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Der Prophet
Der Prophet
Aus dem Dickicht hervor erspähte er zwei Männer. Sie ritten auf etwas, das aussah wie riesige Hirsche, taubengrau und kräftig gebaut. Toba hatte von diesen Tieren gehört, aber niemals eines zu Gesicht bekommen. Es mussten Rees sein, aus dem Norden.
Tobas Blick kontrollierte die Satteltaschen; sie waren prall gefüllt.
Der eine Mann trug schmuckloses Leinen. Scharlach und Weiß flimmerten in der Mittagssonne. Er trug sein blondes Haar kurz, hatte sich einige Tage schon nicht mehr rasiert. Seine Haltung war aufrecht und edel, misstrauisch streifte der Blick seiner blauen Augen über die Lichtung.
Der andere war noch höher und kräftiger gebaut als sein Begleiter. Sein Gesicht war unter der Kapuze eines weißen Umhangs verborgen, als würde ihm die Hitze nicht das Geringste ausmachen. Toba musste unwillkürlich an die Priester der östlichen Tempel denken, als er ihn sah. Beide trugen breite lederne Gürtel; Waffen konnte er nicht ausmachen. Gewiss waren diese Männer nicht bei klarem Verstand, ohne Schutz durch diese Gegend zu reiten. Oder sie waren sich sicher, dass Gott auf ihrer Seite war.
Ausländer, dachte Toba. Reiche Ausländer. Beute.
Seine Glieder und Gelenke waren bereits steif vom stundenlangen warten. Die meiste Zeit hatte er damit verbracht, seine Zähne mit der Zunge zu befühlen und immer wieder zu zählen. Für den Fall, dass er einschlief, hatte er sich an einen der schweren Äste festgebunden. Den Knoten konnte er mit einem Handgriff lösen.
*
„Halt!“ befahl Younas leise.
Die Rees gehorchten und blieben auf dem Hügel vor der Lichtung stehen. Younas´ vierbeiniges Reittier schnaufte nervös und tänzelte aufgeregt unter dem Sattel. Younas traute diesem friedlichen Ort nicht. Die Äste einiger hoher Nornbäume bildeten solide Brücken über dem Pfad vor ihnen. Stark genug, um Menschen zu tragen und zu verbergen. Laut Karte musste das nächste Dorf ganz in der Nähe sein. Er zögerte. Es war zu friedlich, zu still.
Er blickte auf seinen Begleiter, den selbst die erbarmungslose Sonne der Südhalbkugel nicht dazu bringen konnte, seinen Umhang mit der weiten Kapuze jemals abzulegen. Xanders Gesicht war, bis auf seine schmalen Lippen und das starke Kinn, vollends unter dem weißen Stoff verborgen.
Von Zeit zu Zeit beneidete Younas ihn. Niemals plagten Xander die Ängste vor der Hölle, dem Tod. Niemals musste er sich Sorgen machen, um seine Verwandtschaft, denn er hatte keine, abgesehen von ihm.
„Wie viele?“ wollte Younas von ihm wissen. Auch er fürchtete die Hölle nicht, denn er glaubte nicht an Gott. Das hatte die Wissenschaft ihm ausgetrieben. Die Wissenschaft und die Lehre seines Lebens. Und doch nagte in den späten Stunden der Nacht der Zweifel wie ein wildes Raubtier an seiner Überzeugung, alles sei erklärbar, auch die Hölle.
„Eine Person“, antwortete Xander.
Younas lächelte erfreut und erhob seine Stimme zu einer Warnung:
„An deiner Stelle, würde ich das nicht tun“ schrie er der Lichtung entgegen.
Die Bäume schwiegen.
„Komm herunter!“ forderte Younas.
Kein Laut.
Er sprach niemals eine Forderung zweimal aus und so gab er Xander mit einem Nicken das Zeichen, den ersten Pfeil zu zücken. Dieser verstand sofort, zog unauffällig einen der schmalen fingerlangen Metallstifte aus seinem Gürtel und legte ihn wurfbereit zwischen Daumen und Zeigefinger.
Ein Knacken im Blätterdach verriet den Wegelagerer endgültig. Er musste auf dem größten der Nornbäume sitzen, etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt. Xander erhob seinen Arm zum Wurf.
In diesem Augenblick preschte etwas durch das dichte Grün zu ihrer Linken. Eine schwarze Gestalt, die etwa die Größe von Xanders Kopf hatte, stürzte blitzschnell aus der Höhe auf die Waffe zu. Scharfe Krallen entrissen ihm den kleinen Stift. Younas sah nur noch die Spitze eines Reptilienschwanzes hinter den tellergroßen Blättern des Dickichts verschwinden.
Unwillkürlich musste er über diese Dreistigkeit lachen.
„Eine Flugechse als Komplize?“ rief er amüsiert herauf zu dem Dieb. „Das habe ich tatsächlich noch nicht erlebt. Aber glaube mir, du wirst herunter kommen, ob du willst oder nicht. Wir werden dir nichts tun.“
Zu Xander gewand sprach er zornig zischend: „Was sollte das denn?“
„Ich bin nicht zum Kampf ausgebildet“ erklärte die Stimme aus dem Schatten der Kapuze hervor. Xander hatte eine Entschuldigung nicht nötig.
„Wer seid ihr?“ meldete sich nun die furchlose Stimme eines Jungen.
„Jetzt reicht´s.“ Younas war am Ende seiner Geduld mit den kleinen Banditen. Er zog seine Waffe und feuerte auf die Quelle der diebischen Stimme. Die elektromagnetische Welle rollte über die Lichtung auf die Krone des Nornbaums zu. Der Körper eines Halbwüchsigen fiel auf den Waldboden, um ihn herum prasselte ein Regen von Früchten und Blättern.
*
Der Schmerz überraschte ihn. Einen Moment lang glaubte Toba, jeder einzige Knochen in seinem Körper sei gebrochen. Ihm schwindelte.
Im nächsten Augenblick standen sie auch schon vor ihm. Aus der Nähe schienen ihre Reittiere noch viel imposanter. Er schätzte die Höhe ihres Widerrists auf etwa zwei Meter.
„Hat dir deine Mutter kein Benehmen beigebracht? Man fragt nicht nach Namen, wenn man sein eigenes Gesicht nicht zeigt.“ Die Stimme des Blonden klang tief und klar. Toba fühlte sich in seiner Würde verletzt. Wie hatten sie ihn sehen können? Und was war das für eine Waffe, die ihn von dem Ast geschleudert hatte? Er beschloss, nicht zu antworten. Seine Augen baten die Wanderer nicht um Gnade.
„Reden hat man dir wohl auch nicht beigebracht?“ Dieser Ausländer machte sich über ihn lustig. Doch nun wurde die Stimme des Mannes ernst:
„Pass auf, Junge. Du willst Geld verdienen? Ich mache dir ein Angebot.“
Jetzt spitzte Toba die Ohren. Seine Augen leuchteten.
„Kennst du dich hier aus?“ fragte der Fremde.
Toba grinste.
„Was zahlt ihr?“
*
Younas und Toba besiegelten den Vertrag, in dem sie sich die Hände reichten.
Dann streckte auch Xander ihrem neuen Fremdenführer seine Hand entgegen. Als Toba sie berührte, packte Xander zu und zog ihn problemlos auf seinen künftigen Platz hinter dem Sattel. Toba war beeindruckt von dieser Stärke, er war zwar erst vierzehn, aber ein Fliegengewicht konnte man ihn nicht nennen. Schon setzten sie sich in Bewegung.
„Wo soll´s eigentlich hingehen?“ erkundigte sich der Junge.
„Zum nächsten Dorf.“ antwortete Younas knapp.
„Ihr meint Suma, die gläserne Grazie?“
„Ja, Suma.“ bestätigte Younas. Ihm war nicht nach Schwatzen zu Mute.
„Das sind mindestens drei Tagesritte. Vielleicht zwei, sollten eure Tiere schneller sein als Pferde.“ Tobas Lächeln wurde breiter angesichts der Vorstellung seines Lohns, den eine solch lange Führung einbringen würde. Younas Miene spiegelte erst Erstaunen, dann Misstrauen wider.
„Du willst nur Zeit schinden. Nach unserer Karte ist Suma nur wenige Stunden entfernt.“
Toba streckte den Arm aus und verlangte mit einer Geste nach der Karte. Sofort erkannte er den billigen Touristen-Artikel.
„Die wird euch nicht weit bringen. Sie ist falsch. Ich wette, dafür habt ihr viel Geld bezahlt, was?“ spöttelte er. „Was habt ihr eigentlich in Suma zu suchen?“
Younas antwortete nicht.
Zum ersten Mal, da sie sich begegnet waren, sprach Xander. Seine Stimme ließ Toba an Samt und Stahl denken, sie war weich und klar: „Wir befinden uns auf einer Pilgerfahrt.“
Pilger tragen keine Waffen, dachte Toba. Doch er beschloss, lieber den Mund zu halten. Dies war schließlich nicht seine Angelegenheit. Allerdings reizten die vollen Satteltaschen seine Neugier durchaus.
„Nun“, seufzte Younas, der sich inzwischen mit der neuen Situation abgefunden hatte, „welche Richtung?“
Toba wies mit dem Finger nach Süd-Ost.
Younas schnalzte mit der Zunge und die Rees sprangen los. Beinahe hätte der unerwartete Schwung Toba von dem Rücken des Grauen geworfen. Er schlang seine Arme fester um Xanders Hüfte und ihm gelang es, einen der kleinen Metallstifte zu ertasten. Wie immer, konnte sein Gaunerherz nicht widerstehen. Zum Glück hatte N´tou ihn vor dieser seltsamen Waffe gerettet. Da durchfuhr ihn ein Schrecken wie ein heftiger Schauer.
„N´tou!“ schrie er so laut er konnte gegen den Wind.
Einige Augenblicke später landete N´tou geschult auf seiner Schulter. Sie war eine geschickte, eine windschnelle, verwegene Fliegerin. Sie war die Beste. Stolz streckte sie ihm ihre Beute entgegen. Toba wagte es, eine Hand zu lösen, um ihren schuppigen Kopf liebevoll zu streicheln.
*
Die Nacht brachte grausame Kälte über die Wälder von Heela. Ein knisterndes Feuer wärmte die Körper der Reisenden. Toba war am Ende seiner Kräfte, der lange Ritt hatte seine Beine und sein Gesäß wund geschunden. Sein Rücken und seine Schultern fühlten sich an, als hätte er den ganzen Tag schwere Arbeit auf dem Feld geleistet. Über dem Feuer brutzelten zwei größere Nagetiere, die N´tou für sie gejagt hatte. Younas legte ein weiteres Stück Holz in die Glut und lehnte sich zurück auf seinen Sattel, den er wie ein Kopfkissen nutzte. Außerhalb des Feuerscheins saß Xander auf einem Baumstumpf und hielt Wache. Eine Weile lang schwiegen alle. Es war ein zitterndes Schweigen, wie das Lodern des Feuers, wenn sich ein Lüftchen regte. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.
„Glaubst du an Gott, Toba?“
Ein Bild sprang ihn an. Zwei Leichen, verkohlt. Ihre Schreie für die Ewigkeit eingebrannt in den Resten ihrer vertrauten Körper. Er hatte ihre Gräber nicht vergessen.
„Ja.“ antwortete er.
Younas schaute ihm fest ihn die Augen. Und für einen Moment hatte Toba das Gefühl, er hätte in ihnen das gesehen, was aus der Vergangenheit an die Oberfläche seines Geistes gespült worden war.
„Willst du Gott kennen lernen?“
Toba zögerte nicht. „Ja.“
Da rief Younas nach Xander, der sich von seinem Posten erhob und auf Toba zutrat. War er ein Magier? Ein Priester?
„Zeig es ihm“, forderte Younas. „Ich übernehme deine Wache.“
Sie waren allein. Mit rituellem Ernst nahm Xander gegenüber von Toba auf dem trockenen Waldboden platz. Nun hob er wortlos seine Hände und legte sie an die Schläfen des Jungen.
„Schließe deine Augen.“
Wie ein Gebet sprach er sanft die Worte:
„Unser Glaube ist die Stimme unserer Seele, die sich nach etwas Sicheren, etwas Unendlichen sehnt. In ihrem Gesang sucht sie etwas, das mehr wert ist, als ihre eigene Existenz.“
Dann platzierte er seine Hände über den Ohren seines Gegenübers.
*
Eine angenehme Welle aus Wärme erfasste ihn. Aller Schmerz löste sich aus Körper und Geist. Alles, was zurückblieb, war Licht. Ein warmes weißes Licht. Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass dieses Licht aus ihm selbst strömte, floss, tanzte. Seine Glieder entspannten sich, sein Verstand schwamm und labte sich im Licht. Nichts wollte er mehr als sich von diesem sanft strahlenden Schein lenken zu lassen. Er ließ sich tragen. Ihm war, als schwebe er darin, umhüllt geborgen, geschützt. In einem Meer aus Stille und Frieden erfühlte er mit einem Mal den Gedanken, dass außer ihm und dem Licht nichts anderes existierte. Da keimte tiefe Verzweiflung und Trauer in ihm. Allein mit sich selbst im Nichts. Die Hölle!
Aber das Licht erstrahlte erneut und tauchte, salbte, taufte ihn in einem Gefühl von unbegrenzter Herrlichkeit. Es lockte, verführte. Und ihn ergriff das unzähmbare Bedürfnis eins mit dieser Herrlichkeit zu werden.
Alles Irdische legte er ab. Alle gedachten Gedanken, alle gekannten Gefühle, jeden Raum, jede Zeit, alle Grenzen. Kein Mein. Kein Dein. Kein innen oder außen. Keine Angst. Keine Kontrolle. Die Barrieren zwischen allem wurden porös, relativ, nichtig. Es formten sich keine Gedanken mehr in seinem Geist. Alles, was er erfuhr, fühlte er, wusste er im selben Augenblick. Die Schönheit wurde in diesem Augenblick neu geboren. Das Licht gab ihm den Vorteil der absolut unbefleckten Gewissheit. Höchste Hingabe. Zurück blieb nicht einmal ein Ich.
Fest in den Höhen und Tiefen des Daseins verankert fand er ein Bewusstsein. Eine Seele, die gleichsam sie selbst und alles andere war. Er löste sich auf in dem unbeschreiblich Großen. Er dachte den größten aller möglichen Gedanken, fühlte ihn, war er. Als könnte er dieses Selbst, dieses Alles, dieses Dasein, Gott berühren. Es gab keine Angst, keinen Verlust, keine Distanz, nur Reichtum. Alles verschmolz miteinander. Er selbst war dieses kosmische Bewusstsein. Er war die Welt. Die Existenz in ihrer reinsten Form. Gott.
Und die Schöpfung erklang in ihm, vibrierte Ton um Ton, ein ewiger Pulsschlag. Eine makellose Harmonie.
Was blieb, als das Licht verschwand, als er zurückgeworfen wurde in den Tag, war die überwältigend Dankbarkeit für die gewaltige Erfahrung der letzten aller absoluten Wahrheiten habhaft gewesen zu sein, sie selbst zu sein.
*
Durch den Schleier des Erwachens nahm Toba gedämpfte Stimmen wahr. Seine Augen noch geschlossen, fühlte er die kühlen Hände Xanders auf seinen Ohren liegen.
„Wir werden ihn noch brauchen, das sag ich dir. Alles wird so laufen, wie ich es geplant habe. Und am Ende werden wir - “
„Still“ raunte die andere Stimme. „Er kommt zu sich.“
Xander löste die Berührung.
Ungewollt öffnete der Junge die Augen, überrumpelt von seiner mystischen Erfahrung.
„Was war das?“, presste er hervor.
„Das weißt du selbst“, antwortete Younas. Immer war er es, der antwortete. Jetzt richtete Toba seinen Blick fest auf Xander, oder auf das, was von ihm zu sehen war.
„Wer seid ihr?“
Seufzend antwortete Younas für seinen Begleiter: „Wir wollten nicht, dass es sich herumspricht. Er ist ein Erwählter.“
Xander erhob sich und ließ Toba mit all seinen Fragen allein zurück, als er sich wieder auf seinen Wachposten begab. Den Rest der Nacht verbrachte er dort, versteinert, wie eine Statue aus der ersten Zeit.
*
Die nächsten zwei Tage waren von enttäuschendem Schweigen verhüllt. Xander verblieb wortlos, erhaben über jegliches Unwissen, Neugier oder Bedrängen. Wenn jemand antwortet war es Younas. Doch das einzige, was ihn interessierte, waren Informationen über Suma und dessen Bevölkerung. Jedes Gespräch über jenen Abend erstickte er verärgert im Keim.
„Gott bleibt mir immer noch einiges an Antworten schuldig“, beschwerte sich Toba einmal, um Younas zu provozieren, auf das Thema einzugehen.
„Ich habe dir nicht versprochen, dass du Antworten auf deine Fragen bekommst. Das wirst du nie, wenn du auf Gott triffst. Denn er hat sie dir alle bereits gegeben. Wenn du Antworten willst, dann musst du schon auf die Suche nach ihnen gehen. Und zwar in dir.“
„Ich dachte, du glaubst nicht an den Einen.“
„Visionen, Übersinnliches und Aberglaube. Die Grenzen zwischen diesen Begriffen sind schwer zu ziehen. Ich habe schon zuviel gesehen, Junge. Zu oft verlor alles, was mir beigebracht wurde, an tieferem Sinn. Sollte da oben jemand hausen, sollte er das tun, was er immer getan hat: Sich aus unseren Angelegenheiten raushalten.“
Kurze Zeit später erblickten sie Suma von einem hohen Plateau aus, das ihnen die Sicht auf das riesige Tal von Heela ermöglichte. Die heiße Luft der Nachmittagsonne lag flimmernd auf dem Horizont wie ein lebendiger Spiegel. In weiter Ferne konnte Younas etwas ausmachen, das aussah wie eine riesige Glasschüssel, gefüllt mit Wasser.
„Das ist sie. Die Gläserne. Die letzte Siedlung vor den großen Klippen.“
Toba bedauerte den nahenden Abschied. Das Rätsel um die Identität der Fremden nagte an ihm. Es gab zu viele Elemente in dieser Geschichte, die nicht zusammen passen wollten. Wenn Xander ein Auserwählter war, warum war Younas derjenige, der Befehle aussprach? Warum hatten sie so wenige Vorräte, gerade genug für eine Person, und so viele kostbare Gegenstände im Gepäck? Wollten sie das Gold in ihren Satteltaschen etwa einer Kirche schenken? Zu welchem Orden gehörten sie? Und warum reiste ein Erwählter mit einem Ungläubigen? Woher hatten sie diese neuen Waffen und warum trug sie ebenfalls der Geistliche? Aus welchem Grund zeigte er sich nie völlig?
Wie einen Schatz trug Toba seine Erinnerung mit sich. Er fühlte sie immer noch pulsieren, tief in seinem Innern. Seit dieser Nacht begegnete er Xander mit bedingungslosem Vertrauen und unverhüllter Ehrfurcht. N´tou allerdings liebäugelte von Zeit zu Zeit mit Younas, was Toba missfiel. Younas gegenüber war er sehr skeptisch. Er hatte einen geübten Blick für verdächtige Persönlichkeiten. Dieser Schönling war launisch, arrogant, herrisch. Was für ein seltsames Paar, wunderte sich der Junge.
*
Als Younas Suma das erste Mal aus der Nähe betrachtete, begriff er, warum dieses Dorf in Heela als gläserne Grazie bekannt war. Das Zentrum des Gebildes war ein etwa dreißig Meter hoher Sockel aus milchigweißem Glas. Er trug eine transparente Schale mit einem Durchmesser von gut fünfzig Schritt. In ihr sammelten die Dorfbewohner das Regenwasser für die Dürreperioden der Waldregion, Algen und winziges Getier hatten sich an den Wänden des Bassins festgesetzt. Von der gläsernen Schale herab hingen Behausungen, den umgestülpten Blüten von Glockenblumen ähnlich. Insgesamt waren es etwa dreißig hängende Hütten, alle von demselben undurchsichtigen Glanz wie der Sockel. Zwei von ihnen, eines auf der östlichen, das andere auf der westlichen Seite, waren größer als die übrigen.
„Die Schenke und die Kirche“, erklärte ihr Fremdenführer.
Xander und Younas quartierten sich in der Schenke „Wilburs Hoffnung“ ein. Das einzige, was sie nun tun mussten, war warten. Der Junge platzte fast vor dem Bedürfnis, sein Wissen mit jemandem zu teilen. Bald würde er seine Nachricht über die Fremden und die Gabe des Erwählten jedem einzelnen der Sumaner auf die Nase gebunden haben. Bald würden sie kommen…
*
Younas leerte gerade sein zweites Glas, als sich die erste Gruppe von Einwohnern um ihren Tisch versammelte und lautstark eine Demonstration forderte. Toba lehnte selbstsicher an der Eingangstür der Schenke, seine schwarze Echse saß auf seiner Schulter wie es in fernen Ländern die Papageien ebenfalls taten. Das erste, was Younas tat, war, den fünf jungen Männern eine verbale Ohrfeige zu geben.
„Hört zu, ihr schafsköpfigen Hinterweltler! Die Gabe meines Begleiters ist keine Zirkusattraktion, sondern eine heilige Zeremonie. Ihr Gaffer! Schert euch weg und kommt erst wieder, wenn ihr die nötige Ehrfurcht mitbringt!“
Er lehnte sich zurück auf die Holzlehne seines Stuhls und lächelte innerlich, zutiefst zufrieden mit sich selbst. Die Sumaner galten als misstrauisch, er hatte nicht erwartet, dass es so gut funktionieren würde. Denn nach zwei weiteren Gläsern von dem herben Kräutertrank, den hier ein ungewöhnlich hagerer Wirt servierte, erschienen die jungen Männer erneut. Nun senkten sie den Blick zu Boden und reichten ihnen Obst und Gemüse als Geschenke.
Mitten in der Gaststätte ließ Younas sie niederknien und Xander tat, was er immer tat. Er legte die Hände rechts und links auf ihre Schädel und ließ sie ein Augenzwinkern Gottes erleben.
Unglaublich schnell sprach sich das Ereignis herum. Immer mehr Menschen besuchten „Wilburs Hoffnung“, um den Erwählten zu sehen. Viele brachten Geschenke und erhielten im Gegenzug eine Prise Gott. Begeistert, erstaunt, erschüttert berichteten die Leute von der Gegenwart Gottes, von lebhaften Erinnerungen, Déjà-vu- Erlebnissen, dem Vibrieren oder Schweben ihres Körpers, von Stimmen und Botschaften, Zukunftsvisionen und dem Verschwinden aller weltlicher Grenzen. Selbst diejenigen, die niemals ihren Trost im Glauben oder in Gott hatten finden können, die Zweifler und Ungläubigen, überzeugte Xander mit seiner Gabe. Auch der langfingrige Wirt kniete nieder und übernahm freiwillig jegliche Kosten für die Unterbringung der Heiligen, wie sie von manchen bereits genannt wurden.
Am nächsten Morgen schickte jemand Unbekanntes Diener zu ihnen, die sich um ihr Wohl kümmern sollten. Xander blieb der ewige Asket, er trank und aß nicht, schlief und sprach nicht. Younas hingegen ließ sich verwöhnen durch ein Bad und ein Mahl von berauschendem Luxus. Danach wies er Xander an, sich der langen Kette wartender Menschen anzunehmen, die schon seit einigen Stunden geduldig um Audienz baten. Je später die Stunden desto lauter wurden die Bitten um Anweisungen. Die Dorfbewohner, Männer und Frauen von jedes Alters und einige Kinder, deren Mütter wollten, dass Xander ihre Schützlinge mit einer Berührung segnete oder heilte, strömten zu ihnen mit der Hoffnung, Worte von dem Erwählten zu erhaschen. Sie wollten, Unterweisungen, Anweisungen; boten ihre Dienste und ihre Gaben an für eine Lehre, die dieses Mysterium in einen festen Glauben verwandeln konnte. Younas versicherte der Masse, dass Xander am nächsten Tag eine Ansprache halten würde, in der er auf alle ihre Fragen antworten würde.
Dies war eine Lüge.
*
Sie verließen die Gläserne nach einer durchlebten Nacht, wie eine edle Hure ihren Geliebten. Reich. Die Schwärze der Nacht umhüllte sie, als stünde sie auf ihrer Seite. Mit keinem Mittel ihrer bekannten Welt konnten die Sumaner die Rees einholen, sie waren unerreichbar. Sie jagten durch die Wälder, die sie sehr wohl kannten.
„Halt!“ schrie die Stimme eines Jungen.
Toba hatte sie auf der Lichtung, auf der sie sich das erste Mal vor fünf Tagen getroffen hatten, bereits eine Weile erwartet, den Betrug wohl ahnend. Denn auch ein gläubiges Gaunerherz, erkennt sein Spiegelbild in den Augen eines Gleichgesinnten. Er brauchte all seinen Mut, um sich den Fremden in den Weg zu stellen.
„Was willst du, Bengel?“, schrie Younas ihm entgegen. Keine Reue spiegelte seine Miene wieder, er dachte nicht einmal, dass er sie nötig hätte. „Wir haben dich bezahlt.“
„Ihr seid Betrüger!“ entgegnete Toba nicht weniger laut.
„Ach“, spottete Younas. „Willst du sagen, deine Vision war nicht wirklich? Willst du mir sagen, du könntest die Wahrheit von der Unwahrheit unterscheiden, du kleiner Dieb!?“
„Unterschätzt mich nicht! Und spottet nicht! Ich habe seine Augen gesehen. Das waren nicht die Augen eines Menschen.“ Tobas Atem raste, sein Herz pochte gegen seine Brust, das Blut rauschte wild in seinen Ohren. Younas ließ sich seine Überraschung nicht anmerken, verstummte jedoch. In seinem Geist suchte er nach dem einen Moment, dem Fehler, den er begangen hatte. Der Junge wandte sich an Xander.
„Wer seid ihr? Ich will es wissen!“
Der Erwählte sprang von seinem Reittier und schritt auf den Jungen zu. Während er ging, warf er seine Kapuze nach hinten und enthüllte zwei eisblaue Augen. Leuchtend.
Toba wollte die Wahrheit. Xander gab sie ihm. Er wich nicht vor ihr zurück.
„Ich bin kein Mensch.“ Toba erinnerte sich wieder an diese wunderbare weiche Stimme. „Ich bin nicht einmal ein lebendiges Wesen und besitze keine Seele. Ich wurde erschaffen von einem Menschen und ich kann jederzeit durch einen deaktiviert werden. Bei deiner Vision handelt es sich um eine transzerebrale Magnetstimulation. In jeder meiner Hände sind vier Magnetspulen eingearbeitet, durch sie werden künstlich fluktuierende Magnetfelder horizontal durch deinen Kopf geleitet. Ein paar deiner Gehirnteile werden gehemmt beziehungsweise stimuliert. Gehemmt werden die Funktionen für Schmerzempfindung und das Selbstmodell deines Bewusstseins, welches für die Bestimmung und Differenzierung von äußeren und inneren Informationen verantwortlich ist. Gleichzeitig werden die Regionen für Spiritualität und sexuelles Verlangen stimuliert. Stellt jemand, der die Befehle kennt, die Frequenz der Magnetfelder besonders stark ein, sind die Folgen starke Angstzustände.“
Fassungslos starrte Toba in die Augen der Maschine. In ihnen spiegelte sich das Bild eines Jungen, dessen bisheriger Glaube an die Welt zerbrach wie dünnes Kristall. Auch wenn er nicht alles verstanden hatte, die drohende Warnung hinter dem letzten Satz verstand er allzu deutlich, doch er musste es wissen.
„Das heißt, ich bin Gott niemals begegnet? Niemand von den Leuten?“
„Sie sehen nicht Gott. Sie sehen sich selbst“, rief Younas. Ihm ging diese Sache unangenehm nahe. Es war wie ein schmerzvoller Blick in die Vergangenheit. „Wenn du antworten suchst, lerne sie dort zu finden, Junge!“
Toba hätte ihnen gerne entgegen geschrieen: Ihr lügt! Er hätte gerne jemandem wehgetan. Aber er wusste, dass diese Wahrheit von Bedeutung war. Sie war unangetastet. Sie musste weiter getragen werden.
Xander löste die Spannung. Er ging zurück zu seinem Rees, saß auf und wartete auf Younas´ Zeichen. Tief im Dunkeln des verborgenen Gesichts sah Toba zwei blaue Augen ein letztes Mal aufblitzen. Die Reiter pressten ihre Schenkel an die Flanken der Grauen und sprangen hinfort in die Nacht.
*
Sie erfuhren nie, dass der Junge zurück in das Dorf lief. Als er in der Morgendämmerung das erwachende Suma vorfand, suchte er jeden einzelnen Gläubigen auf, um die Wahrheit mit ihm zu teilen. Solch eine ungeheuerliche, solch eine wertvolle Wahrheit! Die Dorfbewohner waren empört, erzürnt. Die beiden erfuhren nie, dass Toba mit seiner Wahrheit in jenem großen Becken ertränkt worden war. Ein Opfer zu Ehren des Propheten.