Der Rat
An dem Geländer vor meinen Augen hing eine Reihe von Tropfen. Langsam wurden sie größer, bis sie fielen, aber es blieb immer ein Teil zurück, der die Basis für den nächsten Tropfen bildete, und dabei stets größer war, als der Fall des Tropfens erwarten ließ. Ich beobachtete das Spiel nun schon eine Weile und überraschenderweise liefen einmal zwei Tropfen zusammen und es blieb fast nichts zurück. Es regnete und stürmte nun schon seit Anfang der Woche. Dabei war es ungewöhnlich kalt für die Jahreszeit.
Ich hätte gerne die See beobachtet, die feine Linie des Horizonts, und versucht den Wind fernab der Küste zu sehen. Die nahen Wellen hatten weiße Kämme und viel weiter konnte man im Regen nicht sehen. Die Natur hatte ihre Farbe verloren und den Kontrast mit dazu. Hellgrauer Himmel, mittelgraue See, dunkelgrauer Beton um mich herum, ein metallisch graues Geländer, vom Regen dunkel. Einzig die dunkelbraune Rostspur widersetzte sich dem Farbschema.
Mitten in meiner Beobachtung setzte sich jemand neben mich auf die Bank. Ich drehte den Kopf und es war ein alter Mann. Nicht meine Art von alt, mit grauen Haaren, Erinnerungen an bessere Zeiten, der sich Gedanken um die Zukunft macht und dabei still akzeptiert, dass Sport nun nötig ist, um auf lange Sicht mobil zu bleiben. Sondern weiße Haare und ein Gesicht, dessen Falten dominanter als seine Züge waren, ohne einen Hinweis auf sein wirkliches Alter. Ich sah wieder auf den vom Regen verdeckten Horizont.
„Scheißwetter.“ Seine Stimme war so faltig wie sein Gesicht.
Ich nickte.
„Der Himmel weiß, wie es da draußen aussieht.“
Ich hatte niemand vermisst, der sich zu mir setzte, um das Offensichtliche in Worte zu fassen. Ob ein erneutes Nicken das ausdrücken würde? Wider besserem Wissen antwortete ich „Ist landeinwärts nicht besser.“
Er nickte. „Mein Sohn ist bei so einem Wetter rausgefahren.“
Hätte ich nur nichts gesagt. Einfach genickt. Im dritten Satz kam schon die unverarbeitete Familientragödie, die niemand sonst hören wollte, vom Sohn, der seit Jahrzehnten mit seinem eigenen Leben beschäftigt war. Es sei denn, und das würde der nächste Satz offenbaren, er wäre längst gestorben. Und doch ließ ich mich zu einer Antwort hinreißen. „Schlechte Idee.“
„Man verschwindet in dem Wetter, bevor es jemand merkt.“
War das eine Tragödie oder ein Vorschlag? Wusste er um meine Gedanken? Man musste vorsichtig sein. Es gab genug Leute, die bereitwillig jeden verrieten, um ihr Leben mit etwas Kleingeld aufzubessern. Ich drehte meinen Kopf langsam genug, um meine Neugier zu verbergen und machte ein missmutiges Gesicht. „Da draußen hört Dich niemand schreien.“
Er führte die Spitze seines Zeigefingers vorsichtig an einen Tropfen des Geländers, bis er an ihm herab lief. Es blieb kaum etwas am Geländer zurück. „Hier kümmert es auch niemand, wenn Du stirbst.“
Es war nicht direkt verboten, das Land zu verlassen, aber wer versuchte, Werte außer Landes zu schaffen, war in Gefahr, und wer blieb, musste Enteignungen fürchten. Nach ein paar Jahren politischen Theaters, welches die Probleme nur zur Selbstdarstellung nutzte, wirtschaftlichen Verfalls und ständigen Unruhen war der Staat dysfunktional schwach und die öffentliche Ordnung erodierte ungehemmt. Jedermann konnte in diesem Gesellschaftskampf zum tödlichen Feind werden. Aber er hatte meine Neugier geweckt. „Wie erging es ihm?“
Er seufzte. „Hab nie wieder von ihm gehört.“
Also doch eine Tragödie. Vermutlich gab es einfach mehr Tragödien als schlechte Menschen, was nicht trostreich war. Vielleicht sollte ich noch etwas Unverfängliches sagen und mich dann verabschieden, bevor ich ungefragt mit weiteren Familiengeschichten in Kontakt kam. „Tut mir leid.“
Überraschenderweise lachte er leise und wirkte plötzlich noch viel älter. „Nicht schön, aber musste sein. Es wurden ein paar Sachen vom Boot angespült. Die Behörden haben nicht mal nach ihm gesucht.“
Die Sache fing an, seltsam zu werden. „Warum musste es sein? Er könnte noch leben, wenn er nicht gefahren wäre.“
Er sah mich an und in dem Gesicht war keine Trauer, sondern eine versteckte Fröhlichkeit in den hinter tiefen Falten versteckt immer noch lebendigen graublauen Augen. „Er hat bestimmt ein gutes Leben. Das war alles gut vertäut und wäre mit untergegangen.“ Er sah auf die aufgewühlte See und den dichten Regen. „Scheißwetter. War die einzige Chance.“
Auf einmal verstand ich es. Er trauerte nicht. Er feierte die Erinnerung. Der Gedanke vertrieb die schleichende Kälte, die schon länger Besitz von mir ergriffen hatte. Die Idee war einzigartig. Oder wollte er mich verführen? „Was war das für ein Boot?“
Er griff sich mit langsamen Bewegungen in die Jacke und zog ein Foto heraus, was, den Spuren nach zu urteilen, schon lange dort aufbewahrt wurde. Die Ränder waren in einem floral anmutenden Muster gezackt geschnitten und das Bild sepiafarben. Es zeigte vor dem Hintergrund des Hafens eine kleine Ketch, von der anderen Seite der Mole aus aufgenommen. „Gutes Holz. Segelte wunderbar.“ Das Foto musste alt sein, denn es fehlten einige Gebäude. Ich gab es ihm zurück und er nickte.
Auf einmal sah ich die regnerischen Böen mit anderen Augen. Ich wartete nicht auf ein Wetterfenster und eine Chance, ich war mitten drin. In Gedanken fügte sich alles zusammen. Die Datenreihen zeigten, dass das Land unmittelbar vor dem Kollaps stand. Mit dem Hintergrund der angeschlagenen öffentlichen Ordnung würde das mit Sicherheit nicht friedlich enden und der Neid gegenüber jedem, der noch etwas besaß, wuchs. Die Zeit lief, aber das Wetter war unbarmherzig. Ich sah ihn wieder an, aber mein Blick fiel ins Leere. Er war offenbar aufgestanden und gegangen, ohne dass ich es bemerkte. Ich drehte mich um, suchte ihn im Hafen, aber ich war allein im Sturm. Das Foto klebte auf der nassen Bank und Regentropfen verzerrten die glänzende Oberfläche. Mit nasskalten Fingern nahm ich es in die Hand, versuchte vergeblich es abzuwischen und drehte es um, auf das verblichene Datum starrend, nach dem es über 100 Jahre alt war. Wie ich es in Gedanken auch wendete, es kam nichts Sinnvolles dabei heraus. Er machte nicht den Eindruck von Demenz. Ich steckte es in meine Jacke, löste meine Gedanken von den Tropfen und stand auf.
In der Hafenkneipe bestellte ich einen heißen Becher Tee. Niemand machte sich mehr die Mühe einer Karte. Die Getränkepreise wurden mit Kreide täglich neu notiert und mehr gab es schon lange nicht. Es kostete, was es kostete. Der Wirt nickte mir zu. „Scheißwetter.“
Ich verzog das Gesicht. „Scheißkalt.“ Dann versuchte ich mein Glück. „Hast Du schon mal von einem alten Mann gehört, der seinen Sohn verlor? Er fuhr bei so einem Wetter raus. Muss lange her sein.“
Er zuckte mit den Schultern. „Da gab's viele. Was für ein Boot?“
„Eine Ketch. Holzrumpf. Er hat mir ein Foto gezeigt, auf dem ein paar Häuser fehlten.“
Er wurde blass. „Bleib mir weg mit so Spökenkram.“
Ich runzelte die Stirn. „Was?“
Er zeigte auf die Wand hinter sich, wo hinter Glas diverse historische Fotos hingen. Ich erkannte das Boot sofort wieder und den alten Mann dazu. “Wurde eine Woche nach dem Tod seines Sohns bei Unruhen erschossen, direkt hier vor der Tür. Nach der großen Wirtschaftskrise, vor dem Krieg. Muss jetzt wohl hundert Jahre her sein. Komisch, wie sich alles wiederholt. Man sagt, seitdem spukt er hier bei Sturm herum.“
Ich starrte auf die Fotos und bezahlte meinen Tee. Die Sache war seltsam, aber meine Gedanken waren bei der Einsamkeit da draußen. Es schüttete nun wie aus Eimern. Seit ich die Miete nicht mehr bezahlen konnte, wohnte ich auf dem feuchtkalten Boot. Zurück an Bord sah ich mich um und bei dem Wetter war keine Menschenseele am Hafen. Ich startete den Motor und löste die Leinen. Der Hafen verschwand im Nu hinter mir und ich war allein. Das Boot kämpfte mit den Wellen. Ich klemmte mich am Steuerstand ein und holte das Foto aus meiner Jacke. „Danke für den Rat. Ich versuch's.“ Fast erwartete ich eine Antwort, aber es gab keine.
Ein paar Meilen weiter warf ich das alte Dinghy, etwas Müll und eine verzurrte wasserdichte Kiste über Bord. Bei dem Wetter war die Arbeit an Deck trotz straffer Leine lebensgefährlich. Einen Tag später war ich zum Sterben seekrank. Das Boot segelte mit einem winzigen bisschen Sturmsegel und wollte konstante Aufmerksamkeit am Ruder. Meine Hände zitterten und ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten. Alles war nass und kalt, aber ich war keiner Seele begegnet. Gegen Mittag riss die Wolkendecke auf, die Sonne kam heraus und der Wind ging zurück. Ich war frei, mit allem, was ich noch besaß.