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Der Priester

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15.04.2005
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Der Priester

Der Priester


Seit rund achthundertfünfzig Jahren gibt es das Zisterzienserkloster Maulbronn in Württemberg. Im Januar des Jahres zwölfhundertsiebzig wurde dem leibeigenen Pächter Philipp Schwarz in einem namenlosen Dorf in der Nähe des Klosters ein Sohn geboren. Der Junge war das elfte Kind des Pächters und erhielt den Namen Hans. Die Familie wohnte, wie alle dreißig oder vierzig Einwohner des Dorfes, in einer elenden Kate, die aus rohen Ästen und Zweigen erbaut und mit Lumpen, Laub und Lehm notdürftig gegen Kälte und Nässe abgedichtet war. Der Innenraum bestand aus einer einzigen Stube mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte, für die sich im Dach eine Öffnung befand. Das Vieh der Pächter, eine Ziege und manchmal noch eine Kuh, übernachtete im gleichen Raum, in dem sich die Gerüche von Essen, Schweiß und Exkrementen mischten.
Die Gebärende lag auf einem stinkenden Lager aus Stroh, in das Blut und Fruchtwasser tropften. Als der Junge abgenabelt und die Reste der Geburt beseitigt waren, gab ihm die Frau die Brust. Dann erhob sie sich, ordnete ihre Röcke, die sie während der Niederkunft nicht abgelegt hatte, und ging an ihre Arbeit.
Der Junge, der da, eingewickelt in ein paar Lumpen, auf dem fauligen Stroh lag, war schwächlich und zart. Die dünnen Glieder schienen ungeeignet, jemals harte Fronarbeit zu leisten. Sein Schreien war kläglich und seine Chancen, das erste Lebensjahr zu vollenden, schienen gering.
Die Menge an Gerste, die man im vergangenen August geerntet hatte, war äußerst knapp gewesen, Hitze und Dürre hatten sie dezimiert. Dann hatten die Bauern warten müssen, bis der Feudalherr seinen Zehnten abgeholt hatte, was vorher an Regen gefehlt hatte, kam nun zuviel. Nässe ließ das Getreide auf dem Feld verfaulen.
Hans’ Mutter war nicht in der Lage, den Jungen zu stillen, die unzureichende Ernährung, die aus einer geringen Menge an halbverfaultem Getreide und verdorbenem Kohl bestand, ließ ihre Milchdrüsen austrocknen. Die sogenannte kleine Eiszeit, die bis in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts dauerte, hatte begonnen. Die Winter waren krachend kalt. Seit Wochen lag das Land unter der eisigen Umklammerung des Frostes. Ein halbes Dutzend Einwohner des Dorfes starb an Kälte, Hunger und Erschöpfung, darunter Hans’ Mutter.
Die wenigen dürren Grashalme, die die Ziege des Pächters unter dem tiefen Schnee noch fand, waren immerhin genug für einen Napf voll Milch, den man jeden Tag aus dem Tier molk. Die Ration für Hans’ Geschwister wurde noch geringer, als sie dies ohnehin schon gewesen war, galt es doch nun, den Säugling durchzubringen. Zwar machte es keinen großen Unterschied, ob die Schar der Kinder, die sich abends um die Feuerstelle sammelte, um eines größer oder kleiner war. Die ans Äffische grenzende Kinderliebe unserer Zeit war damals unbekannt. Ein Kind war während der ersten Lebensjahre ein unnützer Esser, der die Ration der anderen schmälerte und obendrein Aufmerksamkeit und Pflege verlangte. Doch es war die Pflicht eines Christenmenschen, die ihm von Gott anvertrauten Kinder durchzubringen, und Philipp Schwarz erfüllte seine Pflicht. Außerdem würde der Junge, sollte er nicht zu schwächlich sein, das an Versorgung und Mühe, was man ihm angedeihen lassen hatte, um ein Mehrfaches wieder hereinbringen.
Was keiner erwartet hatte, geschah. Der zarte Organismus des Jungen, der zu keinerlei Widerstand in der Lage zu sein schien, zog das an Nährstoffen und Energie aus der erbärmlichen Nahrung, was er zum Weiterbestehen benötigte. Hans überlebte den Winter, wenn auch schwach und elend. Die Ernte im Folgejahr war reicher, die Bauern hatten zum erstenmal seit langem wieder ausreichend zu essen. Hans nahm an Gewicht zu, seine Augen bekamen Glanz. Fortan nahm ihn sein Vater mit, wenn er zur Arbeit aufs Feld ging. Am Rande des Feldes saß der Kleine und verfolgte die Arbeit der Bauern mit wachen Blicken. Sprach ihn einer freundlich an, dann antwortete er mit einem strahlenden Lächeln. Keiner ahnte, daß er den Satan in sich trug.

Giovanni de Monacis fröstelte unter seiner dicken Kutte. Vor einem halben Menschenleben hatte er das sonnige Italien verlassen und noch hatte er sich nicht an die strengen Winter nördlich der Alpen gewöhnt. Es war März, noch immer lag Schnee auf den Kuppen des Schwarzwaldes. Die Luft war eisig an diesem Morgen, ein feiner Eisregen ging hernieder und machte den Gedanken, die Kutte ausziehen zu müssen, unerträglich. Die Regeln des Klosters Maulbronn schrieben tägliche Waschungen am Brunnen im Klosterhof vor.
De Monacis wußte aus Erfahrung, daß langes Zögern die Sache nur verschlimmerte. Mit einem Ruck entledigte er sich seines Gewandes. Winzige Eiskristalle trafen seine Haut und ließen ihn erschauern. Sein Oberkörper war übersät mit den Striemen der Geißel und zeugte von dem eifrigen Bemühen seines Besitzers, seinen Geist rein zu halten von bösen und wollüstigen Gedanken. De Monacis war feist, beinahe fett, mit hängendem Bauch und mit Brüsten wie eine Frau. Er war vierundzwanzig Jahre alt und ein Wrack. Das Kloster vergönnte seinen Insassen nur wenige Stunden Schlaf in der Nacht, es gab nirgends einen geheizten Raum. Die wenigen Stunden, in denen nicht gebetet wurde und keine Exerzitien stattfanden, waren harter körperlicher Arbeit vorbehalten. Maulbronn war autark, das Kloster besaß Felder und Äcker, die bebaut werden mußten, sowie Stallungen mit Vieh, das es zu versorgen galt.
Mit einem unterdrückten Wehlaut ging de Monacis daran, seinen Leib zu waschen. Seine Hände schmerzten in dem eiskalten Wasser, er schauderte, doch er zwang sich, die Vorschriften einzuhalten und sich nicht der Sünde der Nachlässigkeit schuldig zu machen. Wimmernd vor Kälte schließlich zog er sein Gewand mit inzwischen gefühllosen Händen wieder an und machte sich auf den Weg in den Chor, wo das Frühgebet stattfand.
Noch war es finster, die morgendliche Waschung fand wenige Stunden nach Mitternacht statt. Im Chorgestühl saßen, Gebete murmelnd, die Brüder. De Monacis nahm seinen Platz ein und versuchte, mit seinen Augen das Halbdunkel in dem Raum, in dem nur wenige Kerzen brannten, zu durchdringen. Dann begann er mit seinem Frühgebet und fiel durch das monotone Murmeln nach wenigen Augenblicken in einen Trancezustand, der ihn das Elend seines Lebens vergessen und ihm sein Ziel, eins zu werden mit dem Herrn, in leuchtenden Farben erscheinen ließ.
Das Frühgebet dauerte bis zum Morgengrauen, dann folgte die Morgenandacht. Anschließend wurde im Refektorium gefrühstückt. Dann ging es zur Arbeit in die Ställe und Werkstätten. Noch herrschte Frost, der Boden war gefroren und die Zeit der jährlichen Aussaat hatte noch nicht begonnen. Darum gab es auf den Feldern nichts zu tun. Doch Müßiggang wurde nicht geduldet, und irgendeine Arbeit fand sich immer in den weitläufigen Gebäuden, der Küche und der Scheune. Pflüge, Eggen und andere metallene Gerätschaften mußten vom Rost gereinigt und die ledernen Geschirre der Ochsen, die man vor die Pflüge spannte, mußten eingefettet werden, um sie vor Brüchigkeit zu bewahren. Die Arbeit wurde nur unterbrochen durch Gebete.
Das Abendessen wurde wieder im Refektorium eingenommen. Es dauerte eine halbe Stunde lang und diente nicht nur der Nahrungsaufnahme, sondern auch der Kontemplation, ohne die selbst der folgsamste unter den Brüdern seelischen Schaden genommen hätte. Es war die einzige Zeit des Tages, in der das für alle Brüder mit Ausnahme des Abtes und des Priors geltende Redeverbot aufgehoben war. Ausgehungert, wie er war, hätte de Monacis das Essen am liebsten heruntergeschlungen, doch er zwang sich zur Mäßigung. Maßlosigkeit war eine der sieben Todsünden und ziemte einem Mönche nicht. Ohnehin hatte de Monacis’ Fettleibigkeit den Prior veranlasst, ihm einen Fastentag in der Woche zu verordnen. Dieser Fastentag bedeutete eine harte Prüfung für den Mönch, wurden ihm doch an diesem Tag die gleichen Pflichten abverlangt wie sonst auch. Von den Gebeten wurde ihm keines erlassen und er hatte die gleiche harte Arbeit zu verrichten wie immer. Weichlinge waren für das Leben im Kloster Maulbronn nicht geeignet, wiewohl die ganze Epoche ihren Zeitgenossen das äußerste an Duldsamkeit, Stärke und Genügsamkeit abverlangte.
Alsbald tauschte de Monacis einige Bemerkungen mit Bruder Bernhard, einem hageren Schwarzbärtigen, das Ende der Pause sehr wohl im Sinn. Angenehm gesättigt durch einen Napf Gerstenbrei und eine Schale Milch und angeregt durch die Unterhaltung begann er zum erstenmal an diesem Tag so etwas wie Wohlbehagen zu spüren. Das Gespräch drehte sich um die tägliche Arbeit, um rheumatische Beschwerden, unter der in der feuchten Kälte, die in dem Kloster herrschte, die meisten litten, um Witterung und Wetter und andere Belanglosigkeiten und erheiterte de Monacis in einem Maße, dass er an sich halten musste, um nicht in unziemliches Gelächter auszubrechen.
Diesmal wurde das Abendessen, das den Höhepunkt des Tages bildete, jedoch unterbrochen durch Bruder Walther, der an der Pforte des Klosters Dienst tat. Er näherte sich de Monacis in der gebotenen Weile, denn Hast und Eile waren eines Mönches nicht würdig.
„Entschuldigt die Störung, Bruder Giovanni“, sprach er de Monacis an. „An der Pforte steht ein Bauer mit seinem Sohn. Der Junge hat eine böse Wunde am Arm und bedarf Eurer Fürsorge.“
In der Tat versorgte Maulbronn die leibeigenen Bauern im Umkreis in medizinischer Hinsicht. Die Bauern verdienten sich einige Kreuzer durch das Sammeln von Heilkräutern, die sie im Kloster ablieferten und die ihnen auch der Lehnsherr, Konrad von Bretten, nicht streitig machte. In der klostereigenen Apotheke stellten die heilkundigen Mönche daraus Salben, Tinkturen und Extrakte her.
In dieser Woche versah de Monacis den medizinischen Dienst. Ohne sich seinen Unmut über die Störung anmerken zu lassen, erhob er sich und begab sich in die Apotheke, in die man inzwischen den Bauern mit seinem Sohn gebracht hatte. Es handelte sich um Philipp und Hans Schwarz. Hans hatte eine Rißwunde am rechten Unterarm, die sich entzündet hatte. Der Arm war stark angeschwollen. Als de Monacis auf die Schwellung drückte, quoll dick und gelb der Eiter aus der Wunde.
Ächzend und mit der gebotenen Bedächtigkeit, mit der er seine Würde als Heilkundiger unterstrich, nahm de Monacis Platz auf einem Schemel und dirigierte den Jungen zwischen seine Knie. Dann untersuchte er die Wunde. Mit einer scharfen Klinge, an der noch die Reste der letzten Wundbehandlung klebten - von der Existenz von Bakterien ahnte man zu dieser Zeit noch nichts – öffnete er sie und drückte den Eiter heraus. Hans ließ die Prozedur ohne einen Laut des Schmerzes über sich ergehen.
„Wie ist das geschehen?“, fragte de Monacis den hinter ihm stehenden Vater, ohne den Blick von der Wunde zu nehmen. Zu seiner Überraschung antwortete Hans. Obwohl der Junge nach de Monacis’ Schätzung das vierte Lebensjahr gerade erst vollendet hatte, bediente er sich einer fließenden und fehlerfreien Sprache.
„Ich bin im Wald gestürzt und habe mir den Arm an einem Aststumpf aufgerissen“, sagte er. „Später hat sich die Wunde entzündet, und sie hat begonnen, zu eitern. Außerdem habe ich etwas Fieber bekommen.“
De Monacis entgegnete nichts. Er legte ein Pflaster aus Senfsamen auf, das das Gift aus der Wunde ziehen sollte, und verband den Arm mit einem sauberen Tuch. Dann gab er Hans ein Zeichen, die Apotheke zu verlassen.
„Wie alt ist der Junge?“, fragte er den Bauern, als er mit ihm allein war.
„Er ist gerade eben im fünften Jahr“, antwortete Philipp.
„Er spricht und denkt wie ein Achtjähriger“, sagte der Mönch. In der Tat beherrschte Hans, der im Januar seinen vierten Geburtstag begangen hatte, das Idiom der Bauern, das aus einem Wortschatz von einigen hundert Wörtern und einfachen Konstruktionen bestand, bereits vollständig.
„Einige von uns sind vom Herrn besonders gesegnet“, sagte Philipp, nicht ohne Stolz. „Sie besitzen Gaben und Talente, mit denen sie sich aus den übrigen hervorheben. Vielleicht ist er zu Besonderem ausersehen.“
„Das klingt sehr nach Hoffart“, tadelte de Monacis den Bauern. „Vergiß nicht, auch die Klügsten unter uns sind Kinder Gottes und nichts im Vergleich zur Allmacht des Herrn.“
„Gewiß nicht“, beeilte Philipp sich, zu versichern, der ob seiner Kühnheit rot angelaufen war.
„Wenn die Hitze nicht innerhalb von zwei Tagen aus der Wunde verschwindet, dann mußt du den Jungen noch einmal herbringen“, ordnete de Monacis an. „Sonst verliert er den Arm“.

Hans war zu dieser Zeit bereits im Kreise seiner Verwandten und der übrigen Bauern des Dorfes durch seine Intelligenz aufgefallen. Obwohl gerade erst vier Jahre alt, kannte er sämtliche fünfzig Einwohner des Dorfes von Angesicht und beim Namen. Sprach man ihn an, so antwortete er auf eine kluge und bedachte Art, ohne jemals altklug oder überheblich zu wirken, wie einige seines Alters.
Bei den Verrichtungen des täglichen Lebens bewies er besonderes Geschick. Keiner schaffte es so schnell wie er, das Feuer in dem aus rohen Steinen zusammengefügten Herd in der Mitte der Kate, das während des Tages nur schwelte, am Abend erneut anzufachen. Das Waschen der Kleidung in einem Bach, der an dem Dorf vorbeifloß, in einer Lauge aus Holzasche erledigte er so gut wie keines seiner älteren Geschwister. Beim Versteckspiel mit Gleichaltrigen war er der Geschickteste; stets erriet er die Verstecke der anderen, während er für sie nicht auffindbar war.
Zweifellos hätte de Monacis den Vorfall mit seinem durch jahrzehntelangen Schlafmangel und die täglich immer gleichen, monotonen Verrichtungen geschwächten Kopf bald vergessen, wenn ihm nicht wenige Tage später Hans erneut begegnet wäre. Es war von einem Tag auf den anderen heiß geworden, das jährliche Kräutersammeln hatte begonnen. De Monacis saß verdrießlich in der Klosterapotheke, einige Dutzend leinene Säckchen auf einem gedrechselten Tisch neben sich, die es mit den Namen der Heilkräuter zu beschriften galt. Die Arbeit würde ihn mit Sicherheit bis zum Abend beschäftigen, es war eine mühsame Plackerei, die Bezeichnungen mit schwarzer Tusche in akkurater Schrift auf den groben Stoff aufzutragen. Obendrein durfte er keines der Säckchen verderben, sie waren ihm anvertraut und er hatte mit den Ressourcen des Klosters schonend umzugehen. Doch de Monacis war ein folgsamer Mönch, der sich dem Müßiggang nicht hingab, ihn nicht einmal ernsthaft erwog, denn bereits dies wäre eine Sünde gewesen. Aus jahrelanger Erfahrung mit dem ‚ora et labora’ des Klosterlebens wußte er, daß nur der Anfang schwer war. Hatte man sich erst einmal überwunden, dann ging die Arbeit nach einiger Zeit leicht von der Hand.
Bis zum Mittag hatte er zwei Dutzend der Säckchen erledigt, der Haufen der unerledigten neben ihm wurde zusehends kleiner. De Monacis warf einen Blick auf die Sonne. Nach ihrem Stand und nach dem Hunger in seinen Eingeweiden zu urteilen war es Zeit für das Mittagsmahl, einen frugalen Imbiß, der das Gewicht der Ernährung nicht von dem reichhaltigeren Abendmahl nehmen sollte. Gleich würde die Glocke den Beginn des Essens verkünden. Eigentlich war es Zeit, sich auf den Weg ins Refektorium zu machen.
An der Tür, durch die der Sonnenschein hereinfiel, gab es eine Bewegung. De Monacis blinzelte in die grelle Sonne. Ein Junge stand in der Tür, einen Ballen Geißfuß, der zur damaligen Zeit Hinfuß oder Hinlauff genannt wurde, in seinen Händen. Unschlüssig sah er de Monacis an.
„Komm herein“, sagte der und machte eine einladende Handbewegung. „Zwar ist es gleich Essenszeit, doch ich glaube, ich kann deine Lieferung noch abwiegen.“
Der Junge trat heran, und jetzt erkannte ihn de Monacis. Es war Hans. Neugierig betrachtete er die leinenen Säckchen und die Schreibutensilien.
Auf einem Schemel stand eine Balkenwaage mit kupfernen Gewichten, auf der de Monacis das Sammelgut abwog. Es waren sechs Pfund, die Hans gesammelt hatte, und der Mönch zählte ihm seinen Lohn, drei Kreuzer, in die Hand. Er folgte dem Blick des Jungen.
„Weißt du, was ich hier mache?“, fragte er, um seine Frage sogleich selbst zu beantworten. „Ich beschrifte die Säckchen.“ Er nahm eines der Säckchen und deutete mit dem Zeigefinger auf die Beschriftung. „Hier steht ‚Hinlauff’.“
Hans betrachtete die Schriftzeichen und war erkennbar fasziniert.
„Dies ist ein ‚H’, dies ein 'i' und dies ein 'n', zusammen ergibt das 'Hin', wie in 'Hinlauf – weiter geht es dann mit einem 'l', siehst du?“
Auf diese Weise fortfahrend erklärte er ihm sämtliche Buchstaben in dem Wort, nahm danach die Säckchen mit Gorinsel und Augenwurtz zur Hand und erklärte ihre Beschriftung ebenfalls.
„Kann man auf diese Weise Gesprochenes festhalten?“, fragte Hans.
„Das kann man“, antwortete der Mönch, „und vieles von dem, was die Großen im Geiste gesagt haben, ist uns auf diese Weise überliefert.“
Hans hatte mit der ihm eigenen Intelligenz das Wesen der Schrift sofort erfaßt. Und nun machte sich de Monacis einer Sünde schuldig, keiner schlimmen Sünde zwar wie Neid oder Wollust, doch beichten würde er sie müssen, nach der Andacht am Sonntag. De Monacis war neugierig. Er war neugierig, ob dieser Bauernjunge, der ihn mit seiner Auffassungsgabe schon einmal beeindruckt und erstaunt hatte, die Intelligenz besaß, die Schriftzeichen, die er erst seit wenigen Augenblicken kannte, auf eines der Säckchen aufzutragen. Zwar riskierte er dabei, daß das Säckchen verdorben wurde, und bereits dieser Leichtsinn im Umgang mit Eigentum des Klosters stellte eine weitere Sünde dar, doch an diesem Morgen ritt de Monacis der Teufel.
Er reichte Hans den Pinsel und die Schale mit der Tusche.
„Möchtest du es einmal versuchen? Schreib einmal ‚Gorinsel'.“
Hans betrachtete den Pinsel und forschte in dem Gesicht des Mönchs. Da war kein Schalk, und auch Gemeinheit vermochte er keine zu entdecken. Offensichtlich war dies Angebot ernst gemeint. Zögernd ergriff er das Schreibgerät, drehte es, zu Beginn noch ungelenk, in seiner Hand. Zaghaft tauchte er den Pinsel ein, ergriff das Säckchen, das de Monacis ihm reichte, und setzte an zum ersten Strich. Die ersten zwei oder drei Buchstaben mißrieten ein wenig, dann jedoch hatte Hans bereits ein Gefühl für die Eigenheiten des Schreibgeräts und des Leinens entwickelt und erledigte den Rest der Aufgabe mit Bravour.
Er betrachtete sein Werk und reichte es dann dem Mönch, ungewiß, ob es Zustimmung erfahren würde.
„Das hast du sehr gut gemacht“, sagte de Monacis, „ich glaube fast, du hast bereits in dieser Viertelstunde lesen und schreiben gelernt.“

In den kommenden Wochen wurde Hans ein häufiger und gern gesehener Besucher des Klosters. Nicht nur de Monacis, sondern auch die anderen Mönche hatten immer wieder Gelegenheit, sich von seiner Klugheit zu überzeugen. Dann jedoch blieben Hans’ Besuche aus. Es war die Zeit der Aussaat, er hatte auf dem Feld zu helfen.
Philipp Achternbach, der Leiter des bischöflichen Priesterseminars zu Speyer, besuchte das Kloster. Maulbronn kelterte einen ganz hervorragenden Trollinger, und Philipp versäumte es nicht, sich jährlich ein Faß davon zu sichern.
Mit einem Zweispänner fuhr er die rund vierzig Kilometer über die sogenannte Kaiserstraße von Speyer nach Maulbronn – eine Strecke, für die er den halben Tag brauchte - und gab Walther an der Pforte des Klosters ein Zeichen. Der beeilte sich, Bernhard Schwarzbach, dem Abt, Bescheid zu geben. Alsbald kam denn auch Bernhard heran und breitete die Arme aus, um Philipp zu begrüßen.
„Holt ein Faß herbei und verstaut es auf dem Wagen“, wies Bernhard zwei der Brüder an, die sich diensteifrig daran machten, den Auftrag zu erfüllen. „Gehen wir doch ins Refektorium“, schlug Bernhard dann seinem Gast vor. „Es ist angenehmer dort als in meinem engen Officium.“
Im Refektorium nahmen Bernhard und Philipp an einem etwas abseits stehenden Tisch Platz, der dem Abt, dem Prior und Gästen wie Philipp vorbehalten war. Die Ankunft Philipps verursachte einige Unruhe unter den Mönchen, die gerade ihre Abendessen einnahmen und nur selten ein fremdes Gesicht zu sehen bekamen. Eine Weile herrschte unziemliches Getuschel, dann gab Bernhard durch ein Zeichen zu verstehen, daß wieder Ruhe einzukehren hatte, wollte man den Gast nicht brüskieren.
Wein wurde für Philipp herbeigebracht, während Bernhard sich mit einer Schale Quellwasser begnügte. Einige Minuten ließ der Abt verstreichen, um sich nicht der Sünde der Neugier schuldig zu machen und dem Gast Gelegenheit zu geben, sich einzugewöhnen.
„Wie geht es Euch, Philipp?“, fragte er dann.
Der breitete die Arme in einer vielsagenden Geste aus.
„Es geht mir nicht gut, Bernhard“, sagte er dann. „Viele wohlhabende Bürger und Kaufleute schicken mir ihre Söhne, auf daß ich sie in Latein und Griechisch unterrichte und auf ein Priesteramt vorbereite. Freilich, es macht sich gut, einen Priester in der Familie zu haben. Keine Institution ist so reich wie die Kirche, und ein Handwerker, dessen Sohn ein kirchliches Amt hat, bekommt plötzlich fette Aufträge. Deswegen schicken sie mir ihre Kinder und zahlen gerne die zwanzig Taler, die der Unterricht jährlich kostet. Sie meinen, mit diesem Obolus ihre Schuldigkeit erfüllt zu haben, und können gar nicht verstehen, daß es zu einem Priester mehr braucht als die Bezahlung der Gebühr. Verstand bräuchten diese Handwerkersöhne, denn lateinische Grammatik ist etwas anderes als das Hantieren mit Hammer und Hobel. Sie haben unfähige Köpfe und sind nicht in der Lage, den Lehrstoff zu bewältigen, egal, wie sehr ich mich bemühe, ihnen den Stoff einzutrichtern. Später werden sie der Kirche Schande machen.“
Er machte ein so bekümmertes Gesicht, daß Bernhard die Regeln des Anstandes vergaß, die Distanz und Zurückhaltung vorschrieben, und ihm begütigend die Hand auf den Arm legte.
„Das ist gewiß ein mißlicher und trauriger Umstand“, sagte er und zog seine Hand zurück. „Keiner sieht es gerne, seine Mühe umsonst geleistet zu haben. Doch ist dies kein Grund, an der eigenen Person zu zweifeln. Was könnt Ihr dafür, wenn Eure Schüler den Kopf nicht haben, um von Eurem Unterricht zu profitieren. Einen Esel kann man kein Griechisch lehren.“
Philipp lachte gallig. „Dies ist leicht gesagt“, entgegnete er. „Doch leider bin ich nicht in der Lage, mich auf diese Weise von aller Verantwortung freizusprechen. Jetzt haben wir März. Im Herbst kommt, wie alle fünf Jahre, der päpstliche Kurator aus Rom, um meine Schüler zu prüfen, und wenn der sieht, daß sie den Ablativ nicht vom Vokativ unterscheiden können, streicht er mir die Zuwendungen. Vielleicht entzieht er mir sogar die Lehrerlaubnis.“
Während dieser letzten Worte hatte er sich zu Bernhard hinübergebeugt und die Worte nur geraunt, doch Giovanni de Monacis, der in der Nähe saß, hatte sie dennoch vernommen. Ihm fiel der Bauernjunge ein, den er vor wenigen Wochen medizinisch versorgt hatte und der seither ihn und seine Mitbrüder so manches mal erstaunt hatte. Dieser über alle Maßen kluge und begabte Junge wäre gewiß ein Schüler nach Philipps Geschmack gewesen, doch ziemte es einem einfachen Mönch nicht, einem Herrn wie Philipp einen Rat zu geben. Dies galt umso mehr, als dieser Rat das Geständnis beinhaltet hätte, Zeuge der Worte Philipps geworden zu sein. Eine Weile verharrte de Monacis unschlüssig, dann jedoch konnte er nicht länger an sich halten, sein Wissen Philipp mitzuteilen.
De Monacis erhob sich und trat gesenkten Blickes vor den Tisch Philipps und Bernhards. Dort verbeugte er sich tief.
„Verzeiht mir mein Kühnheit, gnädiger Herr“, sagte er. „Es steht mir nicht an, Euch anzusprechen und noch viel weniger darf ich es wagen, Euch einen Rat zu erteilen. Doch rein zufällig wurde ich Zeuge Eurer Worte, und ich glaube, ich wüßte jemanden, der mit Latein und Griechisch glänzend zurecht käme. Er ist nur ein Bauernsohn, sehr jung noch obendrein – er hat gerade das vierte Jahr vollendet – doch er spricht eine einwandfreie und korrekte Sprache. Ich habe ihn versorgt vor einiger Zeit und hatte seither oft Gelegenheit, mir von seiner Begabung einen Eindruck zu verschaffen.“
Mit gesenktem Kopf blieb er abwartend stehen. Philipp und Bernhard tauschten einen Blick.
„Sprecht, Bruder Giovanni“, forderte ihn dann Bernhard auf. „Erzählt uns von Eurer Begegnung. Und gebt ausführlichen Bericht.“
In allen Einzelheiten schilderte de Monacis seine Begegnung mit dem Bauern und dessen begabten Sohn, der sich so überhaupt nicht seinem Alter gemäß geäußert hatte und ihm durch seine Sprachgewandtheit aufgefallen war. Er erwähnte eine Reihe von Begebenheiten, bei denen die Klugheit des Jungen augenfällig geworden war. Von dem Schreibexperiment berichtete er nichts, wäre dies doch einem Geständnis gleichgekommen, mit Eigentum des Klosters leichtsinnig umgegangen zu sein.
„Leider vergaß ich, ihn nach seinem Namen zu fragen“, schloß er seinen Bericht. „Ich wußte auch nicht, daß der Junge sich noch einmal als wichtig für mich oder – verzeiht mir meine Kühnheit – für den gnädigen Herrn erweisen würde. Ich glaube jedoch, daß es nicht schwer sein wird, ihn ausfindig zu machen. Eins ist gewiß: er stammte aus einem der Dörfer in der Umgebung, und so viele davon gibt es nicht.“

Philipp Achternbach gab nicht viel auf die Schilderung de Monacis’. Da hatte gewiß ein übereifriger und außerdem einfältiger Mönch das Gras wachsen hören. Was sollte ihm schon ein Bauernjunge, obendrein erst vier Jahre alt, in seiner Situation helfen? Wer hatte jemals einem Bauerntölpel Gelehrsamkeit in den grindigen Kopf getrichtert? Nein, er mußte seine Schüler stärker fordern, mußte strenger und unnachgiebiger werden in ihrer Bewertung, durfte ihnen keine Nachlässigkeiten mehr durchgehen lassen. Man konnte alles entschuldigen mit einem angeblichen Mangel an Begabung, wo doch die Faulheit der eigentliche Grund war. Es war noch kein Meister vom Himmel gefallen, und selbst der große Thomas von Aquin wäre nichts geworden ohne tägliche, angestrengte Studien. Er würde ihnen die Laxheit schon austreiben, sie würden künftig zwei Stunden früher aufstehen und, statt sich faul im Bett zu wälzen, griechische und lateinische Grammatik üben, bis sie in diesen Sprachen ebenso bewandert waren wie in ihrer deutschen Muttersprache.
Der Stock trat in Aktion im Priesterseminar zu Speyer. Philipp bestrafte jeden Schüler, der etwas Falsches antwortete oder die Antwort schuldig blieb, unnachgiebig. Nach wenigen Wochen hatten sich seine satten und selbstzufriedenen Kaufmannssöhne in einen Haufen schlotternder Angsthasen verwandelt, die vor jeder Prüfung lernten, bis ihnen der Schädel rauchte, und vor Philipp zitterten.
Doch die Wochen vergingen, und es war kein Fortschritt feststellbar. Es wurde April, es wurde Mai, und noch immer plagten sich die Schüler mit lateinischer und griechischer Grammatik, ohne auch nur die Grundbegriffe zu verstehen. Sie waren weit davon entfernt, das geschliffene Idiom eines Ovid zu begreifen, noch verstanden sie die fein abgestimmte und harmonische Sprache eines Tacitus. Was die Großen im Geiste niedergeschrieben hatten und was die Möglichkeiten dieser großen und unvergleichlichen Sprachen ausschöpfte, war ihnen völlig unerreichbar. Es war ärgste, derbste Holzhackerei, was sie von sich gaben, holprig und unschön, strotzend vor Fehlern und Ungereimtheiten. Was ihnen an sprachlicher Begabung fehlte, das machten sie durch ein tieferes Verständnis der Philosophie nicht wett. Um die pointierte und facettenreiche Anzüglichkeit eines Aischylos zu verstehen, waren sie zu dumm, und die tiefsinnige Philosophie eines Marc Aurel hätte Philipp ebenso gut dem Vieh im Stall vortragen können.
Erneut geriet Philipp in Bedrängnis. Der Herbst rückte unerbittlich näher. Der päpstliche Kurator würde ihm erbarmungslos die Lehrerlaubnis entziehen, wenn er auf diesen tumben Haufen traf.
In seiner Not griff Philipp nach dem Strohhalm, den die Schilderung des feisten Mönches vor ein paar Wochen darstellte. An einem Samstagmorgen sattelte er sein Pferd und machte sich auf den Weg zum Kloster.
Heiß brannte die Sonne herab. Auf den Feldern arbeiteten die Bauern. Philipp hielt an und gab einem von ihnen ein Zeichen. Zögernd, die Furcht ins Gesicht geschrieben, kam der Mann näher.
„Ich suche einen Bauern, der einen etwa vierjährigen Sohn besitzt. Der Junge hatte vor einigen Wochen eine Wunde am Arm. Sie ist im Kloster Maulbronn versorgt worden.“
Dem Mann war anzusehen, daß er sein Hirn zermarterte. Die Furcht vor Strafe, dem Herrn nicht dienlich sein zu können, trieb ihn an. „Es tut mir leid, Herr“, sagte er dann. „Ich kenne keinen solchen Bauern.“ In demütiger Haltung und der Erwartung eines Schlages stand er da. Doch Philipp stand der Sinn nicht danach, elende Bauern zu quälen. Er erhob sich in den Steigbügeln.
„Kommt alle mal her!“, rief er, und die Bauern, Männer und Frauen, die in gebückter Haltung auf dem Feld gearbeitet hatten, erhoben sich, betrachteten ihn stumm einen Augenblick lang und kamen dann folgsam heran.
Philipp wiederholte sein Anliegen. „Wenn mir einer von euch weiterhelfen kann, dann soll es sein Schaden nicht sein“, sagte er, öffnete seinen Beutel, den er am Gürtel trug, und entnahm ihm einige Kreuzer. „Diese Summe hier bekommt derjenige, der mich zu dem Bauern führt.“
Lange wollten es die Bauern nicht glauben, die elenden Mienen blieben unbewegt. Doch dann zeichnete sich Begehrlichkeit auf den ausgemergelten Gesichtern, gemischt mit Zweifeln, ob das Angebot denn auch ernst gemeint war, oder ob bloß wieder einer der Herren sie behandelte wie das Vieh in den Ställen.
„Habt keine Angst“, sagte Philipp, „es geschieht euch nichts. Dieses Geld hier für den Namen des Bauern.“
Die Bauern tauschten einige Blicke, dann ergriff einer, der ihr Anführer zu sein schien, das Wort.
„Wir bedauern sehr, Euch nicht helfen zu können, Herr“, sagte er. „Nur zu gerne würden wir uns das Geld verdienen, denn wir führen ein elendes Leben. Aber keiner von uns kennt diesen Mann.“
Bis in den Nachmittag hinein ritt Philipp die Gegend um das Kloster ab, fragte die Bauern auf den Feldern und suchte gar ihre elenden Behausungen auf, doch all seine Mühe war vergebens. Der Bauernjunge war unauffindbar.
Zurück im Priesterseminar war er tagelang unansprechbar. Die Schüler bekamen seinen Zorn zu spüren, er verbleute sie in einem Maße, daß selbst die robustesten unter ihnen nachts auf dem Bauch schlafen mußten.
Am Mittwoch der folgenden Woche klopfte es heftig an Philipps Officium. Draußen stand Thomas Wülferding, der zwölfjährige Sohn eines reichen Stuttgarter Kaufmanns.
„Ein hoher Herr ist vorgefahren“, sagte er. „Er hat einen Jungen dabei.“
Es war Bernhard Schwarzbach in einem Zweispänner. Neben ihm auf dem Kutschbock saß ein kleiner, blonder Junge, der Philipps Blick ruhig standhielt.
„Dies ist der Junge, den Ihr sucht, Philipp“, sagte Bernhard. „Die Bauern haben mir von Eurer Suche berichtet, und ich habe selbst einige Anstrengungen unternommen, ihn zu finden. Konrad von Bretten habe ich drei Taler gezahlt für die Überlassung des Jungen.“
„Kommt herein“, sagte Philipp. „Esst und trinkt mit mir. – Wie heißt du?“
Diese Frage galt Hans, der seinen vollen Namen nannte. Drinnen zahlte Philipp dem Abt die drei Taler, die er ausgelegt hatte, aus seiner Privatschatulle zurück. Beim Mittagstisch wurde ihm die Zeit dann lang, denn Bernhard dachte nicht daran, sich zu beeilen, sondern griff herzhaft zu und unterbrach sein Mahl immer wieder durch wortreiche Schilderungen seiner Suche nach Hans.
Dann endlich verabschiedete er sich. Philipp hatte Gelegenheit, sich mit dem Jungen zu befassen. Während des Mittagessens war er schweigsam gewesen, hatte jedoch das Gespräch der beiden Männer mit offenen Ohren verfolgt. Eines war Philipp sogleich aufgefallen: der Junge war hellwach und konzentriert, zappelte nicht herum wie andere seines Alters und scharrte auch nicht mit den Füßen. Nun saß er erwartungsvoll da und begegnete Philipps prüfendem Blick völlig unerschrocken.
„Weißt du, daß es noch andere Sprachen gibt als die, die wir beide täglich gebrauchen?“, fragte Philipp.
„Ja, Herr“, sagte Hans. „Im Winter kam ein toskanischer Wanderprediger durch unser Dorf, der unsere Sprache nur schlecht beherrschte. Ich habe ihn italienisch sprechen hören, es klang seltsam.“
Bereits mit diesen beiden Sätzen versetzte Hans den Philipp Achternbach, genau wie einige Wochen zuvor den feisten Mönch, in helles Erstaunen. Hans sprach nicht die naive Sprache eines Vierjährigen, weder vom Sinngehalt des Gesagten her noch von der Wortwahl oder der Aussprache. Er sprach und dachte wie ein Zehnjähriger. Dies machte Philipp erneut hoffen, in ihm den ersehnten begabten Schüler gefunden zu haben, wenn er auch immer noch kaum glauben konnte, daß ein Vierjähriger in der Lage sein sollte, komplizierte lateinische Grammatik zu begreifen. Nun, er würde sehen.
„Hast du jemals von einer Sprache gehört, die man ‚Latein’ nennt?“, fragte er weiter.
„Nein, Herr“, antwortete Hans.
„Latein war die Sprache eines Volkes, das vor weit über eintausend Jahren ein Reich errichtet hatte, das ganz Europa und einen großen Teil Afrikas und Asiens umfaßte. Man nannte es Rom, und seine Hauptstadt trug den gleichen Namen und steht heute noch. Sie ist der Sitz des Papstes, des obersten Hirten der katholischen Kirche. Weil man in Latein sehr komplizierte Sachverhalte ausdrücken kann, wird es bis heute von Theologen und Philosophen benutzt, um wissenschaftliche Werke zu schreiben. Verstehst du, was ich sage?“
„Nicht ganz, Herr, denn Ihr gebraucht Wörter, die ich noch nie gehört habe. Immerhin habe ich verstanden, daß diese Sprache etwas sehr Wertvolles sein muß.“
„Das hast du völlig richtig erkannt. Mit dieser Sprache hat es nun eine besondere Bewandtnis. Einen Satz wie ‚Noch hatte niemand ein Einsehen’ übersetzt man ins Lateinische als ‚Niemand hatte ein Einsehen’. Das Wort ‚noch’ gibt es in diesem Zusammenhang in Latein nicht, doch ein guter Übersetzer der Sprache erkennt, wo es in der deutschen Übersetzung zu stehen hat. Verstehst du, es ist sehr schwer, diese Sprache gut zu sprechen, es ist nicht immer auf Anhieb klar, was ein Satz zu bedeuten hat. Das liegt an der Kompliziertheit dieser Sprache. Möchtest du einmal einen lateinischen Satz von mir hören?“
„Ja, Herr“, sagte Hans, neugierig geworden auf diese Sprache, die Philipp so hoch lobte.
„Hör genau zu: ‚Fecerat exiguas iam sol altissimus umbras’. Wie klingt das in deinen Ohren?“
Hans lauschte dem Klang der lateinischen Worte nach. Erkennbar übten sie eine Faszination auf ihn aus.
„Das klingt sehr fremdartig und etwas streng“, sagte er. „Es macht neugierig. Man möchte wissen, was diese Worte zu bedeuten haben.“
„Ein Dummkopf übersetzt sie mit: ‚Die Mittagssonne machte kleine Schatten’. Ihr wahrer Sinn ist geringfügig anders. Denk an das, was ich dir vorher über die Übersetzungen vom Lateinischen ins Deutsche gesagt habe, und bedenke, daß das Prädikat in diesem Satz – das ist die Tätigkeit, um die es geht – nicht ‚machen’, sondern ‚verkleinern’ ist.“
Philipp erhob sich und ging unruhig in dem Officium auf und ab. Der entscheidende Moment war gekommen. Gleich würde sich herausstellen, ob dieser Bauernjunge intelligent genug war, die lateinische Sprache zu begreifen und ihm seine Stellung zu retten. Er blieb hinter Hans’ Stuhl stehen.
„Nun, was, glaubst du, heißt dieser Satz in einer guten Übersetzung?“
Eine Minute verstrich, ohne daß Hans antwortete. Philipp nahm seine ruhelose Wanderung durch sein Officium wieder auf. Panik begann sich in ihm breitzumachen, gleichzeitig schalt er sich einen Narren, sich jemals Hilfe von einem Kind erhofft zu haben. Da war wohl der Wunsch der Vater des Gedankens gewesen, und er hatte sich in völliger Verkennung der Realität zu einem unüberlegten Schritt verleiten lassen.
„Vielleicht heißt der Satz: ‚Schon hatte die Sonne die Schatten verkleinert’“, sagte Hans.
Das war genau die Übersetzung, die Philipp zu hören inbrünstig gehofft hatte, denn sie war die einzig richtige. Damit hatte Hans seine Eingangsprüfung glänzend bestanden. Philipp spürte grenzenlose Erleichterung, ließ sich jedoch vor Hans nichts anmerken, um seine Würde zu wahren.
„Möchtest du diese Sprache erlernen und ein Diener der Kirche werden?“, fragte er. „Du wärest ein angesehener Mann, man würde den Hut vor dir ziehen.“
„Ja, Herr“, sagte Hans.

Hans enttäuschte die Erwartungen, die Philipp in ihn setzte, in keiner Weise. In den kommenden Wochen und Monaten arbeitete er sich in einem schier unglaublichen Tempo in die Anfangsgründe der lateinischen und griechischen Sprache ein. Selbst die Grundbegriffe der Theologie und Philosophie erschlossen sich dem Viereinhalbjährigen, wiewohl Hans seine Kommilitonen im gleichen Maß an Intelligenz und Auffassungsvermögen überragte, wie er ihnen an Alter und Körperkraft unterlegen war.
Im Oktober erschien dann der päpstliche Kurator, Monsignore Bertrand Vandermond, ein Flame, der seit Jahrzehnten in Diensten des Heiligen Stuhls stand und von Papst Gregor X. die Aufsicht über die Gebiete nördlich der Alpen erhalten hatte. Vandermond betreute rund zwei Dutzend Priesterseminare. Er verwaltete die eingenommenen Gelder und wachte darüber, daß die Ausbildung der Zöglinge den Vorgaben des Heiligen Stuhls entsprach.
Er war ein Mann Anfang der Fünfzig, ein für die damalige Zeit unerhörtes Alter, und verunsicherte die Schüler Philipps durch sein strenges, tief zerfurchtes Gesicht, das von einem eisgrauen Bart und schütterem Haar von der gleichen Farbe umrahmt wurde. Seine Augen waren eisblau und hellwach.
Die Schüler hatten sich in dem Lehrsaal im Seminar eingefunden. Vandermond stand vor der Klasse und musterte die Zwölf- bis Vierzehnjährigen, unter denen Hans allein schon durch sein Alter auffiel. Ob Vandermond erstaunt oder irritiert war, ein Kind unter diesen fast Erwachsenen vorzufinden, verriet er nicht. Als er die ersten Fragen an die Klasse richtete, war es wieder Hans, der aus der Reihe fiel, diesmal durch sein fundiertes Wissen. In der Tat war er der einzige, der die Prüfung Vandermonds voll bestand. Die Bemühungen Philipps waren, was den Rest der Klasse anbelangte, erfolglos geblieben, und es hätte keinen Bertrand Vandermond, einen ausgezeichneten Kenner der lateinischen Sprache, gebraucht, um die fehlende Begabung dieser Schüler zu erkennen.
„Seit wann ist dieser Junge bei Euch?“, fragte Vandermond anschließend. Er und Philipp befanden sich im Officium.
„Seit Mai“, gab Philipp zu. Dies kam dem Eingeständnis gleich, während der viereinhalb Jahre zuvor ausschließlich einen tumben Haufen unterrichtet zu haben, bei dem sämtliche Anstrengungen vergeblich waren.
Vandermond schwieg. „Hatte er schon einmal Unterricht?“, fragte er dann.
Philipp verneinte. „Was er weiß, hat er hier gelernt.“
Wieder schwieg der Flame. Er wirkte nicht verärgert. Philipp atmete vorsichtig auf. Vandermond schien nicht die Absicht zu haben, ihm die Lehrerlaubnis zu entziehen.
„Wenn man bedenkt, wie klein der Junge noch ist, dann sind seine Fähigkeiten kaum zu begreifen“, sagte Vandermond. „Er hat alles, was er weiß, in einem knappen halben Jahr gelernt hat und das in einem Alter, in dem andere ihre Muttersprache nicht beherrschen. Dieser Junge scheint in einem besonderen Maße mit Gaben bedacht worden zu sein. Man wird sehen, wozu er in der Lage ist, später, in ein paar Jahren. Ich werde dem Heiligen Stuhl Bericht erstatten über dieses Kind.“
„Ich habe auch den anderen strengen Unterricht erteilt“, beeilte Philipp sich zu versichern, „gewiß wird der eine oder andere tüchtige Geistliche daraus.“
Vandermond zog eine Braue in die Höhe. „Strapaziert meine Geduld nicht, Philipp“, sagte er. Zum ersten Mal war so etwas wie Groll in seiner Stimme. Philipp zuckte zusammen. „Ihr und ich, wir wissen, daß der Rest der Klasse die Mühe nicht lohnt. Verkauft mich nicht für dumm, ich warne Euch. Daß ich Euch die Lehrerlaubnis nicht entziehe, das habt Ihr ausschließlich diesem Kind zu verdanken. Erteilt ihm den besten Unterricht, den Ihr vermögt. Ich werde mich nach ihm erkundigen.“

Hans befand sich in der Situation eines halbverdursteten Wüstenwanderers, der unversehens auf eine Oase trifft. Das langweilige und eintönige Dorfleben hatte ihm so gut wie keinen Reiz geboten, um seine geistigen Bedürfnisse zu stillen. Wie alle Hochbegabten drängte es ihn danach, seine Intelligenz zu erproben und zu schulen. Mit großem Einfallsreichtum war er während der Zeit im Dorf daran gegangen, Spiele zu ersinnen, die ihn und die anderen Kinder des Dorfes geistig forderten, war jedoch oft auf Unverständnis gestoßen und hatte vor allem niemanden gefunden, der es mit ihm aufgenommen hätte.
Die Gedanken der großen Theologen und Philosophen wie Thomas von Aquin und Albertus Magnus und mehr noch die Regeln der lateinischen und griechischen Grammatik bedeuteten für ihn einen unfaßbaren Schatz an geistigen Kleinodien. Nachdem er eine anfängliche Unsicherheit und Befangenheit überwunden hatte, nutzte er diese einmalige Gelegenheit, sich an der Quelle des Wissens zu befinden, und stillte seinen gewaltigen Wissensdurst. Er war sich trotz seiner erst viereinhalb Jahre der Tatsache sehr wohl bewußt, daß ihm ein großes Glück widerfahren war.
Philipp Achternbach schloß den Jungen in sein Herz. Fast täglich lieferte ihm Hans neue Beweise seiner Intelligenz. Bereits im siebten Lebensjahr war er in der Lage, den kosmologischen Gottesbeweis des Aristoteles und den Kausalbeweis der Existenz Gottes von Albertus Magnus zu erörtern. Trotz aller Frühreife und Hochbegabung wirkte er dabei kindlich und schutzbedürftig.
Vandermond machte seine Ankündigung wahr und erkundigte sich einmal im Jahr nach Hans´ Fortschritten. Seine Berichte legte er schriftlich nieder. So kam es, daß in den Archiven des Vatikans eine Akte über einen minderjährigen und noch namenlosen Bauernsohn existierte.
Hans ging in der Bibliothek in Speyer nach Belieben ein und aus, die Erlaubnis dazu hatte er von Philipp. Der Unterricht, der den anderen erteilt wurde, reichte für ihn nicht, er erhielt eine besondere Förderung, die seinem geistigen Format gerecht wurde. Oft erkundigte sich der Bischof nach ihm, gelehrte Herren aus dem Domkapitel kamen eigens herbei, um mit diesem ungewöhnlichen Kind theologische Probleme zu diskutieren und sich von seiner Intelligenz zu überzeugen.
Soviel Bevorzugung mußte den Neid der anderen Schüler erregen. In der ersten Zeit war Hans, einfach weil er wesentlich jünger und schwächer war als die anderen, nicht für voll genommen worden. Im Schlafsaal hatte man ihm den Platz gleich neben dem Fenster, wo es im Winter kalt und zugig war, zugewiesen. Bei den derben Spielen der anderen war er ausgeschlossen, man hänselte ihn und quälte ihn mit Gemeinheiten. Als offenbar wurde, daß die anderen ihm geistig hoffnungslos unterlegen waren, begann sich Haß zu regen.
Philipp sah den Haß und den Neid sehr wohl, und auch die Gemeinheiten, mit denen man Hans schurigelte, entgingen ihm nicht. Er hütete sich jedoch, einzugreifen, wohl wissend, daß sich Hans den Respekt der anderen allein verschaffen mußte.
„Wie kommst du zurecht?“, erkundigte er sich manchesmal vorsichtig, wenn Hans über Gebühr mit blauen Flecken übersät war oder morgens mit einer blutigen Nase auftauchte. Philipp war bereit, einzugreifen, sollten die Schüler das eben noch erträgliche Maß übersteigen. Hans pflegte auf diese Fragen zu lächeln und die Besorgnis Philipps zu zerstreuen. Philipp gewann die Überzeugung, daß Hans über diesen Dingen stand und sie als aus der Situation geborene Unbilligkeiten und Härten hinnahm, die ihn jedoch in seinem Drängen nach Wissen und Bildung nicht irre machen konnten. Zudem schien Hans ein Ausbund an Sanftmut zu sein, der zu Haß oder Wut gar nicht fähig war. Noch nie hatte Philipp ihn zornig gesehen. Doch zumindest in dieser letzten Hinsicht täuschte Philipp sich.
Thomas Wülferding, der Kaufmannssohn aus Stuttgart, inzwischen fünfzehn Jahre alt und kurz vor seiner Abschlußprüfung, tat sich im Bemühen, dem siebenjährigen Hans das Leben schwer zu machen, besonders hervor. Er drangsalierte Hans bei den täglichen Mahlzeiten, verhöhnte ihn im Schlafsaal, zwang ihn zu allerlei niederen Arbeiten und Verrichtungen und hetzte die anderen noch zusätzlich gegen ihn auf. Eines Tages fand man ihn mit eingeschlagenem Schädel in einem Waldstück in der Nähe des Seminars. Eine Stunde später erschien der Richter bei Philipp und brachte den Büttel gleich mit. Offensichtlich suchte man den Täter unter den Schülern.
Bei der Befragung der Klasse durch den Richter kristallisierte sich zu Philipps Bestürzung mehr und mehr heraus, daß Hans der einzige war, der kein Alibi besaß. Noch dazu war er von einigen Schülern dabei beobachtet worden, wie er kurz nach Thomas Wülferding das Seminar verlassen hatte.
„Wohin bist du gegangen?“, fragte der Richter Hans, und als Philipp in Hans´ Augen sah, wurde ihm in einem entsetzlichen Moment deutlich, daß der Verdacht gegen diesen Jungen, seinen Liebling, der mit seiner Begabung und seinem frühreifen Charme alle Erwachsenen in seiner Umgebung bezauberte, auf Wahrheit beruhte. In diesem Moment brach für Philipp eine Welt zusammen. Sein Weltbild bekam Risse, denn bislang hatte er es nicht für möglich gehalten, daß ein Genie wie Hans, ein so göttlich begnadetes Kind, zu einer solchen Tat fähig sein konnte. In seiner Vorstellung war eine Begabung wie die von Hans gottgegeben und konnte sich unmöglich mit Schlechtigkeit und Niedertracht paaren. Doch nun sah er ein, daß bei der Zeugung Hans´ der Satan ebenso Pate gestanden hatte wie der Schöpfer, und daß er sich in diesem Kind gründlich getäuscht hatte. Hinter dem zaghaften Lächeln dieses Jungen steckte eine Eiseskälte, die Philipp erschreckte. Doch sollte alle bisherige Mühe, die man für Hans´ Ausbildung geleistet hatte, umsonst gewesen sein und sollte man ein Genie, wie es alle fünfzig Jahre nur einmal geboren wurde, der Justiz überlassen? In dieser Zeit verfuhr man mit Bauernsöhnen nicht eben zimperlich, und wenn einer in den Verdacht einer Gewalttat geriet, dann fackelte man nicht lange und knüpfte ihn am nächsten Baum auf. Daß Hans in den Vorzug einer richterlichen Befragung gekommen war, hatte er dem Umstand zu verdanken, daß er dem Priesterseminar angehörte. Doch auch diese Einrichtung konnte sein Leben nicht retten, sollte sich seine Schuld herausstellen.
„Hans war bei mir im Officium“, ließ sich Philipp vernehmen. Der Richter wandte den Kopf.
„Der Junge war bei Euch?“
Philipp bestätigte durch ein Nicken. „Er war den ganzen Tag bei mir. Wir haben ein theologisches Problem diskutiert.“
Hans war außer Philipp der Einzige im Raum, der wußte, daß dies nicht der Wahrheit entsprach und daß Philipp log, um ihn zu retten. Doch in der Folgezeit ging er kein einziges Mal auf diesen Umstand ein. Er schien das Verhalten Philipps für selbstverständlich zu halten. War er mit Philipp allein, dann sprach er ebenso unbefangen wie vorher und reagierte auf Fragen mit seinem kindlichen Lächeln. Eine Weile hoffte Philipp, daß Hans sich ihm offenbaren möge, hätte dies doch auf ein Mindestmaß an Anstand und Moral schließen lassen, wenn Hans schon keine Gewissensbisse zu empfinden schien. Philipp litt unter der Situation, zum Mitwisser und Helfer eines Mörders geworden zu sein, und die schiere Selbstverständlichkeit, mit der dieses Kind seine Hilfe, durch die er selber schuldig geworden war, annahm, erschreckte und ärgerte ihn. Hans wurde ihm unheimlich.
Dann jedoch gewann die Bewunderung für die außergewöhnliche Intelligenz des Jungen die Oberhand. Philipp verdrängte die Tat mehr und mehr. Er stürzte sich mit Hans in komplizierte theologische Erörterungen und diskutierte die schwierigsten philosophischen Fragen mit ihm. „Er ist nicht mit gewöhnlichen Maßstäben zu messen.“ Damit beruhigte er sein Gewissen, wenn er nachts wach lag und darüber nachdachte, wen er da eigentlich beherbergte.

Hans war Thomas Wülferding nach einem Nachmittag im Seminar tatsächlich gefolgt, hatte ihn auf Schleichwegen überholt und abgepaßt und ihm mit einem eigens mitgebrachten Axtstiel den Schädel eingeschlagen. Er war unbestritten der Mörder des fünfzehnjährigen Kaufmannssohnes, nur sein Motiv war ein völlig anderes, als Philipp annahm.
Die Provokationen und Widerwärtigkeiten, mit denen die anderen dem mehrere Jahre Jüngeren zusetzten, erreichten ihn gar nicht. Philipp hatte sich nicht getäuscht, als er annahm, daß Hans über diesen Dingen stand.
Hans hatte in den drei Jahren, die er sich nun im Priesterseminar befand, zu seiner Bestimmung gefunden. Ohne die täglichen geistigen Herausforderungen, die die Beschäftigung mit Latein, Griechisch und der Philosophie und Theologie bedeuteten, erschien ihm sein Leben nichts mehr wert. Fast schien es ihm unglaublich, jemals ohne diese Dinge ausgekommen zu sein, die für ihn Nahrung in der wahrsten Bedeutung des Wortes waren. Seinen Geist zu benutzen war ihm ein Bedürfnis wie essen und schlafen.
Von seinen körperlich stärkeren Mitschülern drangsaliert zu werden, war für ihn genauso unangenehm und nichtsdestoweniger unausweichlich wie schlechtes Wetter. Niemals hätte ihn dies zornig gemacht. Doch der von keinem Funken Intelligenz erhellte Geist Thomas Wülferdings, der die lateinische Sprache vergewaltigte und die unvergleichliche Philosophie Marc Aurels in geradezu grotesker Ignoranz entstellte, erregte seinen Zorn jedoch in zunehmendem Maße. Hans litt körperliche Qualen, wenn Wülferding zu einem lateinischen Satz ansetzte oder Marc Aurel die eigenen, dummen Motive unterstellte in dem vergeblichen Bemühen, dessen Philosophie zu verdeutlichen.

Irgendwann schlug diese wütende Verachtung in Haß um. Hans unternahm nichts, um diesen Haß einzugrenzen, sondern nährte ihn im Gegenteil durch die unbeholfenen Versuche Wülferdings, die Hürden der Bildung zu nehmen. Persönliche Abneigung ist kein ausreichender Grund, einen Menschen umzubringen, doch voll Aberwitz begann sich Hans zu fragen, ob er sich dieses Recht nicht einfach nehmen sollte. Er war sich seiner Außenseiterrolle bereits zu dieser Zeit sehr wohl bewußt und hatte sich ein Wertesystem geschaffen, das er voller Arroganz vor allen verbarg. Hierin war Dummheit ein todeswürdiges Verbrechen. An jenem Nachmittag, an dem er Wülferding in den Wald folgte, setzte er sein Vorhaben konsequent in die Tat um.
Auch daß er sich Philipp gegenüber nicht offenbarte, hatte seinen Grund. Gewiß hatte er fast alles, was er zu dieser Zeit wußte und konnte, von ihm gelernt. Philipp war ein für die damalige Zeit unerhört gebildeter Mann, der fließend Latein sprach und die Philosophie des Aristoteles ebenso beherrschte wie die von Albertus Magnus. Und doch gab es charakterliche und auch geistige Mängel an ihm. Bildete er sich allen Ernstes ein, er werde die Köpfe dieser Handwerkersöhne verbessern, indem er auf ihre Hintern einschlug? Der Eifer Philipps, mit dem er einen Fortschritt seiner Eleven zu erzwingen versuchte, erschien Hans wie Einfalt. Sicher würde dieser Mann, der bei aller Bildung rechtschaffen und etwas engstirnig geblieben war, seine Motive nicht verstehen. Also schwieg er auf die fast schon flehentlichen Blicke seines Mentors und ließ die vielen Fragen Philipps unbeantwortet.

Die Unruhe und Wechselhaftigkeit der Zeit, zu der diese Geschichte spielt, kam nicht zuletzt durch einen häufigen Wechsel des Mannes auf dem Stuhl Petri zum Ausdruck. Nach Tedaldo Visconti, der als Papst Gregor X. zu der Zeit von Hans’ Eintritt in das Priesterseminar in Speyer oberster Hirte der katholischen Kirche gewesen war, kamen in rascher Folge Innozenz V., Hadrian V., Johannes XXI., Nikolaus III., Martin IV. und schließlich ein Mitglied einer reichen und mächtigen Familie, Giacomo Savelli, der das Amt im Mai des Jahres zwölfhundertfünfundachtzig als Honorius IV. antrat.

Hans befand sich zu dieser Zeit noch immer im Priesterseminar zu Speyer. Zwar war er inzwischen auch Philipp an Bildung weit überlegen, denn er verbrachte jede freie Minute in der Bibliothek des Seminars und hatte mehrere, jeweils mehrmonatige Studienaufenthalte in Tübingen und Straßburg hinter sich gebracht, doch seine Jugend hatte es bislang nicht gestattet, ihm ein kirchliches Amt zu übertragen. Nun, da er in einem für ein Amt ausreichenden Alter war, überstürzten sich plötzlich die Ereignisse. Bertrand Vandermond, der flämische Kurator, der sich alljährlich nach Hans’ Fortschritten erkundigte, hatte auch unter Honorius IV. sein Amt noch inne. Der Papst war auf der Suche nach einem geeigneten Mann für ein äußerst diffiziles Amt, das außer exquisiten Sprachkenntnissen und einer hohen Intelligenz Feingefühl und Takt erforderte, mithin diplomatische Qualitäten. Eine gewisse Gewandtheit im Umgang mit Kirchenfürsten, die oft schwierige und unzugängliche Charaktere waren, war unverzichtbar. Honorius IV. hatte die Absicht, das Amt seines persönlichen Sekretärs zu besetzen. Dieser Sekretär hatte die gesamte Korrespondenz des Papstes zu erledigen. Aus diesem Grunde musste er Latein sprechen und schreiben können wie seine Muttersprache. Außerdem hatte er selbständig Positionen der Kirche zu vertreten, ohne jedes Mal vorher die Meinung des Papstes einholen zu können, und dies in oft delikaten Situationen. Dies machte die diplomatischen und intellektuellen Qualitäten erforderlich. Honorius IV. zog alte und verdiente, mithin erprobte, Männer, in die engere Auswahl. Doch Vandermond war anderer Meinung.
„Nehmt einen jungen Mann, Eminenz“, riet er Savelli, einem Greis, der bereits bei Amtsantritt so gebrechlich gewesen war, dass er weder gehen noch stehen konnte. „Ein junger Mann ist noch flexibel, nicht erstarrt in einer Haltung, nicht verbittert. Außerdem ist er eine angenehme Erscheinung, angenehmer als ein Greis, und vermag allein durch seine Jugend so manchen Konflikt zu entschärfen.“
Savelli fasste den inzwischen Sechzigjährigen ins Auge. „Ich täusche mich nicht, wenn ich annehme, dass Ihr an einen speziellen Mann denkt.“
„Nein, Eminenz“, gab Vandermond zu. „Im Priesterseminar zu Speyer gibt es einen Eleven, der an Intelligenz und Begabung alle in den Schatten stellt. Er war seinen Mitschülern bereits als vierjähriges Kind überlegen.“
Vandermond schilderte seine Erlebnisse bei seinen Besuchen in Speyer und vergaß auch nicht, zu erwähnen, dass er über Hans seit Jahren eine Akte führte.
„Eine solche Begabung sollte die Kirche nicht ungenutzt lassen“, schloß er seinen Bericht. „Gebt dem Mann eine Chance, Ihr werdet gewiß nicht enttäuscht werden.“

Als im September Bertrand Vandermond unerwartet in Speyer auftauchte, war allen Beteiligten klar, daß dieser Besuch nur Hans gelten konnte. Eine Stunde nach Vandermonds Ankunft rief Philipp Achternbach Hans in sein Officium.
„Es scheint so, daß du jetzt eine Gelegenheit bekommst, deine Begabung unter Beweis zu stellen“, sagte er. „Der Pontifex sucht einen persönlichen Sekretär, und du bist in die engere Auswahl gekommen.“
Seine Stimme bebte vor mühsam unterdrückter Erregung. „Der Heilige Vater wird dich selbstverständlich zunächst einmal persönlich kennenlernen wollen, um sich einen Eindruck zu verschaffen von deiner Intelligenz und deiner Persönlichkeit. Nun, was ich weiß und kann, habe ich dir beigebracht. Inzwischen bist du mir weit überlegen. Ich glaube nicht, daß es irgend jemand, der mir persönlich bekannt ist, in einem theologischen Disput mit dir aufnehmen kann. Doch vergiß nicht, daß einem Diener der Kirche Demut geziemt. – Ist dir eigentlich klar, was das bedeutet?!“
Im Moment war seine größte Sorge, Hans könnte in jugendlicher Unerfahrenheit die Einmaligkeit dieser Chance nicht erkennen. Vandermond stand abseits. Er räusperte sich.
„Wir sollten uns hüten, Hans jetzt gute Ratschläge zu erteilen. Im entscheidenden Moment ist er allein und auf sich gestellt. Nach dem Eindruck allerdings, den ich von ihm gewonnen habe, hat er die besten Aussichten. Ich könnte mir höchstens vorstellen, daß ihm, wenn er Honorius gegenübersteht, die Aufregung einen Streich spielt. Wie viele mit den besten geistigen Gaben sind schon gescheitert, weil es ihnen im entscheidenden Moment an der nötigen Zuversicht gefehlt hat?!“

Diese Sorge allerdings war unbegründet. Hans war nervenstark. Bereits als Heranwachsender hatte er in theologischen Streitgesprächen mit alten und erfahrenen Kirchenmännern nie die geringste Aufregung oder Unterwürfigkeit gezeigt. Auch die Bedeutung dieser Chance war ihm durchaus bewußt. Hans wußte, daß er in geistiger Hinsicht eine Ausnahmeerscheinung war. In Speyer, Tübingen und Straßburg hatte er seine Begabung wiederholt unter Beweis gestellt, hatte die geistigen Größen der damaligen Zeit herausgefordert und zum Staunen gebracht. Selbstverständlich hatte es sich herumgesprochen, welches Genie da in Speyer heranwuchs, und so war es nur eine Frage der Zeit gewesen, wann er seine Chance bekommen würde. Nun war sie da, und Hans war entschlossen, sie zu nutzen. Nach außen hin wirkte er kühl, fast unbeteiligt. Hans war nicht der Typ, der sich in enthusiastischen Betrachtungen erging. Ihm fehlte jegliche Larmoyanz, er wußte nur zu gut, daß er keinem dieser Großen geistig nachstand, und sich jetzt schon im Vorfeld in Dankesbezeugungen zu ergehen, war ihm zuwider. Äußerlich war zu dieser Zeit groß und schlank, mit blondem Haar, von der hektischen Schönheit der Frühreifen.

„Du wirst bereits morgen mit Herrn Vandermond nach Rom reisen“, sagte Philipp. „Geh und pack deine Sachen.“
Im Schlafsaal herrschte aufgeregtes Gemurmel, das sich sofort legte, als Hans hereinkam. Neugierige Blicke verfolgten ihn, als er daran ging, seine wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken.
„Unser Genie verläßt uns“, sagte Heinrich Wegener, ein fünfzehnjähriger Zimmermannssohn aus Mainz, der keine Gelegenheit ausließ, Hans zu foppen. „Bist du auf den Heiligen Stuhl berufen worden?“
Hans antwortete nicht. Seitdem er älter und kräftiger geworden war, wagte es zumindest niemand mehr, in körperlich anzugehen, und die Foppereien und spöttischen Bemerkungen, mit denen ihn seine Kollegen bedachten, waren unter seinem Niveau.
Auch die bevorstehende Reise nach Rom vermochte Hans’ Nachtruhe nicht zu stören. Im Gegensatz hierzu wälzte sich Philipp schlaflos von einer Seite auf die andere. Nach dem Frühstück nahm er Hans beiseite und drückte ihm einen ledernen Beutel in die Hand.
„Du wirst Geld brauchen in Rom“, sagte er, „und ich möchte nicht, daß du dich blamierst. In diesem Beutel sind fünfzig Taler aus meinem Privatvermögen. Nimm sie und mach deine Sache gut.“

Nun, da der Moment des Abschieds gekommen war, konnte er seine Rührung kaum verbergen. Daß Hans ein paar Jahre zuvor kaltblütig einen Menschen erschlagen hatte, beeinträchtigte die Sympathie nicht, die er für ihn empfand. Er lebte seit einem knappen Jahrzehnt mit diesem Wissen und hatte sich an die Last, die es bedeutete, gewöhnt.
Hans ließ den Abschied Philipps über sich ergehen, ohne viel zu sagen. Ihm waren anrührende Szenen zuwider, doch er widerstand nicht, als Philipp ihn umarmte.
Das Reisen war zu jener Zeit ein äußerst anstrengendes und gefährliches Unterfangen. Es gab nur die Möglichkeit, zu Fuß oder zu Pferde zu reisen, und an den einsamen und oft halsbrecherischen Wegen lauerten Banditen, die es auf Geld und Leben der Reisenden abgesehen hatten. Immerhin gab es Relaisstationen, in denen man die Pferde wechseln und gegen ein geringes Entgelt essen und schlafen konnte. Dem hohen Herrn, der Vandermond nach seinem Auftreten und seiner Kleidung für alle erkenntlich war, und seinem jungen Begleiter gab man natürlich nur zu gern die besten Plätze. Auch ein Kreuzer hier und da half Wunder.

Es war September, noch war es warm. Im Winter wäre die Überquerung der Alpen lebensgefährlich gewesen. Für die Reise nach Rom brauchten Vandermond und Hans vier Wochen. Es war Anfang Oktober, als sie die Stadt erreichten, ein milder und sonniger Tag. In einer Herberge wusch sich Hans den Schmutz der Reise vom Körper und kleidete sich neu ein. Vandermond würde in zwei Stunden kommen, um gemeinsam mit ihm Papst Honorius IV. aufzusuchen.
Bereits während der Reise hatte Hans darüber nachgedacht, wie das Gespräch mit Savelli ausfallen würde. Was würde Savelli herausfinden wollen? Hans war sicher, daß seine Reputation tadellos war. Daß er fachlich über jeden Zweifel erhaben war, das war Savelli mit Sicherheit bekannt und ebenso sicher würde er nicht Hans’ Lateinkenntnisse prüfen. Er würde wohl eher auf Hans’ diplomatische Qualitäten abstellen, würde wissen wollen, ob Hans in der Lage war, feine Unterschiede und Untertöne herauszuhören. Und noch etwas würde mit Sicherheit eine Rolle spielen: alte und mächtige Männer, wie Savelli einer war, fürchteten bei einem jungen Genie wie Hans vor allem intellektuelle Arroganz. Savelli und andere mächtige Kirchenmänner hatten ein Leben darauf verwandt, die Kirchenpolitik in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie würden niemanden akzeptieren, der ihrer Arbeit nicht den gebührenden Respekt zollte.

Zu Hans Überraschung verlief das Gespräch dann in Deutsch, das Savelli gebrochen sprach. Jakob Weinmann, ein deutscher Kardinal, war bei dem Gespräch anwesend. Savelli erkundigte sich nach dem Verlauf der Reise und verlieh dem Gespräch einen leichten Plauderton, doch Hans sah sehr wohl die Intelligenz, die in seinen Augen blitzte. Honorius war hellwach. Im weiteren Verlauf des Gesprächs fand Hans heraus, daß Savelli und Weinmann in einigen Punkten abweichende Positionen vertraten. Er verstand, daß Honorius mit Absicht den kritischsten seiner Kardinäle zu diesem Gespräch hinzugebeten hatte. Die Art und Weise, wie Hans mit dieser Situation umging, war Bestandteil der Prüfung.
In jener Zeit betrieb der Inhaber des Heiligen Stuhls weltliche Politik. Papst Martin IV., der Vorgänger Honorius’, hatte die Gefolgschaft Siziliens zu Charles von Anjou erzwingen wollen. Es war zu dem furchtbaren Massaker gekommen, das als sizilianische Vesper bekannt geworden war. Honorius hatte sich der Position Martins angeschlossen, Weinmann vertrat eine liberalere Haltung. Es war Weinmann, der die sizilianische Frage anschnitt. Hans verstand. Es ging nicht darum, eindeutig die Position Savellis zu beziehen, denn der Kirchenstaat bestand nicht aus Honorius allein. Ohne den Rückhalt seiner Gefolgsleute war Honorius verloren. Was man von Hans erwartete, war zunächst einmal Zurückhaltung, keineswegs wollte man Larmoyanz. Folglich bezog Hans keine entschiedene Position, umging Stolperfallen, die in einigen Fragen Weinmanns steckten, elegant. Das Lächeln in Savellis Gesicht zeigte ihm, daß er den richtigen Ton getroffen hatte.
Wieder nahm das Gespräch einen Plauderton an. Nach einer weiteren halben Stunde verabschiedete sich Weinmann mit dem Hinweis auf Amtsgeschäfte. Damit war die Prüfung beendet.

Hans sollte Rom nicht mehr verlassen. Bereits zwei Wochen nach dem Gespräch mit Savelli trat er das Amt an. Honorius persönlich erteilte ihm die Priesterweihe. Hans bewohnte fortan einen der vielen Räume des Vatikans.
Die alten und verdienten Kirchenleute, die Honorius IV. umgaben, zeigten sich indigniert, mit einem Fünfzehnjährigen theologische Fragen erörtern zu müssen. Für noch weitaus mehr Unmut sorgte der Umstand, daß Hans die Terminplanung des Papstes übernommen hatte. Wer zu Savelli wollte, mußte zunächst einmal an Hans vorbei, und damit taten sich viele schwer. Keiner dieser Siebzigjährigen ließ sich von einem Kind, das Hans für die meisten noch war, ablehnenden Bescheid erteilen, ohne voller Ingrimm davon zu gehen.

Hans hatte mit einer solchen Reaktion gerechnet und begegnete ihr mit unerschütterlicher Ruhe und Festigkeit. Nie zeigte er Unmut, wenn einer der Kirchenfürsten ihn in einer hitzigen Debatte zu überfahren oder zu übergehen versuchte, doch ebenso wenig wich er von seiner Position ab, so heftig das Drängen der Gegenseite auch sein mochte. Mit der Zeit verschaffte er sich durch seine überlegte Art und sein fundiertes Wissen den nötigen Respekt.


Das Jahr zwölfhundertsechsundachtzig brach an, Hans wurde sechzehn. Die Stadt Rom bildete nicht nur das Zentrum der katholischen Kirche, sondern besaß auch einige hundert Bordelle und Weinschänken. Zwar war einem Priester die Ehe verboten, doch der Besuch einer Hure war auch einem Geistlichen vergönnt. Hans begann regelmäßig in den Bordellen zu verkehren.

Rom war damals der Mittelpunkt der Welt. In den Bordellen fand man Huren aus aller Herren Länder. Der Sog der "Ewigen Stadt" hatte sie an den Tiber verschlagen. Es gab Frauen aus Kleinasien, aus Persien und Aserbeidschan. Mädchen aus Britannien waren zu finden genauso wie Frauen aus Indien. Eine Thrakierin erregte Hans´ Interesse. Betrunken zog er sie in eins der Gemächer. Sie war eine Tochter der fetten Böden ihrer Heimat, rund in den Hüften, mit schweren Brüsten. Wollüstig und ungestüm drückte er sie nieder auf das Lager, befühlte ihre Rundungen. Die Frau betrachtete ihn voll Argwohn. Daß da ein Halbwüchsiger sie bedrängte, noch dazu in feinen Kleidern und offensichtlich ein Angehöriger des Heiligen Stuhls, machte ihr zu schaffen. Sie sprach nicht ein Wort Italienisch. Als Hans vor Ungestüm ihr Kleid zerriß, polterte sie in ihrer Muttersprache.

Hans hielt inne. Er lauschte den gutturalen und kehligen Lauten, die aus dem Mund der Frau drangen. Die wand sich unter seinem Blick, wurde unsicher und ängstlich.
Hans´ Begierde war verflogen. Das kehlige Idiom der Frau ließ ihn nicht los. Sein intellektuelles Interesse, sein nie versiegender Appetit auf geistige Nahrung, erwachte.
„Sprich“, forderte er sie auf, doch die Frau verstand ihn nicht. Mißtrauisch sah sie ihn an. Hans bewegte den Unterkiefer auf und ab, machte die Gebärde des Sprechens, schnalzte mit der Zunge. Er war begierig, mehr zu hören, die fremdartigen Laute, die rauhe und konsonantenreiche Sprache hatten ihn fasziniert.
Angst war zu erkennen im Gesicht der Frau. Sie befürchtete, in Schwierigkeiten zu geraten, erfüllte sie nicht den Wunsch des jungen, hohen Herrn. Der schien ihre Gedanken zu erraten, und lächelte beruhigend. Doch noch immer verstand die Frau nicht, was er wollte.

„Was macht er?“, fragte Honorius. Kardinal Montserrat, der für die inneren Angelegenheiten des Vatikans zuständig war, erstattete Bericht.
„Er besucht regelmäßig das Bordell“, sagte Montserrat, ein grauhaariger Mann mit strengem Asketengesicht, der sich kerzengerade hielt. Sein Gesicht wurde beherrscht von einer enormen Hakennase, sein kantiges Kinn zeugte von Willensstärke und Selbstzucht.
Honorius schüttelte unwillig den Kopf. „Ihr wisst, Montserrat, dass das allein noch kein Grund ist, ihn zu verurteilen. Viele unsrer Brüder gehen dorthin, um sich zu erleichtern.“
„Aber er spricht mit den Huren“, sagte Montserrat voll Unwillen. „Er spricht mit ihnen in ihrer eigenen Sprache.“ Er schüttelte sich vor Abscheu. Dann beugte er sich zu Honorius herab. „Er ist voll Hochmut. Er verhöhnt das Amt, das Ihr ihm gegeben habt. Es ziemt sich nicht für einen Angehörigen des Heiligen Stuhls, mit tscherkessischen und usbekischen Huren zu verkehren.“

Hans sprach zu dieser Zeit bereits rund zwei Dutzend Sprachen. Er sprach Englisch und Gälisch. Er beherrschte Polnisch, Russisch, Thrakisch und Aramäisch, Farsi, Paschtu und Urdu. Er sprach die Turksprachen des silbernen Halbmonds, der sich von Kleinasien bis tief in die Steppen Zentralasiens zieht, und die kehligen Dialekte der Stämme des Hindukusch und des Karakorum. Er berauschte sich am knarrenden Idiom der Araber, am Singsang der Perser und an der gemurmelten, halb verschluckten Sprache der Tadschiken. Er befand sich in einem Rausch von Lauten und Worten. Er vermochte nicht zu sagen, welche Sprache für ihn die schönste war. Seinen unermesslichen Wissensdurst konnte er nur in Rom befriedigen. Sein Geist, der in der Öde des Dorflebens beinah verkümmert wäre, lief auf zu nie gekannter Schärfe und Klarheit.
Sämtlichen Huren war er bestens bekannt. Sie schätzten seine reichhaltigen Trinkgelder. Gerne waren sie bereit, mit ihm in ihrer Sprache zu sprechen, entband sie das doch von ihren üblichen Pflichten.

„Er ist besessen.“ Honorius hatte die Hände in die weiten Ärmel seines Gewandes gesteckt und verschränkte die Arme über der Brust. „Sein Geist ist nicht menschlich.“
„Was gedenkt ihr zu tun?“ Montserrat konnte eine gewisse Genugtuung nicht unterdrücken. Von Anbeginn an war ihm dieser oberschlaue Bauernsohn aus dem finsteren Deutschland ein Dorn im Auge gewesen.
„Schafft ihn nach Bozen. Dort soll ihm jede Möglichkeit genommen werden, Sprachen zu lernen.“

Im Kloster von Bozen trug Hans das ärmliche Gewand der Mönche. Er war seines Amtes beraubt, musste sich den strengen Riten des Klosterlebens unterwerfen. Abt Benedikt war informiert und wachte sorgsam über den Neuzugang, der angeblich besessen war. Mangel an Schlaf und Nahrung – vom Heiligen Stuhl für Hans angeordnet – ließen Hans innerhalb weniger Wochen blaß und spitznasig werden.
Zunächst hatte ihn Angst davon abgehalten, aufsässig zu werden. Ihm war wohl bekannt, weshalb er in Ungnade gefallen war. Das anstrengende und erschöpfende Klosterleben tat ein übriges. Lust auf sprachliche Aktivitäten hatte er nicht.
Doch nach einigen Wochen regte sich Widerstand in ihm. Als Tischnachbarn im Refektorium hatte man ihm Bruno zugewiesen. Bruno war ein ehemaliger Bauer aus den Abruzzen, breit und massig. Er war debil und manchmal gewalttätig. Dann vermochte ihn nur die Peitsche zu beruhigen.
Hans ritt der Teufel. Er wies auf das goldgelbe Stück Hartkäse, das es für jeden der Mönche an diesem Abend gab.
„Bei den Persern heißt Käse ‚panir’“, sagte er und hielt Bruno seinen Käse unter die Nase. Bruno sah ihn unwillig an. Der lächelnde Blick, mit dem ihn Hans ansah, verunsicherte ihn. Er rückte ein Stück von Hans ab. Offensichtlich hatte er die letzte Lektion mit der Peitsche noch im Sinn und es war seine Absicht, Streit aus dem Wege zu gehen.
„'Panir'“, wiederholte Hans. „Sag es, Bruno.“
Gereiztheit zeigte sich im Gesicht des Bauern. Unruhig sah er sich um. Keiner der übrigen schien zu bemerken, was geschah. Auch der Abt war ahnungslos.
„'Panir'“ . Hans lächelte Bruno an. Bruno glotzte, Speichel tropfte von seiner Unterlippe. Dann knurrte er gereizt, so dass alle aufblickten. Erschrocken gab Abt Benedikt Bruder Hieronymus ein Zeichen. Hieronymus war ein kräftiger und folgsamer Mönch, der zu Hilfe gerufen wurde, wenn einer der Brüder aufsässig wurde. Doch Bruno stürzte sich bereits mit einem Brüllen auf den schmächtigen Hans.

„Wir müssen ihn isolieren.“ Honorius sah Montserrat an, als hoffte er, Widerspruch zu hören. Doch Montserrat schwieg.
„Er ist nicht mehr zu retten. Bedauerlich, ein solch exzellenter Geist. Ihm wird jede Möglichkeit genommen werden, mit anderen zu sprechen. Wir dürfen nicht zulassen, dass er andere mit seinen Worten vergiftet.“

Die Zelle maß wenige Schritte im Geviert. Sie war völlig kahl, Hans schlief auf dem Boden. In ein Loch in der Ecke verrichtete er seine Notdurft. Zweimal am Tag brachte man ihm wortlos Essen, dann drehte sich wieder der Schlüssel im Schloß.
In den ersten Tagen war Hans verzweifelt gewesen, hatte geschrien und an den Gitterstäben des Fensters gerüttelt. Zunächst war es die physische Eingeengtheit gewesen, die ihm zu schaffen gemacht hatte. Nach drei Schritten an die Wand des Kerkers zu stoßen, das war ihm, der die Weite einer Weltstadt gewohnt war, eine Qual. Die Erniedrigung und den Verlust seines Amtes hatte er bereits verschmerzt. Die Gesellschaft anderer Menschen vermisste er nicht im eigentlichen Sinne. Menschliche Wärme war ihm fremd, er hatte sich immer selbst genügt. Doch das Fehlen jeglicher Möglichkeit, seinen Geist zu erproben, der Mangel an geistiger Nahrung, das war es, was ihm nach einiger Zeit zuzusetzen begann.
Nach einigen Wochen hatte er einen an Stupor grenzenden Zustand erreicht. Mit seinen Nägeln grub er sich tiefe Wunden in die Unterarme, biß sich die Lippen blutig. Eine Möglichkeit, sein Leben zu beenden, gab es in der Zelle nicht. Darüber wachten die Brüder.
Murmelnd gab er Sätze in Urdu und Paschtu von sich, intonierte Knarr- und Zungenlaute aus anderen Sprachen. Doch was half es ihm, Sätze zu repetieren? Feder und Papier hätte er gebraucht, dann hätte er eine Grammatik dieser Sprachen niederschreiben können. Ihm fehlte die Herausforderung.
Dann jedoch sah er seine Möglichkeit. Plötzlich wurde er froh, er lachte vor Erleichterung. Warum war er nicht gleich auf diesen Gedanken gekommen?!
Er sprach zwei Dutzend Sprachen. Es gab wohl niemanden, der es in puncto Sprachbegabung mit ihm aufnehmen konnte. Er würde auch weitere zwei oder drei Dutzend Sprachen erlernen, gäbe man ihm die Gelegenheit dazu. Keiner war wie er in der Lage, die Regeln einer fremden Sprache zu erfassen. Doch ließ ein souveräner Geist sich denn vorschreiben, wie er sich auszudrücken hatte? In den Sprachen, die er beherrschte, gab es unglaublich schöne Wörter. Es gab Wendungen, die ihn in ihrer Melodie und Klangfarbe berauschten. Da waren harte Konsonanten, knarrende Würgelaute, die tief im Hals gebildet wurden, da waren gesungene Vokale und scharf gezischte Laute. Wie denn, wenn ein Meister der Laute daran ginge, seine eigene Sprache zu komponieren?! Wie, wenn er, der Bauernsohn aus Deutschland, ein Idiom ersänne, wie die Welt noch keines gehört hatte?! Er konnte all seine Begeisterung ausleben, all sein Feingefühl für das, was menschliche Sprechwerkzeuge zu bilden imstande sind. Er würde schwelgen in nie gekannten Vokalen und Konsonanten, in Wörtern und Wendungen. Ein Idiom würde entstehen, so atemberaubend schön, dass es die Harfe unter den Instrumenten der Sprachen werden würde.
„Xhvu qal“, murmelte er, mehr seine Sprechwerkzeuge erprobend denn Worte ersinnend. Mit geöffnetem Mund blieb er inmitten seiner Zelle stehen und lauschte dem Klang seiner Laute nach. „Etr ghhi.“

„Er ist wahnsinnig geworden. Das ist äußerst bedauerlich. Er wird die Zelle nicht mehr verlassen.“

Sein Hirn blieb stehen. Sie fanden ihn am nächsten Morgen. Er lag auf dem Boden seiner Zelle, verrenkt wie ein Wurzelmännchen. Eilends begruben sie ihn, mit dem Gesicht nach unten.

 

Hallo marquee,

jetzt bin ich doch die Erste, die deine Geschichte kritisiert.
Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob sie hier in der Rubrik "Challenge" richtig ist.
Aber das sollen andere entscheiden, die mehr Erfahrung auf kg.de. haben.

Nun zu deiner Story.
Ich habe sie gerne gelesen, obwohl sie sehr lange ist. Gründlich recherchiert und die damaligen Lebensumstände gut rübergebracht, das ist mein erster Eindruck.
Ich habe auch einige Fachbücher über das Mittelalter im Regal stehen. Gelesen habe ich sie leider noch nicht alle, wohl im Gegensatz zu dir.

Was den Lesefluss etwas hemmt, sind die langen verschachtelten Sätze. Ich hätte zwischendurch ganz gerne mal einen Punkt gesehen, um mich auszuruhen.

Die Zeichensetzung bei der wörtlichen Rede solltest du durchweg ändern.

„Entschuldigt die Störung, Bruder Giovanni“ sprach er de Monacis an.

„Entschuldigt die Störung, Bruder Giovanni“, sprach er de Monacis an.

Das mit dem Komma gilt auch noch Ausrufungs- und Fragezeichen.

.....!", rief.... oder ......?", fragte.....

Ich musste dabei auch umlernen.

Was ich an Rechtschreibfehlern gefunden habe, füge ich hier noch an:

Er näherte sich de Monacis in der gebotenen Weile, denn Hast und Eile waren eines Mönches nicht würdig.

Weise

Ohne sich seinen Unmut über die Störung anmerken zu lassen, erhob er sich und begab sich in die Apotheke, in die man inzwischen den Bauern mit seinem Sohn gebracht hatte.

das Wort die einfügen

Bertrand Vandermond, der flämische Kurator, der sich alljährlich nach Hans’ Fortschritten erkundigt hatte, hatte auch unter Honorius IV. sein Amt noch inne.

vielleicht besser:
Bertrand Vandermond, der flämische Kurator, der sich alljährlich nach Hans’ Fortschritten erkundigte, hatte auch unter Honorius IV. sein Amt noch inne.

Nun war sie da, uns Hans war entschlossen, sie zu nutzen.

und

Mit der Zeit verschaffte er sich durch seine überlegte Art und sein fundiertes Wissen den nötigen Respekt.

nicht eher: überlegene Art?

Honorius sah Montserrat an, als hoffte er, Widerspruch zu hören. Montserrat schwieg. Doch Montserrat schwieg.

Das Wort er fehlte und das Wort Doch würde m.M. nach gut passen.

Mit geöffnetem Mund blieb er imitten seiner Zelle stehen und lauschte dem Klang seiner Laute. „Etr ghhi.“

inmitten.

Gott sei Dank, hast du nicht viele Fehler gemacht, denn das Zitieren ist ganz schön mühevoll. Außerdem habe ich dabei bemerkt, dass du inzwischen selbst einige Sätze geändert hast.

Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass mir die Biographie des Bauernsohns gut gefallen hat und dein Schreibstil zur Mittelalterzeit sehr gut passt.

Viel Glück mit deiner Geschichte.

Viele Grüße

bambu

 

Hallo bambu.

Ich bin mir nämlich nicht ganz sicher, ob sie hier in der Rubrik "Challenge" richtig ist.
Das irritiert mich jetzt doch ein wenig. Warum sollte die Geschichte hier denn nicht "richtig" sein?

Vielen Dank für deine "Fehlersuche". Ich habe die Fehler korrigiert. Übrigens sind die "Weile" und die "überlegte" (nicht die "überlegene") Art durchaus korrekt.

Gruß
marquee

 

Hallo marquee,

habe gerade deine Antwort gelesen.

Auf deine Frage


Warum sollte die Geschichte hier denn nicht "richtig" sein?

kann ich nur soviel sagen, dass ich anhand der Definition der Aufgabe

Somit kommen wir zur eigentlichen Aufgabe dieses Challenge: Schreibt eine spannende Geschichte, die (mindestens) zwei parallel verlaufenden Handlungsstränge aufweist, springt zwischen diesen Handlungssträngen hin und her und baut jeweils vor dem Wechsel zu dem anderen Handlungsstrang einen Cliffhanger ein.

keine zwei Handlungsstränge erkennen kann. Für mich ist die Geschichte zwar spannend, in dem Sinn, dass ich immer weiterlesen konnte, ohne mich zu langweilen, aber außer der Lebensgeschichte deines Prot konnte ich keine weitere erkennen.

Falls du mir die zweite Geschichte aufzeigen kannst, lasse ich mich gerne belehren.
Ich weiß auch nicht, ob man sich so streng an die geforderte Aufgabenstellung halten muss. Dafür bin ich noch nicht lange und auch nicht oft genug auf Kg.de

Gruß
bambu

 

Hi bambu. Der "Cliffhanger" kommt erst im letzten Teil, wenn Hans beginnt, die Bordelle aufzusuchen und die Sprachen zu lernen. Dann wechseln sich die beiden Handlungsstränge "Hans" und "Honorius mit Montserrat" ab. Wenn du genau nachsiehst, dann endet jede dieser (relativ kurzen) Szenen mit irgendeiner Gefahr oder Bedrohung für Hans.

Es freut mich, daß du die Geschichte spannend findest.

Gruß
marquee

 

Hallo marquee,

also, ich habe das Ende noch einmal nach deinen Kriterien durchgesehen.

Ich gebe mich geschlagen!!!

Zu meiner Entschuldigung muss ich sagen, dass ich beim Durcharbeiten deine allererste Fassung zur Verfügung hatte, die ich mir ausdrucken musste. Es gibt bei mir in der Familie noch zwei andere Internet-Begeisterte. Deshalb kann ich beim Lesen langer Geschichten den Computer nicht so lange blockieren.

Dadurch, dass du nachträglich noch Absätze eingefügt hast, wird der Wechsel zwischen dem Clerus und dem Lebensweg von Hans deutlich.
Du hast es so fließend übergehen lassen, dass erst die Absätze für eine Trennung der beiden Handlungsstränge gesorgt haben.
Der Wechsel muss, wie man sieht, nicht immer durch einen Schrei oder eine offene Frage erfolgen.

Also viel Glück weiterhin

bambu

 

Vielen Dank, bambu, daß du so nett und ehrlich bist. Jetzt fühle ich mich doch etwas wohler.

Viel Erfolg
marquee

 

Hallo marquee,

zweifellos hast du uns tief in die Welt von Hans gezogen. Serh plastisch entstanden die kargen Bauernhöfe, die lebensfeindlichen Kloster und die Weihen der kirchlichen Ämter vor mir auf. Etwas übertreibst du es mE mit deinem Detailwahn. Vielleicht bin ich aber auch nur zu ungeduldig, jedenfalls ertappte ich mich immer wieder dabei, Zeilen zu überspringen. Die Geschichte könnte also Straffung ertagen ohne dadurch an Atmosphäre zu verlieren.

Was die zwei Erzählstränge oder die Challengevorgabe betrifft, da bin ich auch unsicher. Das muss ich ja aber (dieses Mal) nicht entscheiden. :)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo sim. Vielen Dank für Deinen überwiegend positiven Kommentar. Daß es mir deiner Ansicht nach gelungen ist, den Leser in die Welt von Hans hineinzuziehen, mithin, das Mittelalter vor dem Auge des Lesers entstehen zu lassen, freut mich. Bambu hat sich in dieser Hinsicht ähnlich geäußert.

Ok, vielleicht könnte die Geschichte Straffung vertragen. Aber ich habe beim Schreiben eben diese Detailfreude entwickelt. Mir war das Schreiben keine Last, sondern Lust. Bitte um Verständnis. :shy:

Was die beiden Erzählstränge betrifft, und die Frage, ob der Challenge erfüllt ist, muß ich die Jury entscheiden lassen.

Lieben Gruß
marquee

 

Hallo marquee,
ich bin völlig fasziniert von dem vielfältigen, tiefgründigen Wissen über das Mittelalter, das du in diese KG einfließen lässt. In der Rubrik Historik wäre es super, aber ich sehe ich auch keinen zweiten Handlungsstrang, eher einen Kommentar dessen, was mit Hans geschieht, die Gespräche zwischen dem Pabst und seinem Berater beinhalten keine Handlung. Außerdem hatte ich persönlich den Eindruck, dass du die Geschichte ein wenig einseitig geschildert hast, das Leben im Mittelalter war zweifelsohne hart, aber die Menschen kannten nichts anderes und ich denke, dass sie schon ihren Spaß hatten, oder sich freuten, wenn es etwas leichter zuging. An dieser Stelle wurde es mir besonders deutlich:
"es war eine mühsame Plackerei, die Bezeichnungen mit schwarzer Tusche in akkurater Schrift auf den groben Stoff aufzutragen."
Kleine Säckchen zu beschriften ist doch sicherlich leichter, als harte Gartenarbeit. Was ich meine, ist, dass deine KG eine allzu düstere Atmosphäre umgibt. Wenn in einer Geschichte alles düster ist, sieht man die ganz schwarzen Stellen gar nicht mehr, mir fehlt der Kontrast. Außerdem wird nicht klar, warum die Mönche dies alles erdulden, aber vielleicht ist es nicht deine Absicht, dies zu erklären.

Wie schaffst du es nur, in einer sooo langen KG nur zwei Tippfehler zu haben? Da werde ich blass vor Neid!
"begab sich in die Apotheke, in man inzwischen den Bauern mit seinem Sohn gebracht hatte" in die man
" Eine gewisse Gewandtheit im Umgang mit Kirchenfürsten, die oft schwierige und unzugängliche Charaktere waren, war unverzichtbar." zweimal war, man kann auch einen Charakter haben
liebe Grüße
tamara

 

Hallo tamara. Vielen Dank für Dein Lob.

aber ich sehe ich auch keinen zweiten Handlungsstrang, eher einen Kommentar dessen, was mit Hans geschieht, die Gespräche zwischen dem Pabst und seinem Berater beinhalten keine Handlung
Die Gespräche zwischen Honorius und Montserrrat sind keine Kommentare, sondern Honorius beschließt, was mit Hans geschehen soll. Insofern enthalten diese Passagen durchaus Handlung; Hans wird auf Honorius´Anordnung nach Bozen geschafft, er wird in einer Zelle isoliert etc.
Da ist einerseits eine räumliche Trennung in den beiden Handlungssträngen - Bozen und Rom - und auch eine Trennung in den handelnden Charakteren: auf der einen Seite Hans, auf der anderen Honorius und Montserrat; Montserrat versucht, auf den Papst einzuwirken.
Was ich meine, ist, dass deine KG eine allzu düstere Atmosphäre umgibt. Wenn in einer Geschichte alles düster ist, sieht man die ganz schwarzen Stellen gar nicht mehr, mir fehlt der Kontrast.
Die düstere Atmosphäre ist von mir durchaus gewollt. Den Kontrast bildet die ungewöhnliche Begabung von Hans, denn wenn du genau hinsiehst, dann ist es doch auch der völlige Mangel an geistiger "Nahrung", der die Leute quält. Das Leben im Dorf ist mit Sicherheit hart und elend, aber es ist ebenfalls geprägt durch Öde und Eintönigkeit. Hans litt unter der geistigen Unterforderung. Meine Absicht war erst in zweiter Linie, das Mittelalter darzustellen. In erster Linie ging es mir um diesen völlig ungewöhnlichen Menschen - Hans -, und der hob sich meiner Ansicht nach am besten von seiner Umgebung ab, wenn ich ihn ins "finstere" Mittelalter stellte.
Außerdem wird nicht klar, warum die Mönche dies alles erdulden, aber vielleicht ist es nicht deine Absicht, dies zu erklären.
Dies - daß die Mönche im Kloster Maulbronn das alles erduldet haben - entspricht durchaus der Realität. Das hat wohl etwas mit dem Weltbild der Zisterzienser zu tun.

Lieben Gruß
marquee

 

Hallo marquee,

ja, ich bin schwer beeindruckt.

Ich wollte eigentlich schon ins Bettchen hüpfen, da entdecke ich die Geschichte, die in maulbronn beginnt. Als grosser maulbronn- und Mittelalter-Fan habe ich Deine Geschichte verschlungen!

Die Hauptkritik, die ich an Deiner sonst gelungenen Geschichte auszusetzen habe, ist, dass ich finde, dass Du das Ende nicht zuspitzt. Es¨ist wahr, dass ich einen sehr flüssigen Leserhythmus in Deiner Geschichte wiedergefunden habe, aber am Ende bleibst Du bei den langen, dahin wogenden Satzkonstruktionen. Spannung kommt nicht viel auf. Das ist umso bedauernswerter, weil ich davon ausgehe, dass Du auch diese Spannungsdetails besser herausarbeiten könntest.
Ein paar Fragen:
Warum ist das Kind schon teuflisch?
Gibt es heuchlerische, kaltherzige, teuflische Kinder?
Manifestiert sich die Diabolik nur in dem einmaligen Schädeleinschlagen?
Ist für einen intelligenten Menschen die Arroganz des Dummen nicht noch schwerer zu ertragen als ein schlecht vorgetragener lateinischer Text?
Wie sehen solche Konflikte aus?
Warum wählt der intelligente Papstberater so "blind" sein Verdammnis, indem er zu den Dirnen geht?

Nichts für ungut. Du hast mir eine Stunde grossen Lesespass bereitet.

LG
WU

 

Hallo Urach. Vielen Dank für die Lorbeeren.

Die Hauptkritik, die ich an Deiner sonst gelungenen Geschichte auszusetzen habe, ist, dass ich finde, dass Du das Ende nicht zuspitzt. Es¨ist wahr, dass ich einen sehr flüssigen Leserhythmus in Deiner Geschichte wiedergefunden habe, aber am Ende bleibst Du bei den langen, dahin wogenden Satzkonstruktionen. Spannung kommt nicht viel auf. Das ist umso bedauernswerter, weil ich davon ausgehe, dass Du auch diese Spannungsdetails besser herausarbeiten könntest.
Schon möglich, daß die langen, "wogenden" Sätze ein wenig stören, aber ich finde durchaus, das Ende spannend gestaltet zu haben. Da ist dieser Bauernsohn, der nicht so ganz von dieser Welt ist, zwei Dutzend exotische Sprachen lernt und schließlich an geistiger Unterforderung stirbt. Ich glaube, diesen "Sprachenrausch", in dem sich Hans befindet, habe ich recht gut "rübergebracht". Und das ist ja der eigentliche Inhalt der Geschichte: Hans ist seiner Umwelt so haushoch überlegen und findet so wenig Gelegenheit, sich geistig "auszutoben", daß er daran stirbt. Damit ist er im Grunde kein real existierender Charakter, sondern eine Fiktion.
Warum ist das Kind schon teuflisch?
Gibt es heuchlerische, kaltherzige, teuflische Kinder?
Manifestiert sich die Diabolik nur in dem einmaligen Schädeleinschlagen?
Das Kind trägt die Veranlagung in sich. Zur zweiten Frage, siehe oben. Und zur dritten: zunächst einmal ist es nicht nur das Schädeleinschlagen allein, sondern das Motiv (die Dummheit Wülferdings bzw. der Aberwitz Hans´), das die Diabolik von Hans ausmacht. Und dann habe ich an anderer Stelle (gegen Ende) erwähnt, daß Hans keine menschliche Nähe im eigentlichen Sinne braucht. Er braucht Menschen höchstens als Lehrer oder als Publikum für seine geistigen Höhenflüge. Ich habe ihn als emotionslos angelegt, mit der einen Leidenschaft, seinem Interesse für geistige Dinge und da insbesondere für das Sprachenlernen. Ein Menschenleben bedeutet ihm nichts. Auch die Art, wie er mit Philipp umgeht, als der ihn deckt und ihm damit das Leben rettet, zeigt in diese Richtung. Hans bezaubert weiterhin die Menschen seiner Umgebung mit seinem frühreifen Charme und hält Philipp im Grunde für einen Tölpel.
Ist für einen intelligenten Menschen die Arroganz des Dummen nicht noch schwerer zu ertragen als ein schlecht vorgetragener lateinischer Text?
Schwer zu beantworten. Wenn du dich entsinnst, dann habe ich als zweiten "Störfaktor" für Hans das Bemühen Wülferdings erwähnt, die Philosophie Marc Aurels dadurch verständlich zu machen, daß er ihm die eigenen (dummen) Motive unterstellte. Das geht dann wohl schon eher in die von dir bezeichnete Richtung.
Wie sehen solche Konflikte aus?
??
Warum wählt der intelligente Papstberater so "blind" sein Verdammnis, indem er zu den Dirnen geht?
Nicht die Dirnen sind sein Verdammnis, sondern sein geistiges Unmaß. Savelli selbst sagt zu Montserrat, daß gegen einen Bordellbesuch nichts einzuwenden ist. Nur, daß Hans mit den Dirnen verkehrt und von ihnen Sprachen lernt, wird ihm zum Verhängnis. Das konnte er nicht ahnen, als er mit den Bordellbesuchen begann. Als er die Thrakierin kennenlernte, war es für ihn bereits zu spät. Er konnte sich dem Reiz ihrer Sprache nicht mehr entziehen.
Nichts für ungut.
Gewiß nicht. Bei der positiven Kritik...

LG
marquee

 

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