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- 31.08.2008
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Der Pool
4.te Überarbeitung
“If anybody is telling you about the sixties, he probably was´nt there.“ anonym
Mrs. Turtle sah noch einmal aus dem Fenster, bevor sie sich schlafen legen wollte. Der Mond schien über die sanften Hügel und die Wiesen. In der Ferne sah sie den silbrigen Schimmer des Flusses. Charlie knurrte. Ihr kleiner Terrier war ihr einziger Gefährte, seit sie ihren Mann verloren hatte. „Laß doch Charlie, wir gehen jetzt schlafen“, sagte sie. Charlie knurrte erneut, diesmal nachdrücklicher. Mrs. Turtle ging, die Haustürschlüssel zu holen. Sie schloß die Tür auf und ließ den Hund hinaus. Doch ehe sie die Tür hinter sich schließen konnte, hörte sie Charlie bellen. Sie sah hinaus. Charlie, der sonst immer auf alles und jeden zu rannte, stand nur wenige Meter von der Haustür entfernt und bellte in die Nacht. Gesang scholl vom Nachbargrundstück herüber. Der Nachbar hatte einen Swimmingpool gebaut, der erst vor kurzem fertig geworden war. Als er das Wasser eingelassen hatte, hatte er eine Party gegeben. Viele Gäste hatten sich die ganze Nacht im Garten unterhalten, hatten Musik gehört, gelacht und getanzt. Sie hatte dabei kaum die Augen zugemacht. Diese exaltierten Leute, die harten Rhythmen der Rockmusik – ihr Nachbar stand auf laute Parties und der Musik der sechziger Jahre. Charlie bellte jetzt noch heftiger. Mrs. Turtle versuchte angestrengt, etwas zu erkennen. Wieder hörte sie den Gesang, dazu einen Bass-Rhythmus. Dann konnte sie einen Mann erkennen: er stand am Pool und hatte eine Gitarre umgehängt, jetzt tanzte er, tobte wild um den Pool, wobei er sich um sich selbst drehte. Seine blonden Haare wirbelten im Mondschein um seinen Kopf. Und – der Mann war nackt!
Smith saß an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Protokoll, als das Telefon klingelte. Er brütete weiter über der Akte: ein Betrunkener hatte beim Aufbruch von der Kneipe ein Auto beschädigt und war danach nach Hause gefahren. Smith hatte Zeugen befragt, eine Blutprobe veranlaßt und mußte nun berichten. Der Mann würde ein Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer und Sachbeschädigung bekommen. Als das Telefon das dritte Mal geläutet hatte, nahm er mit einer langsamen Bewegung den Hörer auf, führte ihn an seinen Kopf und meldete sich: „Police Station Cowes.“ Erst konnte er nicht verstehen, was die Frau am anderen Ende der Leitung wollte. Nach und nach verstand er, daß im Garten des Nachbarn ein junger blonder Mann Lärm machte und nackt tanzte. Er versprach, sogleich zu kommen, legte auf, ging zur Garderobe, zog sein Jackett über und nahm die Mütze in die Hand. Die Tür zur Polizeistation hatte zwei Schlösser, die er umständlich abschloß. Er setzte sich in den Streifenwagen und fuhr los, ohne Blaulicht. Beim Gedanken an diese verrückte Meldung mußte er mit dem Kopf schütteln.
Als er vorfuhr, war von Musik nichts mehr zu hören. Er sah sich um: der Spuk schien vorüber zu sein. Mrs. Turtle war immer noch außer sich, als er an der Tür läutete. Sie rang nach Luft. Dann erzählte sie, wie sie hatte ins Bett gehen wollen, wie ihr Hund angeschlagen hätte, und daß sie den Nackten in Nachbars Garten gesehen hätte. Die Musik hätte rauh und sehr laut geklungen. Smith nahm das alles sorgfältig zu Protokoll. Dann verabschiedete er sich. Den Wagen ließ er stehen; er ging eine Runde und sah sich die Umgebung an. Das Haus des Nachbarn zu kontrollieren, war seine Pflicht. Es könnte ja sein, daß sich Einbrecher dort aufhielten oder daß sich die Jugend der Nachbarschaft einen Streich erlaubt hätte. Der Besitzer war verreist; das wußte er von seinem Stammtisch. Das Haus war ordentlich verschlossen. Er ging um den Pool. Das Wasser war spiegelglatt; er konnte keine Spuren entdecken. „Laute Musik“ schimpfte er vor sich hin, „und weit und breit kein Stromanschluß. Die Frau müßte wohl mal zum Arzt.“
„Wieviel hast du denn mit?“, fragte Pete Robert. „Genug, genug“ beschwichtigte der. „Genug.“ „Pete kann nie genug kriegen“, meinte Jay.
„Kommt drauf an, wovon“, warf Heather spitz ein. Jay gab ihr einen Knuff in die Rippen und funkelte sie aus den Augenwinkeln an. Die vier stolperten den Feldweg entlang an die Bucht. Auf einem Platz mit schöner Aussicht ließen sie sich nieder. Robert kramte in seiner Tasche und holte alles hervor, was man brauchte, um eine richtig große Tüte zu bauen. Er hatte fünf Gramm mit; das war mehr als genug. Dieses Ritual genoß er, besonders auch, weil die anderen ihm zusahen und warteten. Schließlich war der Joint fertig. Er hielt ihn hoch. „Oh“ riefen die anderen ironisch. Heather zündete ihn an und zog. Sie reichte ihn an Pete weiter. „Haben wir eigentlich Mucke?“ fragte sie Jay. „Jay nickte und holte seinen Walkman heraus. Er hatte eine CD von Jimi Hendrix eingelegt – schließlich waren sie seinetwegen hier. Vor fünfunddreißig Jahren, auf den Tag genau, war Jimi gestorben. Und kurz vorher hatte er hier auf dem Afton Hill einen grandiosen Auftritt hingelegt, auf dem Isle of Wight Festival. Die vier sahen direkt dorthin, wo damals die Bühne gestanden haben soll. Genau wußten sie es nicht, denn damals waren sie noch gar nicht auf der Welt. „Laß mich auch mal hören“, forderte Pete. Jay gab den Walkman ab. Er fühlte schon die Schwere des Stoffes. Und hörte die Musik weiter. „Daß mein Walkman von außen so laut ist...“ dachte er bei sich. Auch die anderen hörten und genossen die Musik. Plötzlich wurde es hell auf dem Hügel vor ihnen. Die Musik wurde lauter. Leute tummelten sich auf dem Berg, mit Instrumenten, die Musik wurde noch lauter, die Leute erschienen in farbigem Licht!
„Seht ihr das auch? Geil eyh“ meinte Pete.
„Tollen Stoff hast du diesmal“, meinte Jay. Heather war stumm und staunte mit großen Augen.
„Guck mal, da hat sich einer als Jimi Hendrix verkleidet“, meinte Robert. Die Musik wurde immer lauter.
„Und das ohne Eintritt“, meinte Robert. Sie staunten und träumten noch eine Weile, dann kamen von hinten plötzlich zwei Polizisten. „Sofort mitkommen“ befahlen sie.
„Hört euch lieber die Musik an“ sagte Jay, „das ist das geilste, was es hier je gegeben hat.“ Aber die war schon verstummt und die vier wurden abgeführt.
Miss Maple war wenig erfreut, von ihrem Vorgesetzten diese Geschichte auf den Schreibtisch zu bekommen. Immer, wenn er etwas nicht ernst nahm, gab er es ihr. Eine Form persönlicher, dauerhafter Degradierung. „Sprechen Sie nochmal mit der Frau, und dann schließen Sie die Sache ab“ hatte er ihr gesagt. „Die Frau halluziniert. Vielleicht sollten Sie auch überprüfen, ob sie Hilfe braucht.“ Sie hatte einen Kollegen mitgenommen, der als Polizeiarzt neu in das Revier versetzt worden war. Sie hatten zusammen mit der Frau gesprochen, die üblichen Tests gemacht, ohne ein neues Ergebnis zu erhalten. Mrs. Turtle erzählte besonnen und klar, was sie beobachtet hatte. Bei wiederholtem Befragen ergaben sich keine Widersprüche. Und doch machte die Geschichte keinen Sinn. Mss. Maple schloß die Akte nicht, sondern legte sie ratlos beiseite, um sich später wieder damit zu befassen. Sie hatte zwar nicht die Hoffnung, hier etwas klären zu können. Aber die Frau für verrückt zu erklären, war ihr nicht möglich: irgendein Gefühl aus der Bauchgegend kämpfte dagegen an. Sie mochte auch die nötigen Schritte, die darauf zu folgen hätten, nicht veranlassen: amtsärztliche Vorführung, Klinikaufenthalt zur Untersuchung, möglicherweise Bestellung einer Betreuung, etc. Das war die Sache nicht wert. Sie war gerade auf der Fahrt von Newport zurück nach Cowes, es war der 4. Oktober, als Smith sie über Funk anrief: „Hallo Mss. Maple, die Alte spinnt wieder; bitte schauen Sie da noch vorbei; es liegt ja auf ihrem Weg. Sie hat in der Zwischenzeit übrigens wieder angerufen, nachts am 18. September, ich bin gar nicht hingefahren. Nur daß Sie´s wissen.“ Sie empfand Unbehagen, als sie die Straße nach Whippingham einbog. Es war eine klare Nacht mit Mondschein. Sanft und friedlich lagen die Wiesen im kalten Licht. Sie bog zu dem Grundstück von Mrs. Turtle ab und fuhr zum Haus vor. Als sie den Motor abstellte, hörte sie laute Musik von draußen. Sie ging zur Haustür. Mrs. Turtle kam ihr aufgeregt entgegen,
„Sehen Sie nur, jetzt sind es drei, sie tanzen wieder um den Pool, mein Gott, was für eine Musik, und ein Schwarzer ist auch dabei!“ Charlie bellte aufgeregt und tanzte um Mss. Maple herum; die versuchte, Mrs. Turtle zu beruhigen.
„Gehen Sie ruhig ins Haus, ich werde mich darum kümmern. In ein paar Minuten haben Sie ihre Nachtruhe wieder.“ Sie folgte der Frau in das Wohnzimmer und wartete, bis sie sich im Sessel gesetzt hatte.
„Bleiben Sie hier; ich werde mich jetzt darum kümmern. Machen Sie sich keine Sorgen; ich bin gleich zurück.“
„Mein Gott, wenn der Nachbar nach Haus kommt. Diesmal ist er nicht verreist, er ist nur unten im Folly Inn, der Seglerkneipe.“
„Wir werden ihn benachrichtigen“, sagte Mss. Maple. Sie zog die Haustür hinter sich ins Schloß. Jetzt erst einmal tief durchatmen. Die Musik drang von hinter dem Haus zu ihr. Als sie um die Hausecke lugte, konnte sie noch nichts erkennen. Das Haus lag friedlich vor ihr; der Blick auf den Garten war durch die dichten Büsche verwehrt. Die Musik war jetzt leiser; nur einige Wortfetzen drangen zu ihr herüber, dazu einige Akkorde von einer elektrischen Gitarre. Langsam schlich sie durch den Garten und suchte sich eine Stelle, wo sie zwischen den Büschen hindurchsehen konnte. Im Pool sah sie einen blonden jungen Mann und eine blonde Frau, die älter und verlebt wirkte. Die beiden alberten und neckten sich. Schon spritzte die Frau mit Wasser und stieß sich ab, wobei sie durch die Hälfte des Pools schnellte. Mal lachte sie mit einer tiefen, rauhen Stimme dazu, mal erklang schrilles Kichern. Die elektrische Gitarre gab einen dröhnenden Akkord. Jetzt konnte Mss. Maple auch den Gitarristen erkennen: es war ein schlanker afrikanisch-stämmiger Mann mit weitabstehenden schwarzkrausen Haaren. Er trug eine helle Hose und eine glitzernde paillettenbesetzte Jacke. Der Blonde im Pool holte die Frau ein; die beiden rangen miteinander und tauchten unter. Der Farbige wirbelte herum und ließ seine Akkorde schwingen, daß es weithin durch die Gärten dröhnte. Am Haus ihr bellte Charlie. Mss. Maple wandte sich um. Als sie wieder zum Pool sah, war der Mann verschwunden. Auf dem Wasser schwappten einige Wellen; dann wurde es ruhig. Sie kämpfte sich durch die Sträucher und ging langsam, vorsichtig um sich blickend, auf das Nachbargrundstück. Niemand war im Pool. Das Haus war verschlossen, die Rolläden waren herunter gelassen. Rund um den Pool war alles trocken; keine Spuren von der Planscherei. „Wo waren die Lautsprecher? Woher hatte er den Strom für die E-Gitarre?“, fragte sie sich. Ihr war mulmig. Hastig ging sie über den Gartenweg vom Grundstück und zurück zum Haus von Mrs. Turtle. „Es ist jetzt alles in Ordnung. Sie können ruhig schlafen gehen“, sagte sie Mrs. Turtle. „Ein paar Jugendliche haben sich einen Streich erlaubt und sind in den Pool gegangen. Sie haben aber nichts beschädigt. Also kein Grund zur Aufregung.“ Mrs. Turtle war fast so wenig überzeugt wie Mss. Maple selber. Aber sie sagte nichts. Mss. Maple verließ das Haus und fuhr zu Polizeistation. „Notruf von Mrs. Turtle aus Whippingham. Jugendliche randalierten im Pool auf dem Nachbargrundstück. Keine Schäden, keine weiterführenden Erkenntnisse“, schrieb sie in das Einsatzprotokoll.
Die nächsten Tage verlief der Dienst ruhig für Mss. Maple. Ihr Chef bemerkte, daß sie irgendwie verändert aussah, auf jeden Fall sehr unausgeschlafen. Er fragte sie nicht danach. Mss. Maple schlief tatsächlich schlecht. Eines Abends fuhr sie spät in die Polizeiwache und setzte sich über die Akte der nächtlichen Störer. Nichts Neues. Sie fuhr ihren Computer hoch und loggte sich in die Datenbank ein. Aber wo sollte sie suchen? Sie fand viele nächtliche Störungen unter den Rubriken „Einbrüche“, „Hausfriedensbrüche“, „Jugendliche unter Alkoholeinfluß.“ Nichts paßte. Schließlich suchte sie unter den Tagen, an denen „es“ passiert war. Daß sie etwas erlebt hatte, das sie immer noch nicht wirklich einordnen konnte, schob sie innerlich weg. Es mußte einfach eine vernünftige Erklärung dafür geben.
Nach einigem Sortieren, das natürlich nicht einfach ist, wenn man sich die tausende kleiner Vergehen ansieht, die an einem einzigen Tag in einem Land passieren, wurde sie plötzlich stutzig: an denselben Tagen, dem 3.7., dem 18.9. und dem 4.10, hatte es bei Hartfield in Sussex Störungen gegeben, die denen von Whippingham glichen. Nächtliche Randalierer am Pool, das war nichts besonderes, aber: sie hatten Musik gemacht. Ihr Herz schlug laut; sie spürte den Puls am Hals. Fieberhaft versuchte sie mehr herauszubekommen, aber mehr stand hier nicht. Das Haus mit dem Pool hatte leer gestanden; eine Nachbarin hatte die Meldung gemacht. Auch hierin glichen sich die Fälle. Nur eine Besonderheit fand sie noch: dieselben Ereignisse hatte es schon vorher gegeben, war in der Datei vermerkt. Diese waren inzwischen gelöscht; aber bei der Zeugenvernehmung sei es noch einmal erwähnt worden: an denselben Tagen wie in diesem Jahr waren früher schon ähnliche Störungen aufgetreten.
Mss. Maple suchte weiter. Sie fand noch einige ähnliche Meldungen, jedoch waren die Vernehmungsprotokolle so schlampig, daß sie keine Vergleiche ziehen konnte. Wie sollte sie nun weiter vorgehen? Ihrem Vorgesetzten erzählen, daß sie bei nächtlichen Störungen im gesamten Königsreich ermitteln wolle? Den Fall an Scotland Yard weiterreichen? Sie durfte ihre Karriere nicht aufs Spiel setzen.
Am nächsten Wochenende ging sie auf die Fähre nach Southampton und bestieg einen Zug nach Crowborough in Sussex. Dort fuhr sie mit der Taxe aus dem Ort heraus in die Landschaft und nahm in Hartfield ein Zimmer mit Frühstück. Nachdem sie ihren Koffer geöffnet und ihre Blusen aufgehängt hatte, verließ sie das Haus und spazierte in dem kleinen Ort herum. Schließlich betrat sie in den Pub. Sie hatte sich immer, seit sie bei der Polizei war, bemüht, nicht wie eine Polizistin auszusehen. Aufmerksam hatte sie ihre Kolleginnen beobachtet, wie ihre Kleidung, ihr Mienenspiel, ihr Gang von der Arbeit geprägt wurden und sich nach und nach dem Bild „Frau, alleinstehend, Beamtin, neugierig“ anglichen. Sie hatte sich darum auch um Freunde bemüht, die anderen Tätigkeiten nachgingen. Nun war sie trotzdem unsicher, ob es ihr gelingen würde, abends um neun in einem Pub sich ein Bier zu bestellen und dabei so zu wirken, als sei sie als Fremde in diesem Ort zu dieser Zeit das Normalste der Welt. Sie gab sich einen Ruck in die andere Richtung als sonst: lässig wirken! sagte sie sich.
Drinnen war es laut und verraucht. Sie kämpfte sich durch die Masse trinkender und redender Männer zur Bar durch und bestellte ein Bier. Ein Mann bot ihr seinen Barhocker an. Er wolle sowieso gerade aufstehen, erklärte er. Trotzdem blieb er dann neben ihr stehen und suchte erkennbar nach einem Ansatz, mit ihr ins Gespräch zu kommen. „Auf der Durchreise?“ versuchte er es, wenig originell. Sie nickte. Ihr Anliegen wollte er noch von ihr erfahren. „Versicherungen“ hatte sie geantwortet. Da hatte er ein Thema: von Brandstiftungen konnte er erzählen, von Unfällen, Einbrüchen, und überhaupt: neulich sei etwas noch ungehörigeres passiert: Jugendliche wären in einen Garten eingedrungen, hätten gelärmt und dabei aber nichts beschädigt oder gestohlen. Er schüttelte mit dem Kopf, als wäre das nun der Gipfel aller Dreistigkeit. Wo das passiert wäre, wollte sie wissen. „Auf der Cotchford Farm“, antwortete er. Es war demnach der Fall, von dem sie gelesen hatte. Mehr durfte sie nicht fragen, wenn sie nicht auffallen wollte. Sie schwieg einen Augenblick. Der Mann erzählte weiter, aus Verlegenheit und weil er glaubte, er könne sie damit beeindrucken. „Angefangen hat es nach dem Tod von Brian Jones“, sagte er. „Sie wissen doch: der von den Rolling Stones.“ Seit er hier 1969 im Pool ertrunken ist, wird dort auf dem Grundstück immer wieder randaliert. Besonders zum Jahrestag seines Todes. Wann das sei? „Am 3. Juli“, gab er an. „Aber was soll man machen? Der neue Besitzer kann doch deswegen nicht den Pool zuschütten“ und „ich weiß das genaue Datum nur noch, weil meine Frau an dem Tag Geburtstag hat.“ Nach einen paar Bemerkungen über die Schönheit dieser friedlichen Gegend und den obligaten Wünschen für das kommende Rugby-Spiel ging sie.
Das Haus wirkte merkwürdig: ein bißchen heruntergekommen, aber auch verträumt, Romantik von Katzen und Efeu. Sie hatte aufmerksam die Gegend beobachtet, bevor sie durch die offene Haustür eingetreten war. „Hallo!“, rief sie. „Ist hier jemand?“ Nichts rührte sich. Langsam ging sie durch die Diele in das Wohnzimmer. Die Türen standen offen; auch einige Fenster. Von draußen schien die Sonne herein: goldener Herbst. Sie warf einen Blick auf einen großen Tisch, der mit Zeitungen, CDs, einem vollen Aschenbecher, Blumen und vielen anderen Dingen, die sie so schnell nicht erfassen konnte, vollständig beladen war. Eine Adressenliste fiel ihr ins Auge; eine der ersten Adressen war die des Mannes aus Whippingham, dessen Nachbarin die Notrufe getätigt hatte. Die Liste war lang. Aus einem Instinkt heraus steckte sie sich das Blatt ein. Plötzlich erschrak sie über die Katze auf der Fensterbank, die sie bisher nicht bemerkt hatte.
„Willkommen! Wollen Sie auch eine Kachel kaufen?“, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum. Ein älterer Mann stand da in Jeans und Unterhemd; der oberste Knopf der Hose stand offen; sein Bauch quoll darüber. Er hatte ein aufgedunsenes rotes Gesicht und blasse Arme. Aber er wirkte freundlich.
„Guten Tag. Nein, ich wollte nur mal diese Farm sehen. Ich hoffe, sie verzeihen mir, daß ich einfach eingedrungen bin.“
„Alle wollen meine Kacheln haben. Einfach verrückt. Aber ich weiß nicht, wie ich die Renovierung anders finanzieren soll.“ Nach und nach erzählte er ihr, daß ein Freund aus dem Pub ihn auf die Idee gebracht hatte, über das Internet die Kacheln aus dem Pool anzubieten, in dem Brian Jones vor sechsunddreißig Jahren ertrunken war. So wurde er zwar nicht alle Kacheln los, aber bei 10 Pfund pro Stück war das auch nicht wichtig. Er hatte schon einige dutzend verkauft und hatte wenig Arbeit damit.
„Merkwürdig, in einem Haus zu leben, das für tausende Fans in aller Welt eine solche Bedeutung hat.“
„Das habe ich mir auch überlegt. Aber was soll´s; es ist ein schönes Haus. Wollen Sie wirklich keine Kachel?“
„Nein danke, ich stehe nicht auf solche…Reliquien.“
„Dann nehmen Sie trotzdem eine mit. Ich schenke sie Ihnen. Vielleicht kennen Sie ja jemanden, der auf die Sechziger steht.“
„Oder in den Sechzigern stehen geblieben ist“, dachte sie bei sich. Der Mann nahm etwas Packpapier, ging zu einem großen Turm aufgestapelter Kacheln in schönstem Swimmingpoolblau, nahm eine herunter und packte sie mit seinen groben Händen notdürftig ein; eigentlich drückte er das unförmige Stück Packpapier nur irgendwie symbolisch um die Kachel herum.
„Bitteschön“, sagte er und streckte die Hand aus, um ihr die Kachel vor den Bauch zu halten. Sie mußte sie jetzt einfach annehmen.
„Ich…gehe dann mal jetzt“, sagte sie. „Vielen Dank auch!“
Mss. Maple saß wieder an ihrem Schreibtisch. Was war nun von all dem zu halten? Mißmutig sah sie die Adressenliste durch. Zwei Anschriften auf der Isle of Wight. Einige in Sussex. Noch einige im Raum Liverpool. Rund ein Dutzend in den USA. Ihr kam ein ziemlich verrückter Gedanke. Sie rief einen Kollegen in Liverpool an, den sie aus der Ausbildung kannte. Das war das schöne am Beruf der Polizistin: überall im Land kannte man Kollegen, die einem halfen. Mit denen man einige Wochen in einer Schulung verbracht und die Abende gemeinsam bestritten hatte. Sie fragte ihn nach einigem „Wie geht´s Dir?“ und so weiter nach den Beobachtungen: ob es in Liverpool Fälle von Ruhestörung mit nächtlicher lauter Rockmusik gegeben hatte. Der Kollege war erstaunt, ja, das habe es, aber warum? Derweil suchte er die Daten heraus: am 3.7. zwei Fälle, am 18.9. und 4.10. jeweils drei Vorkommnisse. Es waren dieselben Nächte wie auf der Isle of Wight. Mss. Maple fragte nach den Orten der Vorkommnisse. Der Kollege nannte einige; wie elektrisiert erkannte sie , dass sie alle auf der Liste waren, die Mss. Maple auf der Cotchford Farm mitgehen lassen hatte und die die Adressen enthielt, an die der neue Besitzer Schwimmbadkacheln versandt hatte. Als der Kollege erneut fragte, worum es gehe, wiegelte Mss. Maple ab; sie mochte nichts erklären. „Neue Marotte der Jugend“, bot sie ihm als Erklärung an und legte auf.
Um weiter zu kommen, mußte sie mehr über den Ursprung erfahren: diesen Rocksänger, der auf der Cotchford Farm ertrunken war. Es war nicht schwer, das Material zu bekommen. Sie erfuhr nicht nur, daß Brian Jones am 3.7.1969 ertrunken war. Natürlich gab es Ungereimtheiten, aber die findet man ja eigentlich immer, wenn Berühmtheiten zu Tode kommen. Das öffentliche Interesse bringt all die Dinge hervor, die bei fast jedem Todesfall als ungeklärt zurückbleiben. 3. Juli: der Tag, als ihr Kollege nach Whippingham gerufen wurde. Und was war mit den anderen Tagen? Hatten die auch so einen Hintergrund? Nach und nach fand sie heraus, daß an jedem dieser Tage ein Rockmusiker gestorben war: am 18. September Jimi Hendrix, am 4. Oktober Janis Joplin. Und immer gab es dieselbe Art von Ungereimtheiten – natürlich. Jimi quartiert sich in London in ein Hotel ein, besucht dann seine Freundin in einem anderen Hotel. Stirbt dort. Drogen im Blut: fast keine. Aber Rotwein in der Lunge: reichlich. Halstuch und Kleidung voll Rotwein. Damals nahmen diese Musiker Drogen, und mit Drogen wird man nicht alt. Damit war offensichtlich alles geklärt. Aber – warte – da war noch einer, völlig clean: John Lennon. Am 8.12.1980 vor seinem Hotel in New York erschossen. Von einem verrückten Einzeltäter. Der hatte eine neue, ungelesene Ausgabe von Salingers „Catcher in the Rye“ mit dabei. Warum? Er hatte der Polizei die Bedeutung erklärt, die dieses Buch für ihn habe. Aber zu Hause hatte er auch eine Ausgabe, die aus seiner Schulzeit: für den Mord hat er sich extra noch eine gekauft, um sie dabei zu haben – an diesem besonderen Tag.
Sie rief nochmals ihren Kollegen in Liverpool an: „Sag´ mal, was haben Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, John Lennon gemeinsam? Du interessierst Dich doch für diese Oldies?“
„Geile Mucke“ schwärmte er los.
„Ja! Weiter! Was noch?“ ermunterte sie ihn.
„Drogen – Rausch – neue Jugend – Freiheit, drop out“ fuhr er fort. „Was noch?“ fragte Mss. Smith, jetzt wieder ernsthaft.
„Ja…was noch? Sie…waren alle gegen den Vietnamkrieg. Hilft Dir das? Wozu fragst Du das alles?“
„Ich weiß es selbst nicht“, antwortete sie.
Am nächsten Tag wollte Mss. Maple die Geschichte eigentlich abschließen. So würde sie nicht weiter kommen; dessen war sie sich sicher. Und wofür auch? Um ein paar Ruhestörungen aufzuklären? Lächerlich, was sie dafür schon investiert hatte. Als ihr Kollege Smith hinter seinem Schreibtisch Platz nahm, fragte sie ihn, völlig unüberlegt, denn eigentlich wollte sie an ganz anderen, wichtigeren Fällen arbeiten: „Sag´ mal, wie bekommt man eigentlich Rotwein in die Lunge?“
„Wieso?“ wollte er wissen.
„Nur so.“
„Ja…verschlucken…eigentlich nicht. Einen Pool mit Rotwein füllen und ihn ertrinken lassen…auch nicht. Der Kehlkopf macht vorher dicht. Er müßte schon etwas länger im Rotwein liegen…was willst Du überhaupt?“
„Ich möchte es verstehen. Da ist einer ums Leben gekommen, und hatte viel Rotwein in der Lunge. Auf der Kleidung auch. Ich…will es nur verstehen.“
„Frag´ doch mal einen Kollegen, der in den USA beim britisch-amerikanischen Heimatschutzlehrgang war“, meinte Smith mit ironischem Unterton.
„Du meinst…“ tastete sie sich vor.
„Ja, ich meine. Es gibt zwei Arten von Waterboarding: die tödliche und die sichere. Wenn der Delinquent horizontal gelagert wird, läuft die Lunge voll, er stirbt. Wird er geneigt gelagert, mit dem Kopf nach unten, passiert ihm nichts. Äh…ich meine, er bleibt am Leben.“ Das wußte Mss. Maple auch vorher. Sie hatte es nur nicht zuordnen können. Manchmal brauchte ihr Kopf etwas Zeit.
Sie versuchte, sich auf die Akte über einen Nachbarschaftsstreit zu konzentrieren, aber mußte die Passagen immer wieder lesen: wer hatte wen beleidigt? Wessen Hund hatte die Kaninchen des anderen totgebissen? Sie konnte es nicht. Langsam stand sie auf und ging zum Fenster. Nach einer Minute setzte sie einen Tee auf und suchte im Schrank nach Keksen. Die mußte sie immer gut verstecken, damit ihr Kollege sie nicht wegaß. Durch diese Methode, an verschiedenen Orten Kekse zu verstecken, gingen zwar manchmal welche verloren, ab er dafür fand sie oft überraschend welche, mit denen sie nicht mehr gerechnet hatte. Im obersten Fach, versteckt hinter Ersatzkannen, die nie gebraucht wurden, fand sie noch welche. Der Mensch stammt doch nicht vom Affen ab, dachte sie, eher vom Eichhörnchen.
Als sie zurückkam, war Smith fort. „Macht wohl früh Feierabend“, dachte sie sich. Aber gewöhnlich verabschiedete er sich. Sie trat an seinen Schreibtisch. Eine Akte hatte er offen liegen gelassen. Sie warf einen Blick darauf. Eigentlich gab es hier keine Geheimnisse. Aber Smith hatte ihr schon lange nicht mehr erzählt, woran er arbeitete. Und sie? Was hatte sie ihm erzählt? Jetzt hatte sie ein doppelt schlechtes Gewissen, als sie in der Akte las. Lärm und Ruhestörung auf Afton Hill, 18. September, stand da. Davon hatte er ihr erzählt. Eine Gruppe mit vier Jugendlichen wurde festgenommen. Sie hatten Marihuana geraucht. Sonst keine Auffälligkeiten. Es folgte eine Liste der Gegenstände, die bei ihnen festgestellt worden waren: Geld, Streichhölzer, Zigarettenpapier, Tabak, Taschenmesser, CDs von Jimi Hendrix, Walkman, und eine hellblaue Keramikfliese. Es konnte nicht festgestellt werden, wie die sehr laute Musik, ähnlich laut wie 1970 auf dem Rockfestival, erzeugt worden war. Offensichtlich war die Polizei zu spät gekommen. Ein Transport der Geräte über das Meer werde vermutet.- Mss. Maple schüttelte sich. Sie konnte nicht aufgeben; dieses Gefühl wurde immer stärker. Es gab keinen Weg zurück mehr.
Auf dem Weg nach Haus fuhr sie in Whippingham vorbei. Sie wußte nicht, was sie dort suchte; es war eigentlich nur ihre innere Unruhe. Das Haus von Mrs. Turtle war dunkel. Sie stieg aus und schritt zur Pforte. Einen Augenblick verharrte sie, dann läutete sie an der Haustür. Niemand öffnete. Der Briefkasten war übervoll mit Werbung. Sie kehrte zum Auto zurück. Eine Passantin kam ihr entgegen:
„Mrs. Turtle haben sie abgeholt. Sie soll jetzt in der Psychiatrie sein.“
Mss. Maple wandte sich ab. Jetzt noch einmal die Runde. Irgendetwas war hier falsch, gründlich falsch. Als Polizistin spürt man das. Im Garten des Grundstückes stand ein Schild: „For Sale.“ Sie stutzte. Sie öffnete die Pforte und schritt zögernd, bis sie noch einmal einen Blick auf den Pool werfen konnte. Der war verschwunden. Sie traute ihren Augen nicht. Wo der Pool gewesen war, war der Boden leicht uneben: hier war Rasen frisch verlegt worden. An der abweichenden Färbung konnte sie noch die Umrisse des Beckens erahnen.
Zu Haus angekommen, stellte sie den Wagen ab und schloß die Haustür auf. Ihr Heim, das sie vor wenigen Jahren hier gekauft hatte, war eines von vielen kleinen rot geklinkerten Reihenhäusern, die eine leicht geschwungene Wohnstraße säumten. Auf den ersten Blick kaum unterscheidbar, aber mit Fensterläden, bunten Eingangstüren und farbigen Briefkästen war trotzdem jedes Haus ein anderes. Ihres war inzwischen ein besonderes geworden, besonders, seit sie die Haustür in sehr eigenwilligem Grün gestrichen hatte. Drinnen hatte sie kaum die Schuhe ausgezogen und den Mantel abgelegt, da eilte sie zum Telefon und rief ihren Kollegen Smith zu Hause an. Das passierte höchst selten, vielleicht zweimal im Jahr. Aber diesmal überlegte sie überhaupt nicht, ob es bis morgen Zeit hatte. „Hallo Mss. Maple. Was ist los?“ Er klang ein bißchen genervt, aber auch seltsam kühl.
„Die Sache mit Mrs. Turtle … und dem Verkauf des Grundstückes … wußten Sie das?“
„Wußte ich was?“ fragte er zurück.
„Na daß sie in der Psychiatrie ist? Haben Sie das veranlaßt?“
„Sie ist nicht in der Psychiatrie. Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Könnten Sie sich vielleicht auch mal um die Fälle kümmern, die Sie auf dem Tisch haben? Guten Abend.“ Er legte auf. Mss. Maple war wie vor den Kopf geschlagen. So hatte er noch nie mit ihr gesprochen. Sie ging in die Küche. Wie mechanisch rührte sie Pfannkuchenteig an, stellte das Gas an und setzte die Bratpfanne auf. Sie tat ein Stück Butter hinein. Als die brutzelte, gab sie den Teig in die Pfanne. Sie brauchte jetzt etwas, das einfach schön war, und wenn es nur dieser Pfannkuchen mit Ahornsirup war. Als er fertig war, setzte sie sich. Sie goß Sirup über den Pfannkuchen, reichlicher als sonst. „Pure Maple Sirup“ und „Product of Quebec“ stand auf der dunklen Flasche. Eigentlich schmeckte er ihr schon deshalb, weil ihr Name auf der Flasche stand. Als sie gegessen hatte, dachte sie, wie lange sie schon nicht mehr gelaufen war. Sie suchte die Joggingschuhe und zog sie an. Dann trat sie an das Fenster. Etwas vergessen? Sollte sie lieber die Joggingjacke überziehen oder im T-Shirt laufen? Die Straße lag friedlich vor ihr. Eine schöne Straße. Ein Stück heile Welt. Ihr Zuhause. Von rechts kam ein Auto, hielt an und stellte das Licht aus. Es war vollbesetzt; die Personen stiegen jedoch nicht aus. Von links kam auf der gegenüberliegenden Straßenseite ebenfalls ein Auto, hielt an, das Licht ging aus. Niemand stieg aus. Dieses Auto konnte sie besser einsehen; sie sah vorn und hinten Männer mittleren Alters. Der Mann am Steuer zündete sich eine Zigarette an. Im Licht des Feuers erschienen seine harten Gesichtszüge. Diese Art von Kollegen kannte Mrs. Maple. Mit einem Ruck stieß sie sich vom Fenster zurück, rannte an die Garderobe, griff sich den kleinen Wanderrucksack, stopfte ihre Handtasche hinein – Geld, Ausweise, Kreditkarten, die Kachel. Die Liste von der Farm. Ein paar lose Aufzeichnungen. Sie stürmte zum rückseitigen Balkon, tobte, ja flog fast die Feuerleiter hoch, sie rannte über die Dächer der Nachbarhäuser in das Dunkel. Leise klapperten die Dachpfannen unter ihren Füßen. Am Ende der Straße gab es ein Eckhaus, sie blieb auf den Dächern, bog ab und rannte weiter, dann, in einer Garageneinfahrt, runter auf einen Balkon, weiter auf den darunter liegenden Balkon, in den Garten. Eine Terrassentür stand offen. Das Haus war dunkel. Sie schlich hinein, griff sich Mantel, Mütze, Damenschuhe, schlich wieder hinaus. In der Garage zog sie sich um. Den Rucksack ließ sie zurück, nur die Handtasche hängte sie sich an den Arm. Dann schritt sie ruhigen Schrittes auf die Straße, aus dem Ort, in die Nacht.
Der Wintereinbruch in New York war mild und friedlich. Die Temperaturen waren nur knapp unter Null, es schneite in großen Flocken ein bis zwei Zentimeter, so daß der normale Verkehr nicht behindert war. Die Bäume und Wiesen des Central Park waren in reines Weiß gehüllt, wie verzaubert lag die Landschaft vor Mss. Maple. Eine Oase der Ruhe; an einigen Plätzen konnte man für einen Augenblick vergessen, daß man mitten in einer Großstadt war.
Mss. Maple ging lange spazieren. Immer hörte sie eine Melodie im Ohr, und je länger sie ging, desto eindringlicher erschien sie ihr. Wortfetzen kamen ihr in den Sinn: „times of trouble“, hörte sie, „mother Mary comes to you“, es war nicht ihre Musik, aber doch gut bekannt, der Refrain erfaßte sie: „Let it be.“ Aber etwas in ihr sträubte sich dagegen. Sie konnte nicht mehr zurück.
Ein Mann stand unter einem Baum und telefonierte. „Wir haben sie. Sollen wir zugreifen?“, fragte er in sein Handy. „Nein noch nicht. Wir haben Anweisung, bis morgen zu warten“, scholl es aus dem Handy.
„Darf man auch wissen, warum?“, fragte er zurück.
„Morgen passiert „es“ wieder. Wir haben den Auftrag, „es“ für immer zu unterbinden. Das Ganze ist jetzt Chefsache.“
„Und wie?“, fragte er zurück.
„Das werden sie schon sehen. Uns ist Unterstützung von den Marines zugewiesen worden“, kam die Antwort.
„Na dann…“, der Mann klappte das Handy ein. Er blieb eine Weile stehen, während Mss. Maple seinen Blicken entschwand. „Also bis morgen“, sagte er zu sich.
Sie ging über eine große Wiese an den Turtle Lake. Am Ufer schwammen einige Enten am Schilf entlang und kamen sogleich auf sie zu. Sie hatte noch einen halben Hamburger bei sich; das Brot davon gab sie den Enten, den Rest warf sie in einen Papierkorb. Sie ging am Ufer in die Hocke, als wollte sie die Enten aus der Nähe betrachten. Sie kramte die Kachel aus ihrer Handtasche und musterte sie. „Dann zeig´mal, was du kannst!“, sagte sie und ließ sie in den See gleiten. Die machte mit Schwung eine Bewegung weg vom Ufer, dann sank sie in die Tiefe. Mss. Maple stand auf.
Das Chelsea Hotel hatte genug Zimmer frei; es gab kein Problem, einzuchecken. Schon an der Rezeption empfingen sie die Plakate und die kleinen signierten Portraits der Künstler, die hier gastiert hatten. Leonard Cohen fiel ihr auf, Kurt Cobain, Andy Warhol, Jimi Hendrix, und – John Lennon. Morgen würde es fünfundzwanzig Jahre her sein, daß er erschossen wurde. Der Mann an der Rezeption war freundlich. Sie verlangte ein Zimmer für eine Nacht. Hinter ihm waren viele Schlüssel am Bord; offensichtlich waren nur wenige Zimmer belegt. Als er ihren Ausweis sah, stutzte er einen kurzen Augenblick und wählte dann einen Schlüssel, den er vor sich liegen hatte. Mss. Maple ging auf ihr Zimmer. Ihre Reisetasche legte sie auf der Ablage an der Tür ab. Sie sah sich um. Gemütlich war es hier, an diesem geschichtsträchtigen Ort. Ein Unbehagen meldete sich. Sie ließ noch einmal ihren Blick im Zimmer herum schweifen. In einer Ecke entdeckte sie eine Miniaturkamera. „Deppen!“, dachte sie bei sich. „Wenn die zu uns nach London kämen und der MI6 oberservierte sie, würden die nichts merken.“ Fast eine Beleidigung, anzunehmen, daß sie diesen Pfusch nicht bemerken würde. Sie nahm ihre Schokolade und riß ein Stück von dem Stanniolpapier ab. Dann stellte sie einen Stuhl in die Ecke, stieg darauf und drückte das Stanniol um die Kamera. „Tschüß bis morgen!“, sagte sie dabei laut. Danach streckte sie sich auf dem Bett aus. Müdigkeit überfiel sie.
Am nächsten Morgen erwachte sie erst spät. Sie ging direkt auf die Straße und frühstückte in einem der vielen Cafes. Den Tag verbrachte sie damit, an immer anderen Plätzen zu sitzen, sich stundenweise an einem Kaffee festzuhalten und Menschen zu beobachten. Gleichgültig registrierte sie, daß dabei auch immer in irgendeinem benachbarten Café jemand Zeitung lesend gelegentlich einen Blick zu ihr herüberwarf.
Die Zeit stand still. Nichts schien sich hier zu verändern. Und nichts berührte sie. Sie kehrte zum Hotel zurück, legte fast das gesamte Geld, das sie noch besaß, auf den Nachtisch und schrieb einen Gruß an das Zimmermädchen dazu. Danach verließ sie das Hotel und fuhr zum Central Park.
Dort strebte sie geradenwegs auf den Turtle See zu und setzte sich im Delacorte Theater, einem kleinen Amphitheater direkt am See, auf eine der Bänke. Es dämmerte; bald war es fast dunkel. Im Ohr hatte sie wieder diesen Gesang vom vorigen Tag, allerdings hörte sie keine Worte mehr; John summte nur noch: „Let it be“. Auf der Insel im See, unmittelbar vor ihr, wurde es plötzlich hell: Jimi trat auf und spielte seine Version von „Let it be“, mit kräftigen verzerrten Akkorden. Er tanzte wie ein Teufel über den kleinen Hügel. John trat hinzu und sang, jetzt wieder richtig. Mit traurigen Augen fixierte er sie immer wieder, als wolle er ihr etwas sagen. Brian gesellte sich hinzu, er spielte eine Baßgitarre und tanzte um Jimi herum. Jimi leckte an den Saiten seiner Gitarre und ließ sie unglaublich weich schwingen. Janis trat auf, umarmte Brian und sang so kichernd, als wollte sie sich über alle lustig machen. Mss. Maple mußte unwillkürlich klatschen. Die Musik hörte sofort auf; es war still: Brian, Jimi, John und Janis verneigten sich. Sie verschwanden alle bis auf Jimi von der Insel.
Jimi stand einfach da und strich mit den Händen über seine Gitarre. Zärtlich strich er über die Saiten, nur ganz leise war sie dabei zu hören. Wie entfernte Harfenklänge aus den Bäumen. Dann brach es plötzlich wie ein Unwetter aus ihm heraus: er spielte „Star Spangled Banner“ so furios wie nie zuvor, er tobte auf seiner kleinen Bühne, die Gitarre schwang um ihn herum, dröhnend und ohrenbetäubend bebte diese Persiflage der amerikanischen Nationalhymne durch den Central Park. Jimi erzeugte alles, was dieses Land verkörperte, mit seiner Gitarre, nach der Blasmusik kamen Granatwerfer und Raketen, dann die Stelle mit den Maschinengewehrsalven, „ratattat…ratattat…ratattat“, hallte es durch den Park, dann wurden die Schüsse erwidert, rechts aus dem Gebüsch kamen Maschinengewehrsalven, dann von links hinter den Sträuchern, grün gekleidete Männer sprangen in die Szene, schossen, „ratattat“ von rechts, von links, von Jimi, die Männer fielen, schlugen Purzelbäume in ihrem Blut, und Jimi hatte die Augen geschlossen und spielte, noch ein paar Salven, dann ließ er die Hymne ausklingen, wie ein Bombergeschwader, das sich dunkel dröhnend entfernt. Janis kam wieder hervor, sang „freedom is just another word for nothing left to loose“, sie tanzte mit Jimi, die beiden wirbelten umeinander herum, dann: Jimi stand still an Janis angelehnt, alles war still und Janis sprach: „freedom is just another word…“ Schrilles Kichern. Dunkel.
Mss. Maple sah auf die Insel, sehnsüchtig suchte sie die Musiker, sie wollte ihnen am liebsten folgen, dann realisierte sie langsam, daß sie allein in der Dunkelheit in einem Amphitheater im Central Park von New York saß, und vor ihr lagen etwa zwanzig tote Soldaten im blutroten Schnee. Von beiden Seiten kamen Männer in grauen Mänteln auf sie zu, sie hoben sie unter den Achseln, bis sie stand, „Wollen Sie bitte mitkommen!“, sagte einer von Ihnen, aber das hörte sie schon nicht mehr.