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Der Reiter, der die Wellen vergaß
Kannst du ohne Träume denken?
Eine Gegenwart ohne die Erinnerung an Vergangenes und Phantasie für das, was sein wird.
Nur das Jetzt.
Wenn der kurze Augenblick vorbei ist, formt er sich zu Mustern, die den Händen entschlüpfen.
Vorstellungskraft; die Gabe in der Zeit zu reisen, um Mensch zu sein.
Ein Mann lebt nie im Jetzt, weil er auf bessere Erinnerungen hofft, sobald das Momentane nur weit genug zurück liegt.
Zukünftig hatte er sich alles andere besser vorgestellt. Aber welchen Unterschied macht das noch, wo er sich doch einreden kann, dass der gestrige Tag ein schöner war.
Langsam gleitet das Messer über die Brötchenhälfte und bedeckt sie mit Butter. Er legt eine Scheibe Wurst auf das Fett und isst.
Ein Festmahl wird es gewesen sein, morgen, wenn er sich erinnert.
Dann ging er zur Tür hinaus auf den Balkon und betrachtete das schöne Wetter, das er sich gewünscht hatte, bevor diese triste Situation stattfand, die er nun rückblickend schmerzlich vermisst.
Der Mann wird morgen vieles ändern, seinem Leben eine neue Richtung geben.
Und übermorgen wird er glücklich an den vorherigen Tag denken, an dem er ein Brötchen aß und vom Balkon aus die Vögel beobachtete.
Nur der Walzer ist ewig. Der Walzer, der wieder und wieder aus den Lautsprechern seiner kleinen Anlage spielt.
Der war gestern genauso schön, wie er es morgen wieder sein wird. Nur momentan ist er trist, aber das stört den Mann nicht, denn an der Musik hat er das Interesse verloren.
Nur in seinen Erinnerungen hat sie noch Bedeutung; und deshalb hält er die Melodie ganz fest, umklammert, was die Arme nicht greifen können, und isst sein Brot, hat sein Brot gegessen, wird es essen, und anschließend die Vögel vom Balkon aus beobachten.
Während die Zeit so vergeht, und der Mann alt wird, und seine letzte Station das Krankenbett ist, da erzählt er seinen Enkeln von einer goldenen Welt, wie es sie damals noch gegeben hat, als er jung war.
Blauer Himmel und Bäume und Vögel und saftige Wiesen, die er von dem kleinen Balkon aus beobachtet hat. Das war so schön, da benötigte niemand einen Fernseher, oder Videospiele.
Das frische Brot aus der Mühle, der Aufschnitt vom Metzger; damals hatte alles seinen Sinn, und Spaß hatte er gehabt.
Tatsächlich: Die Erinnerung wurde / wird schmerzhaft; sehnsüchtig sinnierend über eine erfundene Zeit; ein Meer aus Erinnerungen, das den einsamen Segler über vertane Inhalte und Leere schaukelt; auf seinen Wellen, die wie ein Walzer fortlaufend der realen Zukunft entgegenpeitschen.
Dann gibt es den Mann plötzlich nicht mehr.