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Der Puls der Stadt
Selbst wenn mir eher offenbart worden wäre, was mich dort erwarten würde, wäre ich meiner kleinbürgerlichen Heimat entflohen, um in die große Stadt am Rand des Ozeans zu ziehen. Hier wie dort traf ich auf mir fremde Menschen. Nur hatte die Anonymität der Stadt den Vorteil, dass dort Fremde wirklich Fremde waren, und einem nicht im Gewand von vermeintlich vertrauten Personen ein aufgesetztes Lächeln oder inhaltslose Grußformeln abrangen. Im Gegensatz zu dem piefigen Dorfidyll musste man sich hier nicht für seinen Wunsch nach Einsamkeit rechtfertigen. Wenn ich abends von meinem bescheidenen Bürojob auf dem Weg nach Hause die großen Boulevards überquerte und an trostlosen Seitenstraßen vorbeiging, tauchte ich unter im endlosen Grau der Masse wie ein Delfin in den Meeresströmungen. Die turmhohen Häuserfassaden, die mit ihren tausend Augen aus Fensterreihen wie stumme Wächter auf die Menschenmassen herabschauten, verjagten meine düsteren Gedanken zwar nicht - dazu war nichts in der Welt im Stande - doch sie störten sich auch nicht an ihnen. Wenn schon das einzige Lied, das meine Seele zu singen vermochte, in Moll geschrieben war, dann wollte sie es auch an einem Ort tun, an dem es sich harmonisch in die Hintergrundmusik einfügte. Der ewige Blues der Großstadt war meine Big Band, und ich war wie ein Solist, einer von Millionen, dessen Saxophon sein Wehklagen in die Nacht hinausschrie. Das Pulsieren der Nacht wurde bald mein einziger Gefährte, denn meine Arbeitszeiten lagen so, dass ich in der dunklen Jahreszeit erst bei Sonnenuntergang Feierabend hatte. Dann setzte ich mich meist in eine der zahlreichen Bars, die sich entlang der Ericson Avenue bis hin zur Lower Broadside aneinander drängten und in denen sich viele verlorene Seelen verfingen. Ich tauschte meine spärlich verdienten Dollars gegen einen Cocktail oder ein Bier und spürte den Herzschlag der Metropole.
Selten kam ich mit einem anderen verirrten Gast dieser Bars ins Gespräch, und noch seltener kam etwas Gehaltvolles dabei heraus. Das lag nicht zuletzt an dem unsichtbaren Nebel aus Alkohol und gescheiteren Lebensentwürfen, der dort überall die Luft schwer machte. Nur einmal kam es anders, als sich dieser eine Mann auf den Barhocker neben mich setzte. Er strahlte trotz seines schmutzigen Hutes und seines beigen Trenchcoats die Erhabenheit eines Indianerhäuptlings aus. Seine Gesichtszüge verrieten seine Abkunft von den Ureinwohnern, die lange vor dem Weißen Mann dieses Land besiedelt hatten. Zu einer Zeit, als der Containerhafen noch eine friedliche Lagune gewesen sein mochte und an der Stelle, an der wir uns jetzt auf den Tresen stützten, sich vielleicht Hirsche und Waschbären im Schatten von mächtigen Baumkronen getummelt hatten.
Nach einer knappen Begrüßung bestellte er sich ebenfalls ein Bier und beachtete mich zunächst nicht weiter. Dann, nach ein paar Schlucken, sah er wieder zu mir herüber und nickte mir zu. Ich nickte zurück. Er wirkte einsam.
„Sind Sie neu hier?“, fragte er.
„Bin noch nicht lange hier“, gab ich zurück. „Aber ich kann den Puls dieser Stadt schon spüren.“
Als Antwort bekam ich nur ein Schweigen, in dem aber etwas zu gären schien. Dann begann er ohne eine Überleitung mit dem Thema, das Druck auf sein Herz auszuüben schien und den er nur durch Reden entweichen lassen konnte, als wäre sein Mund ein Ventil an einem kochenden Dampfkessel.
„Wissen Sie, alle sprechen immer vom Puls dieser Stadt. Sie fühlen ihn, an Orten wie diesem hier, auf den Straßen, ja sogar in ihren Appartements und Penthouse-Wohnungen. Er lockt die Menschen aus der Ferne an und hält die Einheimischen am Leben. Doch was Sie sicherlich nicht wissen, ist, dass das eigentlich gar nicht vom Hupen der Autos oder von der Musik in den Nachtclubs kommt. Das gibt es natürlich auch, ist aber nur oberflächlich. Genau genommen ist diese ganze Stadt nur die Oberfläche von etwas Tieferem, viel, viel Älterem. Schon mein Volk, dass das Land hier am Flussdelta hunderte von Generationen vor den weißen Eroberern bewohnte, spürte diesen Puls.
Damals schien er noch von der vermeintlich unbesiegbaren Natur auszugehen, die über den Hügeln und Flussauen wie eine wärmende Wolldecke lag. Das Leben auf, in und unter ihr war so stark, dass man seine Kraft noch heute spürt wie zu Zeiten meiner Urahnen. Wenngleich die meisten ihn heute nur unbewusst wahrnehmen.“
Bei diesen Worten ging ihm meine ganze Aufmerksamkeit ins Netz, denn ich liebte es, mich in den Mythen und Erzählungen alter Völker zu verlieren.
„Und was berichten diese alten Legenden?“, erkundigte ich mich. Als hätte er auf diese Einladung gewartet, begann der Häuptling zu erzählen:
„Mein Volk glaubte fest daran, dass das Land selbst ein großes, denkendes Wesen war, und jeder Hügel, jeder Fluss und jeder Baum und überhaupt alles, was sich auf ihm befand, eines seiner Glieder war. Wenn es gnädig gestimmt war, beschenkte es meine Ahnen mit reichen Mahlzeiten. Es ließ die Früchte gedeihen und machte, dass sich das Wild vermehrte. Wenn es aber hungrig war, verzehrte es die Dinge, die sich auf seinem ausgedehnten Leib befanden, und das waren nicht zuletzt meine Vorfahren. Durch diese äonenalte Symbiose wuchsen meine Ahnen und das Wesen, das dieses Land war, zu einem einzigen Organismus zusammen. Auf diese Weise verbunden, dachten sie irgendwann die Gedanken des Wesens und fühlten seine unergründlichen Gefühle.“
„Das ist in der Tat eine ungewöhnliche Legende ... Aber wie hat dieses Wesen denn Ihre Vorfahren verzehrt, wenn sie das Pech dazu hatten?“
„Indem es einfach den Boden unter ihren Füßen auftat und sie verschluckte. Oder sie verwuchsen beim Berühren eines Baumstammes oder eines Felsens mit jenen, so dass sie selbst zu Baum oder Fels wurden. Auch tauchte manch einer in Bächen oder Tümpeln unter, gezogen von einer unsichtbaren Kraft, und wurde Eins mit dem Wasser.“
„Wie erbarmungslos.“
„Nicht ganz. Dieses Land gab seine Opfer irgendwann wieder frei, es verköstigte sich nicht an deren Leibern. Nein, es kostete viel mehr von deren Seelen. Es fügte sie seiner eigenen, uralten Seele hinzu. Die, die wieder ausgespuckt wurden, blieben auf immer mit dem Geist des großen Wesens verbunden.“
„Waren sie dann keine Menschen mehr?“, wollte ich wissen.
„Nein. Sie waren viel mehr zu den Augen und Ohren des Landes geworden, die durch ihre Sinneseindrücke die allumfassende Weisheit des Wesens vervollkommneten.“
„Haben sie ihre Seelen ganz verloren?“
„Wer braucht schon eine Seele, wenn er Teil von etwas so Großem sein kann?“
Darauf hatte ich so schnell keine Antwort. Die meisten hätten dieser Behauptung wohl vehement widersprochen. Wer aber wie ich erfahren hatte, welche Bürde eine Seele sein konnte, der fand in dieser Aussage etwas Tröstliches. Der Häuptling nahm derweil den Faden seiner Geschichte wieder auf und sprach:
„Irgendwann kam der Weiße Mann über das Meer. Und dass dessen Art zu leben unvereinbar mit der großen Harmonie der Natur ist, ist ja eine allseits bekannte Tatsache.“
„Was tat das Wesen denn bei der Ankunft der neuen Siedler?“
„Es wurde verwundet, aber nicht sehr. Dieses Wesen kann nicht so einfach von Menschenhand besiegt werden. Doch die steinernen Häuser und gerodeten Wälder waren wie ein Geschwür auf seiner Haut.“
„Und dann?“
„Nun, das Geschwür wurde immer größer und fraß sich tiefer und tiefer in den Leib des Wesens. Irgendwann wucherten in der Wunde Asphaltstraßen, U-Bahnschächte und Wolkenkratzer. Und schließlich auch diese Bar, in der wir uns gerade miteinander unterhalten.“
Ich schwieg einen Moment lang.
„Und ... das Wesen lebt noch?“
„Selbstverständlich. Und es hat auch immer noch einen Puls. Heute vielleicht sogar noch stärker und unnachgiebiger als früher, aus reinem Trotz. Nicht jeder spürt diesen Puls gleichermaßen. Manche spüren ihn überhaupt nicht, andere nur unbewusst. Andere bilden sich nur ein, ihn zu spüren. Die Leute aus meinem Volk hören sein Pochen so stark wie eine Basstrommel, die unermüdlich den Takt dieser Stadt vorgibt.“
„Aber wovon ernährt sich das Wesen seitdem?“
Der Indianer sah mich an und zog eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben.
„Was denken Sie denn, wovon es sich ernährt? Nahrung ist doch genug da. Auch, wenn sie ihm vielleicht nicht mehr so gut schmeckt wie früher und sie ihm oft den Magen verdirbt.“
Ich hielt einen Moment lang inne, um das Gehörte zu sortieren.
Schließlich sagte ich: „Ich weiß genau, was Sie meinen! Ich habe den Puls laut und deutlich gehört, und habe ihn mir sicher nicht eingebildet! Gibt es einen Weg, ihn immer zu hören, in seiner vollen Klarheit?“
Der Häuptling sah mich skeptisch an, nahm einen Schluck und meinte:
„Es gibt einen Weg, und ich würde es Ihnen gönnen. Nur nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber die meisten Leute wie Sie haben verlernt, den Puls mit ihrem vollen Verstand wahrzunehmen. Sie lassen zwar ihr Dasein von ihm lenken, begreifen ihn aber nicht. Wie Insekten, die sich vom Wandel der Jahreszeiten lenken lassen, und doch nicht wissen, wie Sommer oder Winter eigentlich entstehen.“
„Vielleicht die meisten. Aber ich möchte es gerne probieren, denn ich habe die Dinge schon immer anders wahrgenommen als meine Mitmenschen! Ich höre die Not im Lied eines armen Straßenmusikers, egal, wie schräg seine Geige klingt oder wie sehr er sich bemüht, sein Lied heiter klingen zu lassen. Ich sehe in den verblassten Graffiti in schmutzigen Seitengassen den Hunger von einsamen Künstlern danach, ihre Welt zu verändern, während andere achtlos ihre Mülltonnen davor abstellen. Und im Gedränge der Fußgänger auf den Straßen habe ich einen Herzschlag gespürt, der tief aus dem Untergrund zu kommen schien. Einen mächtigen Herzschlag, voller Leidenschaft! Ich möchte ihn wieder hören, und lauter. Bitte, sagen Sie mir, wie ich mit ihm in Verbindung treten kann!“
Meine Bitte klang flehender, als ich es erwartet hatte.
Der Indianer nahm einen weiteren Schluck. Dann sagte er:
„Schließen Sie Ihre Augen.“
Ich tat es.
„Machen Sie Ihre Ohren taub gegen das Geheul der Musikbox und gegen das Geraune der Stimmen an den anderen Tischen. Lassen Sie eine Ruhe in sich aufkeimen, die sich in Ihrem Inneren ausbreitet wie ein Efeugewächs.“
Ich konzentrierte mich auf die Ruhe, auf mein Innerstes.
„Atmen Sie tief ein und wieder aus. Aber langsam. Sehr langsam.“
Ich hörte, wie Luft durch meine Lippen entwich wie aus einem kaputten Fahrradventil. Der Häuptling gab mir Zeit, mich einzupendeln.
„Und jetzt hören Sie hin. Das ist das Wichtigste, hinzuhören. Sie müssen ganz und gar Ohr werden. Kein Leib, keine Hände, die zu manipulieren trachten und schon gar kein Mund, der mit seiner ordinären Stimme alles niederbrüllen will.“
Ein Vakuum stieg in mir auf wie Luftblasen aus der schwärzesten Untiefe des Meeres. Die Musikbox dudelte nur noch als ersticktes Echo vor sich hin und schien immer schwächer zu werden.
„Was sehen Sie?“
„Nichts. Ich bin eingehüllt in eine Welt aus Dunkelheit“, flüsterte ich.
„Und was hören Sie?“ Die Stimme des Ureinwohners war so präsent wie vor meinem Abstieg in mein Innerstes.
„Ich höre einen Klang, nein, die Negativform eines Klanges ... Wo Schall sonst seine Umwelt mit Lautstärke überdeckt, so verbreitet dieser Klang eine große Stille. Eine dröhnende, urgewaltige Stille ... Sie schwillt immerzu an und wieder ab, wie die Brandung einer Meeresströmung, die gegen eine Felsküste schlägt ... Aber sie entgleitet mir wieder ...“ Plötzlich war mir, als hätte die Stille ein Wort geformt. Oder eher einen Gedanken. Eine Aneinanderreihung von unbekannten Silben, doch irgendwie wusste ich sogleich, was sie bedeuteten.
„Ich höre einen Namen! Den Namen des Wesens!“
„Zügle deine Stimme!“, ermahnte mich der Häuptling, „Du kannst nicht hinhören und zur selben Zeit laut sein!“
Ich hauchte die Silben des Namens vor mich her, als wollte ich mit meinem Atem eine zarte Kugel aus geschmolzenem Glas blasen:
„Ku-ko-chonua ...“
Der Indianer schwieg, dann sagte er:
„Du erstaunst mich, mein Freund! Die Wenigsten sind derart feinfühlig, dass sie nicht nur den Puls, sondern gleich die Stimme des Wesens erspüren können! Erst recht nicht beim ersten Mal, und noch seltener, wenn es sich um einen Weißen handelt. Aber vielleicht haben Sie auch einfach nur unerhörtes Anfängerglück. Manche hören diesen Namen nur einmal, und finden ihn kein zweites Mal in ihrem Leben.“
Ich nahm seine Worte wahr, aber meine Ohren waren nur auf die Stimme gerichtet, die aus reinen Gedanken bestand. Oder viel mehr die Stimmen, denn es war, als würden die Silben von tausenden von Kehlen geformt werden, die wie eine einzige sprachen. Es war, als wollten sie mich einladen, in ihren Chor mit einzustimmen. Der Chor steigerte sich zu einem extatischen Höhenflug, ebbte dann sofort wieder ab zu einem verhohlenen Wispern, schwoll dann wieder an, wie ein Puls. Der Chor war der Puls, der Puls der Stadt! Sirenengleich hypnotisierten mich seine Stimmen, sein Rhythmus. Ehe ich verstand, wie mir geschah, wollte ich ein Teil des Chores werden. Ich bündelte meine gesamte Geisteskraft, um vollständig in die Welt der Dunkelheit hinüberzugleiten, nein, dort hineingeboren zu werden. Ich zwang mich den Stimmen entgegen, suchte die Richtung, aus der sie zu mir drangen. Ich verlor die Orientierung, weil sie von allen Seiten zugleich zu kommen schienen. Dann merkte ich, dass sie von unten zu mir heraufstiegen. Ich bündelte meinen Geist, um hinab zu tauchen, ich bündelte ihn so sehr, dass er einen Astralleib zu manifestieren schien. Wie ein Taucher drehte ich mich in Richtung des bodenlosen Nichts unter mir. Dann meinte ich, etwas zu sehen: Ein Geflecht aus Wurzeln schlängelte sich mir aus der Schattenwelt entgegen. Es war, als würde es aus den Tiefen der Erde hinaufwachsen. Oder waren es Adern? Sie begannen zu zucken und zu flattern. Es waren ... Tenktakel! Sich windende, chaotisch umeinander hertanzende Tentakel! Sie versetzen mir einen Schauer, doch der Chor lockte mich noch immer. Wussten die Tentakel, dass ich da war? Was würden sie mit mir machen, wenn ich mich in ihnen verfinge? Mein Schauer wurde stärker, aber die Verlockung der Stimmen war noch mächtiger. Ohne einen weiteren Gedanken bewegte ich mich weiter nach unten. Die Tentakel schienen voller Gier noch heftiger zu tanzen, gleich würden sie mich berühren können. Doch ich dachte gar nicht an sie. Da spürte ich einen Auftrieb. Es war der Rest meiner banalen Alltagswahrnehmung, die immer noch mit einem Ende in der Wirklichkeit der Bar feststeckte. Mit aller Macht versuchte mein Geist, sich gänzlich aus dieser allzu diesseitigen Welt loszureißen. Er zog, er dehnte sich - und erschlaffte. Erschöpfung brachte die Schutzmauern, die den Chor von dem Getöse von außen abschirmten, ins Wanken. Das Musikgedudel und die Kneipengeräusche, die meine mentale Festung wie eine feindliche Armee belagert hatten, drückten die Tore ein. Der Chor wurde schwächer. Was, wenn ich ihn danach nie wieder zu hören bekam? Meine Seele streckte ihren nicht-stofflichen Arm den Stimmen entgegen, und mein Astralmund rief: „KUKOCHONUA!“
Und mein realer Mund aus Fleisch und Zähnen hatte es auch gerufen.
Eine Flutwelle aus Kneipenlärm und Alkoholgeruch schwemmte die Dunkelheit hinfort, und ich öffnete meine Augen. Ich sah den Barkeeper, wie er überrascht zu mir hinüberschaute, bevor er sich wieder dem Auswischen eines Glases widmete.
„Es ist weg ...“, stammelte ich.
Der Indianer rümpfte die Nase, dann nahm er einen langen Zug aus seinem Glas.
„Sie waren zu laut,“ sagte er beim Absetzen. „Ich habe Ihnen nicht umsonst gesagt, Sie können nicht gleichzeitig laut sein und dem Wesen zuhorchen. Das ist aber leider typisch für Ihr Volk. Sie haben nur gelernt, dem Rhythmus von lauten Maschinen und tickenden Uhrwerken zu folgen, aber nicht mehr dem Klang der Stille. Aber machen Sie sich nichts daraus.“
Er wandte sich wieder von mir ab, so als sähe er keinen Sinn mehr darin, Worte an mich zu verschwenden.
Ich war noch nie wie die meisten meiner Leute!, wollte ich protestieren, sagte dann aber doch nichts. Kameradschaften in diesen Bars kamen und gingen schnell. Nachdem wir wieder zu Fremden geworden waren, musste sich mein Geist für eine ganze Weile erholen. Der Alkohol half dabei. Dann fragte ich mich, ob es für einen Menschen ein Segen oder ein Fluch wäre, zu einer Stimme in einem so gewaltigen Chor zu werden. Als ich irgendwann ausgetrunken, bezahlt und die Bar verlassen hatte, in der der Häuptling noch immer sein Glas anschwieg, bahnte ich mir einen Weg durch den Strom aus Menschenleibern. Wie ich so ging, hallte dieser Name in meinem Kopf nach. Kukochonua.
Einmal mehr hatten sich Wolkenschichten über den Dächern angesammelt und ließen jetzt kalten Nieselregen auf die Straßenschluchten herab. Da es schon Spätherbst war und der Regen unangenehm kalt, entschloss ich mich, die nächste U-Bahnstation aufzusuchen, um die Strecke zu meinem Appartement vor den Elementen geschützt zurückzulegen. Ich mochte die U-Bahn sonst nicht. Sie war der einzige Ort in der Stadt, an dem ich mich nicht frei fühlte, und die mir sonst so willkommene Anonymität der Masse wandelte sich dort von einem rauschenden Forellenbach zu einem abgestandenen Fischteich. Die Luft dort unten war stickig und ihre Wärme war fast genauso ekelhaft wie die Kälte des Regens, nur mit dem Vorzug, dass sie einem nicht wie der Regen am Mantel haften blieb, wenn man endlich daheim war.
Wie ich auf dem Bahnsteig unter der Erde stand und auf den Zug wartete, heftete sich der Blick eines Obdachlosen an mich. Er lehnte an einem Pfeiler und hatte nur ein dürres, unbedecktes Bein. Das andere Bein fehlte. Eine Holzkrücke hatte dessen Aufgabe übernommen. Ein breites, zahnloses Grinsen tat sich in seinem verfilzten Bart auf, und ich hörte ihn sagen: „Wir haben dich gehört! Gehört haben wir dich, ja!“ Ich drehte mich weg und versteckte mich in dem Rudel der anderen Wartenden. In einer unangenehmen Situationen wie dieser webte ich immer einen Kokon aus Grübeleien um mich, und grübeln fiel mir nach der Begegnung in der Bar wahrlich nicht schwer. Wieder versuchte ich, dem Puls der Stadt nachzufühlen, diesem uralten, nicht enden wollenden Rhythmus, der vor mir und vor allen anderen da gewesen war und auch nach uns allen noch da sein würde. Der sich irgendwann wieder von diesem Parasitenbefall kurieren würde, um sich dann an frischem, gesundem Leben laben zu können, anstatt schalen Fraß aus der Konserve schlucken zu müssen.
Ich schloss die Augen. Ich tastete nach dem Puls. Ich vernahm ihn wieder. Erst nur schwach, doch ich ballte meine gesamte Konzentration. Diesmal fiel es mir leichter, ja es war fast, als würde nicht nur ich den Puls, sondern der Puls auch mich suchen. Der Puls wurde lauter und schneller, er kam regelrecht aus den Tiefen des Untergrunds auf mich zugerattert. Oder war das die Bahn? Der Alkohol hatte mir einen angenehmen Schwips versetzt. Die Müdigkeit nach einem langen Tag hüllte mein Hirn in Watte und die Berührung mit einer anderen Welt ließ mich das Hier und Jetzt vergessen. Ich spürte einen Sog, der mich zu dem Geratter hinzog, das jetzt quietschend vor mir hielt.
Kukochonua ...
Ich ließ mich von der Masse in den Waggon schieben, als sei ich Teil eines Sardinenschwarms, der sich freiwillig in seine Dose presst. Ich hielt meine Augen immer noch geschlossen. Ich befand mich im Übergangsstadium zwischen Rausch und Schlaf. Ich hörte, wie sich Schiebetüren schlossen, und mit einem Ruck setzte das Rattern von neuem an. Lauter jetzt, und es klang dumpfer und schwer wie ein Schmiedehammer. Der Waggon nahm Fahrt auf. In meinem Dämmerzustand und der freiwilligen Blindheit fühlte es sich fast an, als würden wir fliegen. Doch immer mehr bekam ich den Eindruck, als ginge es nicht hinauf, sondern hinunter, hinab in die Eingeweide der Stadt, zu ihrem schlagenden Herzen. Der Chor aus tausend Kehlen rief meinen Namen. Die anderen Menschen um mich herum lösten sich auf, ihr Gemurmel, ihr Geraschel und ihre Gerüche. Ich war wieder allein, aber dennoch war ich nicht einsam. Alles um mich herum löste sich auf, erst die Passagiere, dann der Waggon, und schließlich meine physische Hülle. Ich tauchte ein in den Blutstrom von etwas Gewaltigem, etwas Großem. Ich ging auf in dem Puls, der jetzt der Herrscher dieser Welt war, und obschon ich diesen Herzschlag bereits lange gespürt hatte und mit ihm mitgeschwommen war, tat ich dies nicht mehr als Fremdkörper. Ba-Bumm! Ba-Bumm! Wo würde mein Ich hingeschwemmt werden? Würde ich wieder ausgespuckt werden als umherwandelnde Hülle, wie die vielen anderen, die mir schon zu tausenden in den Straßen entgegen gekommen waren? Oder bekäme ich jetzt die Einladung, dazuzugehören? Ich antwortete dem Chor.
Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich kein Verlangen nach Einsamkeit.