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Der Pirat mit den zwei linken Füßen
Da ich Piraten schon seit meiner frühesten Kindheit vergöttere, war ich nicht sonderlich traurig, als das blinde Pferd meines kleinen, untersetzten Onkels mir den rechten Fuß abbiss. Denn man muss wissen, um als Pirat anerkannt zu werden, ist es Vorschrift, mindestens zwei unfreiwillige Amputationen vorzuweisen.
Meine Großmutter sah dies gewiss anders und so drosch sie auf den armen Onkel ein, bis er noch kleiner und untersetzter war. Im nahegelegenen Spital wurde meine Wunde versorgt und notdürftig mit Stroh und Leinen gepolstert. Mehr könne man nicht für mich tun und ich solle froh sein, wenigstens noch einen Fuß zu besitzen. Außerdem solle ich hin und wieder, wenn der Geruch allzu penetrant werde, die Bandagen wechseln.
Nun ja, der erste Schritt auf dem Wege zum Piraten war getan, wieso also die Chance nicht nutzen? Doch was für ein Pirat sollte das sein, der mit einem Klumpen Stroh als Fuß durch die Lande zieht?
Gewiss, ein Holzbein musste her, ein Stumpen, der verwegen durch die Gassen klackern würde, wenn ich einst des Nachts die Hafenschänke verlassen würde, um zurück an Bord meines Schiffes zu wanken. Es gab nur einen Ort, der für einen rechten Stumpen in Frage kam. Dort waren die besten Knochenflicker der ganzen Welt versammelt, denn hier gab es so viel Arbeit für ihre Zunft wie nirgends sonst. Ich spreche von der Nordseeküste, dem letzten Hafen im Leben der meisten Freibeuter. Hier gab es unzählige Altersresidenzen für das urige Piratenvolk, meist geführt von grobschlächtigen, doch überaus geschäftstüchtigen Wikingern.
Sie hatten diese Marktlücke schon vor langer Zeit für sich entdeckt und zudem den besonderen Vorteil der Nordseeküste erkannt. Die Ebbe. Selbst der vom grauen Star und der Gicht gebeuteltste Kapitän konnte hier bis ins hohe Alter auf Kaperfahrt gehen. Und abends, wenn die Ebbe einsetzte, zogen die Wikinger los, um ihre Kunden wieder einzusammeln und sich geduldig von den Seeschlachten des Tages berichten zu lassen.
Hier also, so war ich mir sicher, würde ich meinen Stumpen finden. So entwendete ich schon wenige Wochen später meiner Großmutter ein paar Taler, hinterließ einen erklärenden Brief und nahm die Postkutsche in Richtung Küste. Es war wirklich alles wie in den Erzählungen. An der Küste drängten sich windschiefe, reetbedeckte Häuschen, als warteten sie auf den Startschuss, um in Richtung Meer zu rennen. Sie trugen Namen wie „Zum sicheren Hafen“, „Haus Seeblick“, „Zum ewigen Käpt’n“. Jedes Haus besaß natürlich einen eigenen Anleger, die größeren brüsteten sich sogar mit einer Dachterrasse im Stil eines Krähennestes. Alle 500 Meter entlang der Küste befand sich ein Ausguck, der von einem Wikinger in rot-weiß geringelter Leuchtturm-Uniform besetzt war. Diese wurden von der Wikinger-Altenpfleger-Genossenschaft bezahlt, um ein Auge auf die besonders zahlungskräftigen Kunden zu haben.
Und wohin das Auge auch sah, erblickte man Werbeschilder: „Amputation, 2 Finger zum Preis von einem!“, „Handersatz-Haken-Anfertigung nach Maß“, „Silberne Augenklappen mit individueller Gravur!“
Meine besondere Aufmerksamkeit erregte jedoch ein Schild mit der Aufschrift: „Sommer Spezial: Bei Fuß-Amputation, Transplantation des Stumpens gratis!“
In der Praxis von Dr. Charles Lattan, der die Anzeige geschaltet hatte, erkundigte ich mich nach dem Angebot. Dreist fragte ich nach einer vollständig kostenfreien Behandlung, da die Amputation ja bereits stattgefunden hatte. Die sichtlich verwirrte Sprechstundengehilfin verschwand im Nebenraum, um mit Dr. Lattan Rücksprache zu halten. Durch die halb geöffnete Tür konnte ich ihn sehen, wie er erst hysterisch auflachte und dabei wie wild den Kopf schüttelte, dann jedoch plötzlich inne hielt und aufgeregt nickte. Daraufhin sah er zu mir herüber und lächelte freundlich.
Nachdem er mich in mein Sprechzimmer gebeten hatte, erklärte er mir, meine Behandlung erfolge ohnehin kostenlos, da ich der einhundertste Patient sei, der auf die Anzeige reagierte. Überwältigt von soviel Glück und der nahen Aussicht auf einen Stumpen willigte ich ein, mich noch heute Abend der Operation zu unterziehen. Vor mir war nur ein Patient an der Reihe, der sich ob des günstigen Angebotes schon seinen zweiten Fuß amputieren ließ. Wie dieser stolze Mensch ohne Füße laufen wollte, wagte ich nicht zu fragen.
Nach zwei Stunden warten, einer halben Flasche Rum zur Beruhigung und eineinhalb Tellern Pökelfleisch mit Ölsardinen war es endlich so weit und Dr. Lattan bat mich in den OP. Zur Betäubung überreichte er mir ein neuartiges Medikament, das im Geschmack eine auffallende Ähnlichkeit zu handelsüblichem Rum besaß. Aber es verfehlte seine Wirkung nicht. Ich glaubte noch eine Bewegung hinter meinem Rücken wahrzunehmen, da war ich auch schon betäubt.
Als ich wieder erwachte, es war bereits dunkel, da schmerzte mir der Schädel, als hätte mir jemand einen tiefgefrorenen Aal über den selbigen gezogen. Das Erste was ich erblickte war das Gesicht eines riesigen Wikingers, der sein breites Grinsen hinter seinem monströsen, roten Vollbart verbarg. Dr. Lattan erklärte mir, dass es sich hierbei um Jørge Hammerdåhl handele, seinen Anästhesisten. Seltsam, ich konnte mich gar nicht an ihn erinnern. Auf meine Frage nach dem Verlauf des Eingriffes lächelte der Dr. seinem Kollegen zu und erklärte mir, dass alles völlig nach Plan verlaufen sei. Der linke Fuß sei vollständig montiert und ich könne ihn in spätestens vier Wochen auch wieder voll belasten.
Ich wägte mich in einem Fiebertraum, was hatte er da gerade gesagt? Mein linker Fuß war doch völlig gesund!
„Nein, ich meine den anderen linken Fuß, an der Stelle Ihres rechten. Erinnern Sie sich nicht? Sie wünschten ein Transplantat und ich bot Ihnen an, mich bei einem Experiment zu unterstützen und Sie dafür kostenlos zu behandeln. Der leichte Gedächtnisverlust rührt von dem Betäubungsmittel her, das ist völlig normal.“
Bei dem Wort „Betäubungsmittel“ grinsten Lattan und Hammerdåhl sich erneut an.
Man hatte mich betrogen! Ich wurde hintergangen und als Versuchskaninchen missbraucht. Was sollte jetzt nur aus mir werden? Oder haben Sie etwa schon einmal etwas von einem Piraten mit zwei linken Füßen gehört?