Mitglied
- Beitritt
- 07.11.2003
- Beiträge
- 148
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der Pfleger
In unserer heutigen Zeit gerät das Brauchtum zusehends in Vergessenheit. Dabei sind es gerade die alten Bräuche und Riten, die einen aufschlussreichen Bogen von der Vergangenheit bis hin zur Gegenwart schlagen. Ebo Salinger ist so ein Mensch, der noch Zeit in die Pflege solcher alten Werte investiert …
Ebo befand sich inmitten der großen Hochzeitsgesellschaft und war bester Laune. Was konnte es für einen Menschen, der das Brauchtum liebte Schöneres geben, als dabei zu sein, wenn zwei Menschen dem schönsten aller Bräuche huldigten, und sich ewige Treue schworen.
Ebo stand neben Onkel Willhelm und ließ sich von diesem die Börsensituation erklären. Dieser hatte sich einst durch die Dauerberieselung eines Werbespots, vorgetragen von der Elite deutscher Volksschauspieler, für die Wertpapiere eines bekannten Telekommunikationsunternehmens begeistern lassen. Erst nachdem die Aktien ins Nirwana gefallen und ein wesentlicher Teil des Ersparten verloren gegangen war, hatte Willhelm erkannt, dass im Zoo der Börse nicht nur Bullen, sondern auch Bären zuhause waren. Seitdem erzählte er jedem, der es wissen wollte oder auch nicht, seine Leidensgeschichte der wundersamen Geldvernichtung und bestimmten Folterpraktiken, die er einzelnen Leuten im Vorstand gerne hätte angedeihen lassen.
Nachdem Ebo Salinger den Vortrag mit gespielter Aufmerksamkeit verfolgt hatte, wandte er sich an Tante Gertrud. Sie hatte mit der Welt der Hochfinanz weniger im Sinn, sondern fühlte sich eher der Esoterik verpflichtet. Sie erzählte Ebo von ihrer neuen Wohnungseinrichtung, welche sie mit Hilfe eines Feng Shui Beraters vollkommen neu gestaltet hatte. Die Energie des Raumes konnte jetzt ungeniert und in allen Ebenen fließen. Durch eine notwendige Drehung und Ausrichtung des Bettes war es ihr nun auch möglich, direkt ins Schlafzimmer der Nachbarn zu schauen, und sie selbst, mit einem schmachtenden Blick an Ebo gerichtet, »… lebe doch schon so lange allein«. Spätestens hier erkannte Ebo, dass es wieder an der Zeit war die Konversation zu beenden und sich anderem zuzuwenden.
Ebo Salinger blickte mit einem Lächeln in die umtriebige Menge. Abgesehen von der Geburt des eigenen Kindes, gab es im Leben einer Frau wohl kaum ein Ereignis, das einen ähnlichen Stress hervorrief. Alles musste an einem solchen Tag perfekt organisiert sein. Das Brautkleid musste sitzen, der Champagner sollte spritzen. Die quenglige Verwandtschaft musste unter einen Hut gebracht und die Gäste versorgt werden. Die Kapelle hatte gefälligst für Stimmung zu sorgen und der Meute das richtige Taktgefühl beizubringen. Dann, am Ende des langen Tages, sollte der Bräutigam auch noch über eine gewisse Standhaftigkeit verfügen, da sonst Gefahr bestand, dass die einzigartige Hochzeitsnacht womöglich als trauriger Durchhänger in die erotischen Analen des Paares einging.
Doch eine große Hochzeitsgesellschaft barg das Risiko, dass gewisse Dinge drohten, etwas aus dem Ruder zu laufen. So gab sich die Band alle erdenkliche Mühe, doch so richtige Stimmung wollte einfach nicht aufkommen. Ebo hatte eine Vermutung und wollte sich diese nur allzu gerne von der Braut bestätigen lassen. Er wartete einen günstigen Augenblick ab, in welchem Barbara etwas abseits stand, wohl um für ein paar Minuten durchzuatmen, und nutzte die Chance.
Ebo gab sich als entfernter Verwandter des Bräutigams zu erkennen, und nach wenigen Sätzen funkten er und »Babs« bereits auf derselben Wellenlänge. Ebo erzählte von dem Finanzgenie Willhelm und der plumpen Anmache von Tante Trude. Auch Babs amüsierte sich köstlich über die seltsame Verwandtschaft ihres Gatten. Es war eine Gabe von Ebo, dass Menschen sehr schnell vertrauen zu ihm fanden und so plapperte Babs bald munter drauf los. Es war so, wie Ebo bereits vermutet hatte. Eigentlich hätte sie viel lieber in etwas kleinerem Kreis mit guten Freunden gefeiert, doch ihr Mann, Robert, oder besser gesagt, die Schwiegermutter, bestand auf einer großen Gesellschaft. Robert war ein netter junger Mann. Ein pflegeleichter und charmanter Yuppie, jedoch ohne viel Rückgrat. Roberts Mutter und Babs standen von Anfang an auf Kriegsfuß. Babs schien wohl den hohen Ansprüchen von Roberts Mutter nicht gerecht zu werden. Zu Beginn der Beziehung hatte sie Babs sogar einmal als billiges Flittchen bezeichnet, nur weil sie ihre Reize in Szene zu setzen wusste, und Roberts Vater einmal für einen Augenblick zu lange auf ihr üppiges Dekoltee geblickt hatte. So eine Beschimpfung vergaß eine Frau natürlich nicht so schnell. Da auch Robertos Vater kaum Widerworte wagte, erkannte Babs schnell, woher die leicht devote Ader ihres frisch Angetrauten herstammte.
Durch die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse war so schnell eine Riesengesellschaft entstanden. Hätte man weniger eingeladen, wären einzelne Verwandten sicher beleidigt gewesen. Auch der hohe Altersdurchschnitt trug zu der etwas trägen Festgesellschaft bei. So konnte auch die Band, welche in diesem Moment den Song »A little less conversation« von Elvis anstimmte, wobei der Titel hier durchaus einen Sinn ergab, nichts mehr retten.
Ebo wollte der Braut helfen und weihte sie in seinen Plan ein. Babs war sofort hellauf begeistert. Erstens würde durch diesen lustigen Brauch etwas Leben in die langweilige Runde kommen, und zweitens konnte sie auf diesem Weg ihrem lieben Roberto einen kleinen Denkzettel verpassen. Schließlich sollte er sich nicht ständig von seiner Mutter herumkommandieren lassen. Ebo war froh, Babs helfen zu können, und nach kurzer Absprache verließen die beiden erst getrennt das Lokal, um sich dann draußen zum lustigen Schabernack wieder zu treffen …
So wurde es doch noch ein recht amüsanter Abend. Nach einiger Zeit kam richtig Leben in die langweilige Truppe. Es war eine kleine Scharade geplant, bei der die Braut überrascht werden sollte. Robert schritt leicht genervt umher und erkundigte sich nach dem Verbleib von Babs.
Doch die Braut blieb unauffindbar. Nach zehn Minuten entschloss sich Roberts Mutter, die Sache selbst in die Hand zu nehmen.
Zuerst stampfte sie in Richtung der Damentoiletten. Vermutlich hoffte sie, dort die ungeliebte Schwiegertochter in flagranti mit einem Gast zu überraschen. Doch als sie wenig später wieder in Erscheinung trat, zeugte ihr enttäuschter Gesichtsausdruck davon, dass sie sich wohl noch eine ganze Weile mit dem »ordinären Weib« werde herumärgern müssen. Auch andere Teile des Lokals wurden von der selbsternannten Walküre nun unter die Lupe genommen; doch die Braut blieb verschwunden.
Robert entschloss sich indessen zu einer Durchsage über das Mikro der Band. Halb im Spaß, doch mit deutlich angespannter Miene, fragte er in die gesellige Runde, ob denn jemand die Braut gesehen hätte. Ein Johlen ging durch das Publikum. Freunde, die schon etwas zu tief ins Glas geschaut hatte, grölten ihm zu: »Na, die ist dir wohl schon weggelaufen?« Robert versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen und lächelte gequält. Da schrie plötzlich einer aus der Menge: »Hey, wer hat die Braut entführt?«
Na also, dachte sich Ebo. Da hat sich doch noch jemand an den guten alten Brauch erinnert. Jetzt schien auch Robert zu begreifen. Sein Blick schweifte durch die Menge. Er versuchte wohl herauszufinden, wer von seinen Freunden fehlte und mit seiner Braut flüchtig war.
Jetzt begann die Situation doch etwas heikel zu werden und Ebo entschloss sich, dem Ort des fröhlichen Treibens den Rücken zu kehren. Er verließ gemächlichen Schrittes das Lokal und die ihm bis vor wenigen Stunden noch völlig unbekannte Hochzeitsgesellschaft. Ebo Salinger liebte diese großen Feierlichkeiten. Ein unscheinbarer Fremder fiel dort gar nicht weiter auf. Nach kurzer Zeit wurde man zum Teil der homogenen Masse und von dieser freundlichst aufgenommen. Er stieg in seinen Wagen und fuhr in einer sternenklaren Nacht zum Versteck. Die ahnungslose und betäubte Fracht im Kofferraum regte sich nicht. Morgen würde er dem Bräutigam einen ersten Hinweis schicken. Etwas Kleines, Persönliches – etwas, das zum Thema passte. Vielleicht ihren Ringfinger.