waren. Sie sollte leiden, diese Schlampe!
Nach einer nervigen Woche Urlaub ging er endlich wieder auf „Tournee“, wie er und sein Kollege es nannten. Dieser sagte ihm: „Jawohl! Schlampen! Alle!“, gab ihm Bier aus und predigte, dass es immer so sein werde und dass die Welt und das Leben auch und schon lange ein Scheißhaufen seien und dass Frauen ja sowieso ...
Und da sah er in seinem Mentor wieder den frustrierten, fertigen alten Mann, den die Fremde zerstört hatte, da er seine Heimat nicht zu schätzen wusste, so wie er ihn schon einmal erkannt hatte, als er noch ein Junge war. Er hatte den Charakter von platt geregnetem Kot und die Ausstrahlung einer verdorrten Hecke und unser Held differenzierte sich wieder von ihm, hatte es insgeheim und unterbewusst ja schon immer getan und hörte wieder das Geseier und die Periphrasierungen in seinen spuckenden Reden. Er schloss sich ein im Hotelzimmer, trank alleine und mehr und wollte keine Nutte mehr auch nur sehen. Durchs Schlüsselloch versuchte sein Meister ihn immer noch in seine Grube zu ziehen, ein Tal, in das er niemals sinken wollte.
Intermezzo:
Um das nun entstandene Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer zu verdeutlichen, möchte ich gerne ein Intermezzo einfügen, welches der Geschichte Verlauf lediglich verdeutlichen soll. Dem angestrengten Leser, der das Ende vom Lied nicht abwarten kann oder gar genervt der Erzählung ist, sei geraten, hier zu überspringen und mit der Handlung fortzufahren.
Alle anderen bitte ich, sich einen spätwinterlichen Nadelwald vorzustellen, irgendwo in den unendlichen Weiten des wunderschönen Weserberglandes, wo sich das Duo aus Montagezwecken gerade herumtrieb. Sie zogen Beerlauch für Pasteten aus dem frischen Waldboden, denn es war Freitag und sie hatten noch etwas Zeit, da sie erst gegen vier Uhr am Betrieb eintreffen konnten. Der Ausbilder, welcher auch Hobbyjäger in den heimischen Wäldern war, und dies aus Gründen der Erhaltung des Gleichgewichts im Tierreich tat, pfiff den Auszubildenden dezent zu sich und zeigte ihm einen Kohlefuchs, der über die Lichtung stolzierte. Ja, ein Kohlefuchs. So hießen diese schwarzen Füchse laut Auskunft des anscheinenden Experten wohl und waren vorher weder vom Protagonisten dieser Geschichte noch vom hochehrwürdigen Erzähler selbst, meiner Person, jemals vorher gesehen. Auf Indianerfüßen lief der Wochenendjäger zum Wagen und holte seine Ausrüstung, bestehend aus einem Jagdgewehr.
Das Tier schien sich seiner sicher, kontrollierte den Frühlingsbeginn. Mit dem Hinweis darauf, dass Füchse neugierige Tiere seien, klatschte der Meister in die Hände. Der Fuchs steifte und horchte. Er sei zu neugierig zum Abhauen, erklärte der Täter und visierte seine Beute an, dessen Fell ihm Prestige im Jagdklub bringen würde.
„Weitaa!“, schrie da der Lehrling und das anmutige Tier verschwand im Wald.
Daraufhin entstand eine Diskussion über die Notwendigkeit des Tötens aufgrund der Erhaltung des Gleichgewichts im Tierreich und zog sich über mehrere Wochen, wobei die Standpunkte eindeutig waren.
Überall wo der Lehrling war, war er wieder fremd, denn er war ja nicht er selbst. Er war immer nur eine Teilzeitpersönlichkeit, die zwar charmant sein konnte, und somit auch Freunde zu sich ziehen konnte, um gemeinsam dem Alkohol zu frönen, aber nur kurz und nur zum Vergnügen.
Und diese Teilzeitbekanntschaften kannten den Menschen hinter der Maske nicht, hatten ihn nie gekannt, wussten nicht, wer er war, nur dass er für den heutigen Abend interessant sein könnte für eine Unterhaltung und dass er ja auch wieder gehen würde.
Also ging er nicht mehr aus, wurde blass, schwieg seinen Kollegen wieder an und isolierte sich wieder in seinen täglich wechselnden Gemächern.
Mehrere Flaschen Wein leerte er dort täglich, schrieb Gedichte an Wände und in ein kleines schwarzes Buch. Peter Mertens hatte einen Wein geschaffen, billiger als ein Liter Benzin und süffiger als Wildschweinkotze, aber genießbar für die brennende Seele.
Er musste den Anstrich der Zimmer bezahlen, kam zu spät zu den Orgeln und knallte, schwer wie Tastenblei, mit dem Kopf auf die Klaviaturen, bis er von seinem Partner schließlich zwei Wochen Zwangsurlaub aufgebrummt bekam, damit er sich wieder erholen, die Schlampe vergessen und sich wieder auf die Arbeit konzentrieren könne.
Doch auch in seiner Heimat war er ein Fremder. Seine Freundin hatte es allem Anschein nach geschafft ihn zu vergessen, seine Freunde mieden ihn und waren seiner Frustration überdrüssig und andere Mädchen erkannten in seinen Augen bereits früh den tiefen Welten- und Selbsthass, den eine ihrer Gattung verursacht haben musste, und dass sein Herz bereits auf dem Boden pumpte. Außerdem war er immer betrunken und notgeil, wie ein angeschossener Eber auf Viagra. Es war unmöglich, mit ihm auch nur übers Wetter zu reden, da er gleich wieder von der Schlampe und der dummen Welt erzählte und nach kaltem Rauch stank.
Natürlich fiel auch seinen Eltern seine zunehmende Depression auf, dafür musste man auch kein Diplompädagoge sein, und sie versuchten mit ihrem Sohn zu reden, ihn abzulenken oder zu analysieren. Aber der Zwangsbeurlaubte keifte und meckerte nur über das Essen und die Wohnung und warum er überhaupt noch zu Hause wohnen würde.
Die Ursache der Schmerzen war aus seinem Horizont verwischt, zu einer Erinnerung geschmolzen, nicht mehr der Rückhalt, wenn er die Welt eroberte, kein ewiger Zufluchtsort mehr, den er immer in petto hatte, wenn er sich ins Neuland begab.
Ob im Hotelzimmer, eingequetscht in den Orgeln, oder daheim bei Familie und Freunden: Er fühlte sich überall fremd.
Wie schrieb schon Nelly Sachs so treffend:
„Ein Fremder hat immer
seine Heimat im Arm
wie eine Waise
für die er vielleicht nichts
als ein Grab sucht.“
Auch er hätte seine Erinnerungen gerne ad acta gelegt, sie an einem geheimen Ort vergessen und vergraben, doch seine eigene Unvernunft steckte zu tief. Was war er doch für ein Trottel gewesen! Denn auch die Fremde und das Neue konnten so eintönig und farblos sein, wenn man heimatlos war.
In all den Schenken und Jazzbars musste er sich langsam aber sicher verloren haben, in jeder Nutte musste er, nicht nur biologisch, einen Teil Wert gelassen haben, in jeder Kirche ein bisschen Glaube, in jeder neuen Stadt einen Funken Heimat und in jeder Bekanntschaft ein wenig Stolz.
Fin