Der Panther und der Tiger
Ich wachte auf. Vollkommene Verwirrung ergriff mich. Mein erster Gedanke war:
Wo bin ich? Um mich herum ist Gras, sehr hohes Gras. Ich bin im Freien. Die ersten Sekunden bin ich unfähig mich zu bewegen.
Gestern...
Gestern war ich auf der Geburtstagsfeier meines besten Freundes. Er zählt jetzt zwanzig Jahre, genauso wie ich und da wir in München wohnen war das Bier nicht allzu knapp. Aber wie endete der Abend?
Ich fahre mit dem Oberkörper hoch und meine Fassungslosigkeit lässt sich nicht in Worten ausdrücken. Ich liege in einem Feld. In einem Feld??? Aber wo? Die Frage nach dem Warum stelle ich mir erst gar nicht. Besser nicht.
Ich könnte genauso fragen warum ich ein Tigerkostüm trage. Ich kann nicht mehr klar denken. Ich meine, selbst wenn alles normal wäre und ich in meinem Bett zuhause aufgewacht wäre könnte ich das nicht. Der Kater ist zu groß.
Aber wenn man mit Kopfschmerzen in einem Feld aufwacht und ein Tigerkostüm trägt, dann kann man keinen klaren Gedanken mehr fassen.
War der gestrige Abend wirklich so extrem? Ich hatte sehr viel getrunken. Zuviel. Wurde ich in ein Tigerkostüm gepresst und dann in das Feld gelegt? Lachten meine Freunde in der Nähe über mich? Oder war ich selbst in das Feld gegangen und meine Freunde waren ganz normal zuhause?
Wo war ich? Ich musste aufstehen. Ich erhob mich. Um mich herum war nur Feld. Ich war definitiv nicht mehr in der Nähe der Party. Es musste etwa Mittag sein. Überall waren nur Wiesen, und quer durch dieselben schlängelte sich eine Straße einen Hügel hinauf. Aber kein Haus, kein Auto – nichts. Kein Anzeichen auf menschliche Zivilisation. Wie – wie – Wie war ich nur hierher gekommen?
Aber meine Fassungslosigkeit schwand. Ich musste sie beiseite schieben, sonst hätte ich den ganzen Tag umhergestanden, mit offenem Mund, staunend und unfähig zu handeln.
Aber ich musste handeln. Der Mensch mag es nicht wenn er völlig frei im Raum schwebt. Man braucht Menschen wie seine Familie, seine Freunde. Oder einen Ort, eine Stadt, die einem bekannt vorkommt. Aber wenn man plötzlich in der freien Natur aufwacht und alles, was jemanden als Individuum bindet einfach verschwunden ist – und man in einer vollkommmen undefinierbaren Situation steckt...
Dann - das könnt ihr mir glauben - setzt Panik ein und ihr sucht instinktiv nach irgendetwas Vertrautem. Ich musste an das Lied „Ein Bett im Kornfeld“ denken und schmunzeln. DARAN dachte bestimmt niemand bei diesem Lied.
Also ging ich einfach mal in Richtung der Straße. Es dauerte eine Ewigkeit. Ich sah mich noch einmal um. Die Straße war nicht geteert, es war nur ein kleiner Weg mit vielen Schlaglöchern. Ich beschloss entlang in Richtung Hügel zu wandern um einen Überblick zu bekommen.
Oben angekommen – weit und breit kein Haus, kein Stomkasten – keine Leitung – einfach Nichts. Meine Fassungslosigkeit kam zurück und wollte mich lähmen, ich musste dagegen ankämpfen.
Weiter in der Ferne erblickte ich plötzlich etwas Bekanntes. Nun ja, es war zumindest ein Hinweis. Wie schon gesagt – man hält sich an allem fest, auch wenn es die kleinste Kleinigkeit ist. Eine Assoziation mit etwas Bekanntem.
Es war in einem Maisfeld. Einige Maispflanzen fehlten, was nicht weiter auffällig gewesen wäre.
Auffällig war die Form der Lücke. Es sah aus wie die Zahl 20.
Ich beschloss diesem winzigen Hinweis nachzugehen.
Während ich also abermals durch ein Feld in Richtung der 20 wanderte fragte ich mich was wohl jemand denken würde der mich jetzt sah.
Ein Mensch in einem Tigerkostüm, Mittags und mitten im Nirgendwo durch ein Feld wandernd. Ich wette das denjenigen ebenso die lähmende Fassungslosigkeit überkommen würde.
Aber ich musste weitergehen. Mein Kopf schmerzte und ich hätte mich am liebsten wieder schlafen gelegt. Aber ich konnte diese Situation nicht ertragen. Ich musste herausfinden was passiert war. Das letzte, an das ich mich erinnern konnte war dass wir „Fenster-Baum“ gespielt hatten.
Dabei sagt jemand einen Begriff und der andere muss irgendeine Assoziation dazu nennen. Zum Beispiel Telefon -> Reden -> Politiker und so weiter. Es darf aber nichts vorkommen was mit Wasser in Verbindung gebracht wird. Oder mit Holz. Somit geht „Glas“ zum Beispiel nicht. Denn dort kann man bekanntlich Wasser einfüllen. Man darf nicht nachfragen welcher Begriff gesagt wurde – wenn man nicht aufpasst hat man Pech gehabt. Und der andere darf den Begriff daraufhin natürlich auch nicht wiederholen. Floskeln wie „Was“ „Hm“ oder „Häh“ sind verboten und man darf sich nicht beim Namen nennen. Sonst muss man trinken. Und es ist ein schweres Spiel, je betrunkener man wird, desto schwieriger.
Für mich war es zum Schluss unmöglich zu spielen. Das ist das letzte was ich weiß.
Plötzlich erkannte ich einen großen schwarzen Gegenstand, der in der Nähe des Maisfeldes lag. Ich ging auf ihn zu und erkannte etwas Fellähnliches. Es war ein Pantherkostüm. Und es schnarchte sehr laut. Sofort drehte ich den Panther um. Es war mein bester Freund. Er hatte eine Machete in der Hand. Daraus konnte ich schließen das er wohl die 20 vollendet hatte – oder es hatte ihm jemand nach begangener Tat in die Hand gelegt.
Ich weckte ihn unsanft. Den Blick, den er hatte kannte ich nur zu gut. So ähnlich musste ich einige Minuten zuvor ausgesehen haben. Nur wurde ich nicht von einem Tiger geweckt und hatte keine Machete in der Hand. Er sah erst mich an und dann die Machete und auf seinem Gesicht spiegelte sich blankes Entsetzen wieder.
„Alles in Ordnung? Was ist los?“ fragte ich ihn, aber ich wusste dass es der falsche Moment war und bereute die Frage schon. Er antwortete mir mit glucksenden Lauten, unfähig sich auszudrücken.
Ich hörte Motorengeräusche. Instinktiv verlies ich meinen Panther-Freund und rannte zur Straße. Tatsächlich war ein Traktor auf der Straße gekommen. Ich lief ihm entgegen. Der Bauer darin sah mich mit der schon beschriebenen Fassungslosigkeit an. Wenn man an seinem Feld entlangfährt und plötzlich springt jemand in einem Tigerkostüm aus dem Feld hervor, wild gestikulierend – was denkt man da?
Er sah mich an – sah zum Feld – und mit einem hatte ich nicht gerechnet. Er sah die Lücke, die in sein Feld geschnitten wurde.
Mit einem Mal wurde er für mich vom Retter zum Richter. Seine Miene verzog sich zu einer bösen Fratze und er hielt an. Ich stand direkt vor ihm. Auf einmal wusste ich, dass ich ihm nichts erklären wollte. Er griff hinter sich und holte eine Flinte heraus.
Panikartig rannte ich los. Ich verhielt mich nun wahrhaftig wie ein Tiger – unfähig zu denken und instinktgesteuert.
Ich lief zurück ins Feld. Der Panther lag immer noch am Boden und sah sehr hilflos aus. Ich packte ihn und zog ihn hoch.
„Wir müssen weg!“ Er weigerte sich, war unfähig sich zu bewegen.
Auf einmal pfeifte ein Schuss durch die Luft. Damit hatte ich ihn überredet. Wir nahmen unsere Pfoten in die Hand und liefen immer weiter in das Feld hinein. Wir hörten den Bauern noch einige Zeit laut fluchend hinterherlaufen und in die Luft schießen, aber irgendwann gab er wohl auf.
Wir verlangsamten unser Tempo und irgendwann irrten wir durch die Felder bis wir ein Dorf in der Nähe sahen.
Mein Freund konnte sich an so wenig erinnern wie ich. Wir rätselten noch lange und fanden uns dann damit ab, dass es keine Erklärung gab. Wo wir die Kostüme her hatten – das wissen wir bis heute nicht. Und wie wir uns in diesem Aufzug siebzig Kilometer von München entfernen konnten – ebenfalls nicht.
Auch niemand anderes hat eine Erklärung. Als der letzte die Party verlassen hatte waren wir noch da und danach weiß nur Gott was wir getan haben.
Die Machete hängt heute im Zimmer meines Freundes als Mahnmal nie wieder so viel zu trinken. Dieses Versprechen haben wir natürlich nicht lange einhalten können. Aber so etwas wird nie wieder passieren. Hoffentlich. Allerdings – wo gehobelt wird da fallen Späne.