Der Pessimist
Der Pessimist
Licht.
Montagmorgen. Wieder einmal Wochenbeginn. An diesem Tag ist einfach nichts Gutes dran. Man muss wieder arbeiten gehen, die nervigen Gesichter der Kollegen anschauen, für den kleinen Hungerslohn, den man Ende des Monats zugestellt bekommt.
Der Pessimist setzte sich ins Auto, um zur Arbeit zu fahren. Das Auto sprang nicht an; wohl kein Benzin mehr. Er hätte am Wochenende doch wieder mal auftanken sollen. Aber bei diesen Preisen... viel zu teuer. Zündkerzen bräuchte der Wagen auch wieder mal neue – aber die Servicekosten stiegen ins Astronomische. Die fänden doch nur wieder irgendwelche irrelevanten Schäden, welche sie einem dann zum unfairen Preis auf die Rechnung klatschen würden.
Der Pessimist stieg aus dem Auto. Er musste wohl oder übel zu Fuss gehen. Es war kein weiter Weg zu seinem Arbeitsplatz.
Der Pessimist lief am örtlichen Kiosk vorbei. Er hätte sich gerne eine Packung Kaugummi gekauft; einen "Freshmaker" – wenn da bloss nicht so ein alter Knacker vor der Kasse stünde, der die Verkäuferin von der Arbeit ablenkt, indem er sie halb zu Tode labert mit seinen langweiligen Alltagsgeschichten. Und wenn der Pessimist dann auch noch mit nur einer Packung Kaugummi an die Theke gegangen wäre, hätten sie ihn sowieso nur dumm angeschaut und danach über ihn gelästert. Also liess er es sein.
Der Bahnübergang. Die Bahnschranken waren unten – wieder einmal. Wieso mussten diese Bahnlinien auch quer durch das ganze Land gezogen werden? Die könnten doch wieder vermehrt Busse einführen, dann wären diese verdammten Schranken nicht immer unten.
Aber die Busse würden wohl auch mehr Stau verursachen, als dass sie die Leute pünktlich an ihren Zielort brächten. Es schien ihm, als gäbe es in dieser Welt für nichts eine Lösung. Und deswegen quälte er sich jeden Tag seines Lebens. Alles Negative der Erde schien ihn zu verfolgen. Aber was hatte er denn falsch gemacht, dass alle gegen ihn waren? An ihm würde es sicher nicht liegen – nein, ganz bestimmt nicht! Er wäre der einzige, der alles richtig gemacht hätte, dachte er zu sich selbst, während er weiterging.
Er blieb stehen. Jugendliche. Herumlungerndes Pack. Sie erlauben sich einfach alles, machen sich über andere lustig, gehen nicht arbeiten, saufen sich voll... Er wollte nicht an ihnen vorbeigehen, obwohl es der kürzeste Weg war. Aber sicher ist sicher. Lieber einen Umweg gehen, als sich von solchen Schnöseln noch ausrauben zu lassen.
Also ging er durch die engen, menschenleeren Strassen, am plätschernden Bächlein vorbei, das sich durch einen engen Graben schlängelte und wie ein Rubin in der Sonne glitzerte.
Links von ihm befand sich eine grosse, unebene Wiese. Es duftete nach feuchtem, frischem Gras, das sich vom Morgenwind leicht hin- und hertreiben liess. Auf der geraden Fläche der Wiese waren zwei Häuser ausgesteckt. Zum Teufel; diese elenden geldgeilen Architekten verdrängten die Natur auf ihr absolutes Minimum. Die müssten doch wirklich aus jedem Dorf eine verdammte Stadt machen. Nur dann wären sie zufrieden. Früher war noch alles anders. Er konnte nicht verstehen, wieso die Welt nicht mehr wie früher war, und das machte ihn noch wütender.
Am Strassenrand lag – wie er befürchtet hatte – ein Hundehaufen. Nicht einmal sechs Meter hinter ihm hatte er vorhin einen Kasten mit Plastiktütchen vernommen, der zum Entsorgen genau solcher Abfälle dort stand. Vermutlich war der Besitzer des Hundes einfach zu faul, sich für ein paar Sekunden seines Lebens der Sauberkeit des Dorfes zu widmen. Das war bestimmt irgendein voll gefressener Strumpf, dessen einziger Freund sein stinkender Hund ist.
Der Pessimist schaute nach hinten, während er weiterlief. Es waren vermutlich nicht einmal sechs Meter gewesen, dachte er... und schon fiel er zu Boden, inmitten einen Haufen voll von Scherben. Das Glas schnitt sich sofort tief in seine Hände. Fürchterliche Schmerzen überkamen ihn.
Er drehte seinen Kopf um: Er war über ein öliges Mofa-Rad gestolpert, das inmitten der kleinen Strasse vor sich hin gammelte. Vom Mofa selbst fehlte jede Spur.
Das war zuviel für ihn. Jetzt platzte das Fass seiner angestauten Wut in ihm. Diese dummen Menschen werfen ihren Müll einfach auf die Strasse, statt ihn ordnungsgemäss zu entsorgen. Besoffene Jugendliche zerschmettern die leeren Flaschen ihrer alkoholischen Wunderdroge auf dem harten Teer und brüllen dabei unkontrolliert in die Nacht. Und die alten Knacker haben nichts besseres zu tun, als mit irgendwelchen drittklassigen Weibern Blödsinn zu quatschen.
Blut trat nun aus den Wunden seiner Hände. Knurrend erhob er sich und begann, mit seinen Füssen so fest er konnte gegen eine Strassenlaterne zu treten.
„Verfluchte Welt, verfluchte Menschheit! Wieso immer ich? Verdammt noch mal!“, schrie er mit aller Kraft in den sonnigen Morgen hinaus.
Immer heftiger trat er gegen die Metallstange der Laterne, immer grösser wurde sein Zorn. Je mehr er nachdachte, desto stärker wurden seine Tritte. Er setzte noch einmal deftig gegen die Stange – und da löste sich die gesamte Lampe von der Fassung und stürzte auf seinen Kopf nieder.
Dunkelheit.
5.3.05 - 6.3.05
by Kim Rosen