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Der Patient
#1 Der Moment
Also, es ist ja so, dass ich diesen Wunsch hatte sie heute abend zu treffen und nun ja... ich rief sie an und fragte sie was sie tue und was sie vorhabe und aus ihren Antworten heraus, denn sie läge im Bett... ach Mist, ich hätte wohl erwähnen sollen, dass es Sonntag und schon gegen Sieben am Abend war, als ich mich überhaupt erst überwunden hatte anzurufen und sie hatte wohl Kopfschmerzen vom Vorabend... auf jeden Fall, aus ihren Antworten heraus entstand eine schreckliche Unsicherheit und so fragte ich sie gar nicht direkt ob wir uns vielleicht treffen wollten, sondern erwähnte nur nebenbei, da ich die Antwort ja jetzt eh wusste und vermutlich auch schon vorher gewusst hatte, dass ich eigentlich Lust gehabt hätte etwas mit ihr zu unternehmen, also an eben diesem Abend und dann sagte sie: „Ach so. Ja, nee... Ich will auch früh ins Bett.“ Das war dann genug um wieder über mein Problem nachzudenken und das war dann auch der Moment in dem das alles wieder sehr real wurde, sehr konkret, ja und auch greifbar.
Eigentlich, wenn ich jetzt so darüber nachdenke, müsste man es wohl ehr so beschreiben, dass es nach mir griff, dass es der Moment war in dem ich von meinem Problem sehr ergriffen, sehr bewusst, diese Formen der unendlichen Verzweiflung und... und... jetzt hab ich vergessen was ich sagen wollte. Ich hatte einen sehr befriedigenden Begriff um diesen Moment endlich zu umschreiben. Aber vielleicht ist auch gerade, dass das Problem! Vielleicht sollte ich aufhören ihn umschreiben zu wollen, vielleicht sollte ich, nein, müsste ich aufhören diesen Moment so endlich in mich aufzunehmen und zu versuchen ihn mir Selbst zu erklären. Vielleicht würde dies nur bewirken, dass er vollends mein Denken beeinflussen könne und seine Aussage so, für mich, unwiderruflich wäre. Etwa so, als würde man als kleines Kind endlich verstehen, dass es schmerzhaft ist auf eine heiße Herdplatte zu fassen und mit Sicherheit wird man es nie wieder tun. Sicherlich, diese Lektion ist weitaus schwieriger zu lernen aber würde ich endlich verstehen, dass jener Moment... wie soll ich sagen? Das er den unvermeidlichen Schmerz in sich trägt, den der verirrte oder auch verwirrte Liebende, unumgänglich zu fühlen hat, dann würden doch alle Mädchen zu Herdplatten und nun ja...
Jetzt bin ich aber wieder bei meinem Problem! Verstehen sie? Hier wäre ich doch wieder ganz zwangsläufig bei meinem Problem und dann sehe ich mich wieder auf der Autobahnbrücke und dann schaue ich wieder, nicht in die Nacht, nein, auf die Lastwagen, die nach Holland fahren, oder aus Holland kommen und meinetwegen auch wieder dahin zurückfahren aber... verstehen sie? Es ist gut, dass ich vergessen habe wie ich jenen Moment umschreiben wollte, denn sonst... genau!
#2 Die Schlaflosigkeit
Ich wünsche mir irgendwie, dass sie mich jetzt anruft!
Ich wünsche mir, dass sie in ihrem Bett liegt und vielleicht nicht schlafen kann und dass sie... ja, mich anruft.
Wenn ich jetzt daran denke, wie wir vorhin telefonierten, wie bewusst niedergeschlagen ich „Tschüß“ gesagt hatte, ja da wünsch ich mir einfach, dass sie...
Ich mein, sie weiß ja, dass es mir nicht gut geht. Ich habe es ihr ja gesagt und sie hat gefragt was denn los sei und ich sagte, ich wüsste es nicht genau, ich sei halt deprimiert und das weiß sie ja jetzt.
Könnte es sein, dass sie gerade wach liegt?
Könnte es sein. Dass sie nicht schlafen kann? Und könnte es vielleicht sogar so sein, dass sie nicht schlafen kann, weil sie weiß, dass ich mich schrecklich fühle?
Sie weiß doch wie glücklich sie mich machen könnte... gerade liegt sie wach und denkt daran wie ich wach liege und dann ruft sie mich jetzt wohl gleich an...
#3 Das Problem
Was mein Problem ist? Nun ja, dass ist nicht so ganz einfach zu erklären... also ganz lapidar gesagt ist mein Problem, dass ich befürchte sterben zu wollen. Sehen sie es ist nämlich so: Ich denke es gibt nicht vieles für das es sich zu leben lohnt um nicht zu sagen, es gibt gar nichts, also für mich.
Verstehen sie mich da bloß nicht falsch, wenn sie jetzt zum Beispiel sagen würden, sie lebten für ihren Beruf oder so etwas, dann würde ich dass natürlich akzeptieren können, ja auch wohl verstehen, wenn mit dem Verstehen nicht Nachvollziehen gemeint ist. Würden Sie das so sagen wäre es okay für mich aber selbst so etwas behaupten? Also nein, so etwas würden sie nie aus meinem Mund hören und ja, das hat auch einen Grund. Wie soll man das beschreiben...
Also, ich als Mensch habe meinen Körper und meine Gedanken, mache mir meinen Charakter und meine Meinungen und ich als Mensch habe Sachen, die mir wichtig sind... nein, eben nicht! Der Mensch hat halt Sachen, die ihm wichtig sind. Er hat Menschen und er hat Dinge, Erb oder Erinnerungsstücke, banales wie einen Ring oder eine Kette oder weiß der Geier und er liebt diese Dinge. Und er hat auch sich selbst. Ja, er hat sich selbst und er liebt sich. Er hat seinen Körper und seinen Charakter und seine Gedanken, mit seinen Idealen und er glaubt daran und er denkt, das alles sei es wert... nun ja, mein Problem ist, dass ich das zwar auch alles habe, wie schon gesagt... zum Beispiel meinen Körper, diesen schrecklichen dürren Körper, mit den langen Gliedern, mit den stelzenartigen Beinen, die mich unsicher durch die Welt balancieren. Dieser schmächtige Oberkörper, mit dem Rücken, so gequält vom gesenkten Kopf, dass er nicht gerade zu tragen ist und dann dieses Gesicht, diese riesige Nase und die getrübten Augen, die schon jetzt, in so jungen Jahren, nichts mehr scharf erkennen können. Die rieseigen Ohren und die schlechten Zähne, nein, dieser Körper ist so gar nicht liebenswert. Ich verabscheue ihn allerdings auch nicht. Sage ich, dass die Nase sei zu groß und der Rücken zu krumm, so ist das nur eine objektive Beurteilung, in etwa sowie ein realistisches Selbstporträt. Mein Körper ist halt da aber eigentlich ist er mir egal.
Dagegen hat mein zweifelhafter Charakter einen ganz anderen Einfluss auf mich. Ich bin faul. Und ich bin arrogant, respektlos. Ich bin melodramatisch und ich bin laut. Ich merke wie ich anderen Menschen und sogar meinen Freunden auf die Nerven falle... ich werde unsicher und übertrieben melancholisch... ich brauche es, dass jemand kommt und fragt ob etwas mit mir nicht stimme. Ich sage „alles okay.“ Ich lüge. Ich spinne, spiele. Ich hasse meinen Charakter. Ich hasse es, wenn ich mich dabei ertappe eben jenes Gesicht an den Tag zu legen, das ich selbst für das verlogenste, für das... verstehen sie? Sicherlich, ich habe auch meine Ideale und ich stehe für sie ein, ich bin überzeugt, die Welt sei eine Bessere, dächten mehrere sowie ich aber ist es nicht einfach deprimierend? Jeder glaubt das doch, irgendwie. Es ist doch die Natur der Sache zu streiten und zu debattieren und es führt doch zu nichts. Ich mein... ich werde doch kein Teil einer sozialistischen Revolution mehr und sowieso, will ich das überhaupt? Will ich dafür am Leben bleiben? Amüsant...
Mein Problem ist der ganze Kram mit den Menschen und den Dingen. Es ist alles so banal, es dringt nicht zu mir durch. Wenn ich so darüber nachdenke, fällt mir nicht ein Gegenstand ein, über dessen Verlust ich nicht ohne überwiegende Ahnteilnahmslosigkeit hinwegsehen könnte. Ich nehme an meinem eigenen Leben kein Anteil... ja, genau wie mit dem Leben von anderen Menschen. Diese Dinge, ich verbinde sie mit keinen Menschen. Und das, obwohl es schon vieles gibt, was ich aus geteilten Zeiten hier rumfliegen habe... aber es ist irgendwie doch noch anders, viel einfacher. Alles was ich gerade sagte, ist glaub ich nur Abwehr gegen das eigentliche Problem... mein Problem ist, glaube ich... ich befürchte sterben zu wollen, denn ich halte mich für wertlos! Ja genau! Es scheint so als würde mich diese ganze Stadt als wertlos betrachten. Und ich... ich gebe ihnen recht. Ich als Mensch habe einen Haufen Eigenschaften, den ich nicht gebrauchen kann, denn ich kann niemandem wichtig sein. Ich bin wertlos. Wissen sie, ich glaube ich will nur irgendjemandem wichtig sein...
#4 Das Mädchen
Dieses Mädchen... es ist alles wie ein Prozess, der allmählich seinem Ende entgegen läuft und jetzt bin ich kurz vor dem Zenit. Ich bin kurz vor diesem Punkt am Berg, an dem nicht mehr genug Sauerstoff in der Luft ist, an dem du atmen und atmen kannst und trotzdem einfach ohnmächtig zu Boden fällst. Dieses Mädchen, sie ist einfach... die ganze Geschichte zwischen ihr und mir... es ist so bilderbuchmäßig, es ist einfach so perfekt um mein Problem zu beschreiben... wissen sie, es ging mir schon einmal ganz ähnlich. Da war eine, die ich liebte, die mich belog und betrog. Aber das tut ja eigentlich auch gar nichts zur Sache... doch natürlich tut es was zur Sache aber das wäre zu viel... sie kam also in mein Leben, sie war eigentlich schon lange da gewesen aber unbemerkt. Und dann auf einmal wusste ich... ich war verzweifelt, betrunken und todesmutig, ich war da, wo der Sauerstoff langsam knapp wird und dann viel mir niemand anderes ein als ihr und dann rief ich sie an... es gab und es gibt auch heute keinen anderen. Wissen sie, sie hat mich in einer Nacht, in einem Telefongespräch gerettet und was es jetzt noch viel perfekter macht: Sie weiß es nicht einmal. Sie hat keinen blassen Schimmer, aus was sie mich herausholte als sie mir ihre Lippen auf den Mund legte und mich aus jeder ihrer Poren den Sauerstoff inhalieren ließ, ich inhalierte sie! Durch meinen Mund, meine Nase, durch meine Augen und Ohren nahm ich sie in mich auf und ist es nicht verrückt? Seither denke ich an sie als einziges kleines Etwas auf diesem endlos riesigen Planeten, dass das hier alles wert macht.
Und sie? Sie ist wahrscheinlich dankbar, dass sie irgendwen hat, den sie manchmal anrufen kann, ihm zu sagen, wie sie jenen Typen hasst und diesen schrecklich liebt und dabei nicht im geringsten bemerkt wie sie mich in ein grausames Wechselbad stürzt. Ich höre es mir an und bin so in Trance, so machtlos gegenüber meinen Reaktionen. Hoffnung. Verzweiflung. Hoffnung, trostlos. Die ganze Zeit ist sie hinter Wertschätzung her und die ganze Zeit wird sie verletzt und enttäuscht und ich stehe da, mit meinem Herzen in der Hand und frage mich warum sie mich so links liegen lässt, warum sie meine ausgestreckte Hand so ins Leere greifen lässt... ach egal! Alles egal! Kann es ja eh ausführen wie ich will. Das Problem bleibt das Problem und dass heißt, ich bin ohne Wert... ich bin ohne Wert für sie und damit für alles, was mich interessiert.
#5 Die Lösung
Seit drei Nächten warte ich jetzt darauf, dass sie mich anruft. Ich liege die ganze Zeit wach und denke über die Sachen nach, die ich ihnen in den letzten Tagen anvertraut habe und ich frage mich ob es irgendein Unterschied gemacht hätte, ihr oder mein eigener Patient zu sein. Hätte ich nicht auch einfach vor drei Nächten mich mit einer Packung Zigaretten und einem Notizbuch an meinen Schreibtisch setzen können? Ich habe mich doch mit der Situation auseinandergesetzt, mir den Spiegel vorgehalten, versucht es zu verstehen... und jetzt?
Wenn sie hier so sitzen und nicken und notieren und dann am Ende rationalisieren und abstrahieren, dann macht es mich nur noch wütender... ist mein eigenes Schicksal etwa nicht mehr als ein Fallbeispiel? Und sowieso... angerufen hat sie mich doch trotzdem nicht.
Ich denke, sie sehen nicht die Ernsthaftigkeit dieser Situation. Sie ist ja nicht etwa nur irgendein Aspekt meines Lebens, den ich ausklammern kann indem ich andere Aspekte vorschiebe. Sie ist alles! Sie steckt in jedem Gedanken den ich fasse! Sie ist alles was ich sehe, höre, rieche. Sie ist in allem was ich schmecke. Jeder Zug der Zigarette... es ist als küsste ich sie wieder... und sie wagen es mich zu ermahnen, ich rauchte zu viel. Verstehen sie es?
Ich war im Kino und ich habe kein Wort verstanden und die Bilder haben im Zusammenhang kein Sinn gemacht. Es lief an mir vorbei und es schien als säße sie neben mir, als würde ihr Geruch und ihre Silhouette im schummrig reflektierten Licht der Leinwand mein Bewusstsein voll und ganz belagern! Keine Chance für äußere Reize... wissen sie, es betäubt mich... nein! Es ergreift mich! Ich bin besessen von ihrer Abwesenheit. Nein, sie ist nicht da. Sie ruft nicht an. Sie kommt nicht vorbei. Sie weiß nicht wie ich mich fühle. Ich habe es ihr doch gesagt. Drei Nächte. Ich warte und warte und verliere mich in melancholischen Träumereien. Sie liegt in meinem Bett. Ich spüre ihre Wärme. Mach die Augen auf. Schau sie an. Sie ist schön. Ihre Hand streicht meine Haare hinter das Ohr. Sie legt die Hand auf mein Gesicht. Ich spüre die Wärme. Sie durchflutet mich. Ich inhaliere. Das Problem? Ein letztes Mal erinnert. Ihre Wärme, sie füllt meinen Körper. Leben. Sie zieht mich zu sich. Ihr Atem macht es so real. So echt. Ergriffen. Ihre Lippen. Sie drückt sie mir auf...
„Hier oben ist die Luft zu dünn zum überleben.“
Die dritte Nacht ist beinahe vorbei und ich liege allein in meinem Bett. Sie ruft nicht an. Sie hat keine Ahnung wie es mir geht. Sie schläft. Ich zieh mir eine Hose und Schuhe an, nehme die letzte Zigarette aus der Schachtel. Ich gehe raus ins Dunkle und schmecke ihre Lippen. Ich weiß nicht wo ich hin will. Ich habe ein Problem... Es ist eine Befürchtung... ich bleibe lieber fern von Autobahnbrücken.