Der Rabe
Der Rabe schien ihr ständig im Nacken zu sitzen, saß da mit seinem schwarzen, glänzenden Federkleid und dem langen Schnabel. Und schaute sie unermüdlich an, mit starrem Blick, so kalt. Jedes Mal wenn sie ihn ansah, erschauderte sie unwillkürlich und sie schwor sich, ihn nun wirklich keines Blickes mehr zu würdigen, einfach ignorieren würde sie ihn. Doch dann stellte sie fest, dass sie diesen Blick spürte, ohne ihn anzusehen. Ihre Körperhärchen stellten sich auf, als stünde sie mit nasser Haut in kaltem Wind. Langsam, ganz langsam drehte sie den Kopf in die Richtung, aus der sie den Blick spürte – und tatsächlich: da saß er wie immer und starrte sie an.
„Warum schaust Du mich immerzu an? Warum folgst Du mir?“, hatte sie ihn schon gefragt. Das war, als er ihr aufgefallen war, als er ihr zum ersten Mal hinterher geflogen war.
Eine Antwort hatte sie nicht erhalten, nicht da und auch später nicht, wenn sie ihn wieder und wieder fragte: „Warum schaust Du mich immerzu an?“ Ihre Stimme hatte gezittert.
Sie begann, die Orte zu meiden, an denen sie den Raben am meisten vermutete: ihren Lieblingsplatz im Garten unter der alten Tanne, die Wiese oberhalb des Hauses, den Platz am Dorfbrunnen. Aber es nützte nichts, er war einfach überall, egal, wo sie sich – versteckte.
Ja, irgendwann hatte sie angefangen, sich regelrecht zu verstecken. Zunächst war ihr das gar nicht bewusst gewesen, wie sie hinter halboffenen Türen lauerte, wie sie sich hinter Gardinen duckte, wie sie auf Zehenspitzen daher schlich.
„Schleich dich nicht so an!“, hatte ihre Mutter sie eines Tages angefahren. Da erst war es ihr aufgefallen. Dass sie sich vor einem Raben versteckte.
Er hielt stets einen gewissen Abstand ein, es schien eine unsichtbare Grenze zu existieren zwischen ihm und ihr, die er nie zu überschreiten wagte, an die er sich hielt. Ein ungeschriebenes Gesetz. Aber dieser Abstand war, wie sie fand, viel zu gering. Sie konnte genau seine Pupillen erkennen, sie zuckten fast unmerklich. Sein Blick folgte ihr, ohne dass er seinen Rabenkopf bewegte, nur die Pupillen fuhren ihren Bewegungen unerbittlich nach. Er hatte wirklich kein Erbarmen mit ihr, die ihn schon ganz verzweifelt, fragte: „Warum bloß schaust Du mich so an??“
Eines Tages, sie war gerade in den Gemüsegarten gegangen um Salat zu holen – ihre Mutter hatte sie geschickt – schlug der Rabe, der sich wie immer ganz in ihrer Nähe niedergelassen hatte, mit seinen schwarzen Flügeln und flog hoch in die Luft. Erstaunt sah sie ihm nach, wie er höher und höher flog, höher und höher. Irgendwann war er nur noch ein winzig kleiner Punkt am blauen Himmel, kaum wahrnehmbar. Schnell rupfte sie den Salat aus der Erde und rannte zurück ins Haus. Ein unendliches Glücksgefühl überkam sie, denn sie glaubte, jetzt sei sie diesen unerbittlichen Raben mit seinem kalten Blick endlich los. „Endlich frei!“ Dieser Gedanke kam ihr, als sei sie eine Gefangene gewesen. Sofort kam sie sich selbst lächerlich vor, eine Gefangene!
Aber am nächsten Tag war er wieder da, der Rabe. Mit dem gleichen unerbittlichen Blick, mit der gleichen Kälte verursachte er den gleichen Schauer auf ihrem Rücken. Sie hatte sich endlich wieder unter ihre Tanne setzten wollen, in Ruhe und unbeobachtet. Als sie herauskam, saß er schon da, als hätte er auf sie gewartet, als hätte er genau gewusst, was sie vorhatte.
Vorsichtig kehrte sie um und lief langsam und traurig ins Haus.
Tagelang verbrachte sie unter seinem strengen Blick. Sie hatte die Hoffnung nun endlich aufgegeben, dass er verschwinden würde, dass er sie endlich in Ruhe lassen würde oder er ihr wenigstens eine Antwort geben würde, wenn sie ihn mit wachsender Verzweiflung fragte „Warum schaust du mich so an?!“ Er verschwand nicht, er ließ sie nicht in Ruhe und er gab ihr keine Antwort.
Als sie sich durchgerungen hatte, ihrer Mutter von dem Raben zu erzählen, von den Qualen, die sie durchstand, von der Angst, die sie empfand, sobald sie das Haus verließ, von diesem kalten Blick und von den zuckenden Pupillen, schaute ihre Mutter sie mit zweifelndem Gesichtsausdruck an. „Raben habe ich hier noch nicht gesehen, Kind.“, sagte sie. Einfach so, als hätte sie sich nur eine Geschichte erfunden, eine Geschichte mit einem kleinen Regiefehler. „Raben gibt es hier so gut wie gar nicht.“
Als sie mit der Mutter in den Garten ging – nach langem Überreden war diese endlich bereit gewesen – saß der Rabe schon da. Er saß auf einem Pfahl des Zaunes, als habe er sie erwartet, wie so oft. Kalt und spöttisch blickte er ihnen entgegen.
Aber diesmal hatte sie keine Angst, diesmal trat sie ihm mutig entgegen und sie war es, die zum ersten Mal, seit sie sich kannten, die unsichtbare Grenze durchbrach. Sehr nah neben ihn stellte sie sich, zeigte mit dem Finger auf den Raben, ihr Finger berührte ihn fast. Das traute sie sich, denn heute war sie ja nicht alleine, heute war ja die Mutter dabei. „Da, schau, da sitzt er und wartet schon auf mich. Immer sitzt er da und wartet!“, rief sie der Mutter zu.
Die Mutter sah sie an, eine verärgerte Falte hatte sich auf der Stirne gebildet, sie tat eine unwirsche Handbewegung. „Also, weißt du, wegen so etwas störst du mich? Ich habe dir doch gesagt, hier gibt es keine Raben!“, das klang sehr streng. Sie drehte sich um und lief ins Haus.
Der Rabe saß da, mit seinem schwarzen Federkleid und dem langen Schnabel und sah ihr unerbittlich nach, mit kaltem, spöttischem Blick.