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Der Rabe
Tick. Nachdenklich liege ich auf meinem Bett. Tack. Und lausche den dumpfen Lauten meiner Wanduhr. Tick. Wie in einem Kanon reiht sich parallel eine zweite Stimme in das monotone Ticken ein. Der Rabe, der von draußen gegen mein Fenster klopft, im gleichen Rhythmus, das gleiche monotone Geräusch. Tack. Er krächzt um Einlass. Tick. Mit seinem dunkelgrauen Schnabel. Tack.
„Draußen friert es. Du musst mir Unterschlupf gewähren“, hallt es in mein Zimmer.
„Flieg doch in den Süden, so wie all die anderen Vögel im Winter!“, schreie ich ihm entgegen, bevor ich das Rolloband hinunterschnappen lasse, dass der Rabe beinahe seinen dunkelgrauen Schnabel zwischen den etwas bleicheren Lamellen und der Fensterbank einklemmt.
„Ich bin nicht wie die anderen. Du weißt, dass ich nicht wie die anderen bin. Und das tut mir leid...“, er flattert auf den nahen Baum ein Stück rechts von meinem Fenster.
Ich weiß es, ohne es sehen zu können, und doch ziehe ich den Rollo wieder nach oben, um mich zu vergewissern, dass er wirklich da sitzt, auf dem schwachen und schneebedeckten Ästchen, das aussieht, als wolle es bald brechen.
Tick. „Lass' ihn doch hinein“, schnurrt meine Katze, „ich werde ihn zerfetzen. Mit einem Mal. Schau nur, wie scharf meine Krallen...“ Sie lächelt, ihre Zähnchen blitzen. Ich kraule ihr Köpfchen, streichel ihr Fell. Tack.
„Nein, ich will ihn nicht hier haben, nicht lebendig und auch nicht in Stücken... Nie wieder will ich ihn bei mir haben, verstehst du? Er soll in den Süden, soll weg, weg von meinem Fenster...“
Das Kätzchen schleckt mir die frischen Tränen aus den Augen; wenn es doch nur ein Schwert als Zunge ... und damit durch meine rotgeheulten Äpfel ..., damit ich sein pechschwarzes Federkleid nicht mehr sehen muss.
Und dann hämmert es wieder an meinem Fenster, der harte Schabel dröhnt auf dem lange nicht geputzten Glas. „Ich brauche dich. Ich werde kümmerlich verrecken in der eisigen Kälte...“
„Nie hast du mich gebraucht“, schreie ich dem Raben entgegen, während meine Katze mich am Arm kratzt und mein Schreien dadurch immer lauter und schmerzvoller wird: „Nie warst du für mich da! Geh weg von meinem Fenster, meinem Leben...“
Und wieder muss ich weinen. „Mein ganzes Leben war ich ihm egal. Ich war da, einfach nur da. Wie ein Ding, ein Wurm vielleicht, den er einst gefangen und in sein Nest geschleppt hat. Doch statt mich zu fressen, hat er mich einfach liegen lassen, eingesperrt und gefüttert, damit ich ihm nicht verhungert bin und er mich weiter hat ignorieren können.“ Die Katze kratzt mich wieder am Arm, doch diesmal bohrt sie sich in meinen Adern fest. Welch erlösender Schmerz, wie befreiend er ist und doch heule ich weiter. Blut tropft auf meinen strohbraunen Teppichboden.
Das Pochen an der Tür reißt mich aus meinen Gedanken. Sie knarzt, das macht sie schon immer, mein ganzes Leben lang. „Möchtest du nichts essen heute Abend?“, krächzt er.. Meine liebe Katze stürmt ihm entgegen, – Tick-Tack – und bohrt ihre Krallen mitten durch sein Herz. Stille. Einen kurzen Moment lang. Er liegt tot auf meinem Teppich.
Die untergehende Sonne schickt mir ein zartes Rot durchs Fenster. Mein Miezekätzchen tanzt zur Melodie der Wanduhr durchs Zimmer. Zum ersten Mal höre ich, wie fröhlich all die vielen Töne sind. Tick-Tack. Tick-Tack.