Der Redselige
Er sass wie immer ganz still in der Ecke und träumte vor sich hin. Egal wo ich ihn traf, im Bus, auf dem Schulhof, auf der Strasse oder sonst wo. Ich kannte ihn schon seit drei Jahren und er sah mir nie direkt ins Gesicht. Meistens hafteten seine Augen auf dem Boden. Er tat niemandem etwas. Früher hat man ihn oft gehänselt, doch als er nie darauf reagierte, wurde es ihnen zu langweilig und sie hörten damit auf. Durch seine zurückhaltende und scheue Art wurde er im ganzen Schulhaus bekannt, man nannte ihn nur noch den Redseligen. Er redete nur, wenn er etwas gefragt wurde. Und auch das in möglichst kurzen Sätzen. Von uns gab sich niemand gerne mit ihm ab. Er war auch nie auf uns zugekommen und hat mit uns angefangen zu reden. So haben wir ihn mit der Zeit einfach in Ruhe gelassen.
Ich hatte heute meinen Glückstag. Als erstes bekam ich eine 6 in Mathe und dann sind sogar noch un-sere Schullektionen am Nachmittag ausgefallen. Ich hüpfte übermütig die Treppen hinunter und wäre fast mit dem Redseligen zusammengestossen. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück und entschul-digte mich wortreich bei ihm. Er hingegen murmelte ein kurzes "schon gut". Ich wurde sauer. Schliess-lich war er an unserem beinahen Zusammenstoss genau so Schuld wie ich. Ich schrie ihn an, er sei rück-sichtslos und er hätte sich auch bei mir entschuldigen müssen. Zum ersten Mal schaute er mir ins Ge-sicht. Seine Augen sahen traurig und bemitleidend aus. Sofort tat es mir leid, was ich zu ihm gesagt habe. Doch ich war so erschrocken über seinen Gesichtsausdruck, das ich die ersten Sekunden kein Wort herausbrachte. Und dann war es zu spät um mit ihm zu sprechen, da er mit gesenktem Kopf schon um die Ecke marschierte.
Unser Zusammentreffen beschäftigte mich noch eine ganze Weile und ich fragte mich, was wohl ihn ihm vorging. Als ich am Abend deswegen nicht einschlafen konnte, nahm ich mir vor, morgen mit ihm zu reden.
Als ich am nächsten Morgen auf den Schulhof schlenderte, suchte ich ihn. Doch nirgends sah ich einen scheuen Jungen, der in der Ecke stand und auf den Boden starrte. Ebenso in der grossen Pause und am Mittag war er nirgends auffindbar. Auch als ich bei einigen Mitschülern nach ihm erkundigte, hatte ihn niemand gesehen. Langsam machte ich mir Sorgen.
Als wir nach der Mittagspause wieder angewidert in unser Schulzimmer zurück kehrten, kam unsere Klassenlehrerin bedrückt zur Tür herein. Sie bat alle um Ruhe und sagte mich belegter Stimme; " Thomas Schäfer aus eurer Parallelklasse hat sich gestern das Leben genommen. Jeder schwieg bedrückt. Einerseits waren alle geschockt, das sich jemand in unserem Alter das Leben nehmen würde und ande-rerseits wusste niemand, wer dieser Thomas Schäfer eigentlich gewesen war. Plötzlich ging mir ein Licht auf und ich stammelte: "Der Redselige!" Jetzt wurde es auch allen anderen klar, wer dieser Unbekannte war. Mir wurde ganz schlecht und mulmig. "Warum habe ich ihn gestern nur angeschrien und warum bin ich ihm gestern nicht nachgelaufen?" Ich rannte auf die Toilette. Tränen rollten über meine Bak-ken. Vielleicht,... vielleicht hätte ich ihm helfen können...