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Der Reiter, der die Wellen vergaß

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24.04.2003
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Der Reiter, der die Wellen vergaß

Kannst du ohne Träume denken?
Eine Gegenwart ohne die Erinnerung an Vergangenes und Phantasie für das, was sein wird.

Nur das Jetzt.

Wenn der kurze Augenblick vorbei ist, formt er sich zu Mustern, die den Händen entschlüpfen.
Vorstellungskraft; die Gabe in der Zeit zu reisen, um Mensch zu sein.

Ein Mann lebt nie im Jetzt, weil er auf bessere Erinnerungen hofft, sobald das Momentane nur weit genug zurück liegt.
Zukünftig hatte er sich alles andere besser vorgestellt. Aber welchen Unterschied macht das noch, wo er sich doch einreden kann, dass der gestrige Tag ein schöner war.
Langsam gleitet das Messer über die Brötchenhälfte und bedeckt sie mit Butter. Er legt eine Scheibe Wurst auf das Fett und isst.
Ein Festmahl wird es gewesen sein, morgen, wenn er sich erinnert.
Dann ging er zur Tür hinaus auf den Balkon und betrachtete das schöne Wetter, das er sich gewünscht hatte, bevor diese triste Situation stattfand, die er nun rückblickend schmerzlich vermisst.
Der Mann wird morgen vieles ändern, seinem Leben eine neue Richtung geben.
Und übermorgen wird er glücklich an den vorherigen Tag denken, an dem er ein Brötchen aß und vom Balkon aus die Vögel beobachtete.

Nur der Walzer ist ewig. Der Walzer, der wieder und wieder aus den Lautsprechern seiner kleinen Anlage spielt.
Der war gestern genauso schön, wie er es morgen wieder sein wird. Nur momentan ist er trist, aber das stört den Mann nicht, denn an der Musik hat er das Interesse verloren.
Nur in seinen Erinnerungen hat sie noch Bedeutung; und deshalb hält er die Melodie ganz fest, umklammert, was die Arme nicht greifen können, und isst sein Brot, hat sein Brot gegessen, wird es essen, und anschließend die Vögel vom Balkon aus beobachten.

Während die Zeit so vergeht, und der Mann alt wird, und seine letzte Station das Krankenbett ist, da erzählt er seinen Enkeln von einer goldenen Welt, wie es sie damals noch gegeben hat, als er jung war.
Blauer Himmel und Bäume und Vögel und saftige Wiesen, die er von dem kleinen Balkon aus beobachtet hat. Das war so schön, da benötigte niemand einen Fernseher, oder Videospiele.
Das frische Brot aus der Mühle, der Aufschnitt vom Metzger; damals hatte alles seinen Sinn, und Spaß hatte er gehabt.
Tatsächlich: Die Erinnerung wurde / wird schmerzhaft; sehnsüchtig sinnierend über eine erfundene Zeit; ein Meer aus Erinnerungen, das den einsamen Segler über vertane Inhalte und Leere schaukelt; auf seinen Wellen, die wie ein Walzer fortlaufend der realen Zukunft entgegenpeitschen.

Dann gibt es den Mann plötzlich nicht mehr.

 

Hi Cerberus,

das ist eine schöne Reflexion über das Verhältnis von Zeit und Erinnerung. Ich kann mich erinnern ( ;) ) etwas Ähnliches in "Der Zeitmesser" gelesen zu haben, Du hast der Idee aber ein ganz eigenes Muster gegeben und das ganze - sehr schön, da selten - mit einer Handlung unterfüttert, nämlich dem Wurstbrotverzehr (übrigens eines meiner Lieblingshobbys).

Die Erinnerung wurde / wird schmerzhaft;
Das fand ich nicht so hübsch.

Im mittleren Absatz beginnst Du jeden neuen Gedanken mit "Nur". Das ist wohl Absicht, aber ich finde die Konstruktion nicht parallel genug, dass man es richtig wahrnimmt. Möglicherweise kannst Du das nochmal überarbeiten.

Insgesamt, wie gesagt, sehr schön! :thumbsup:

P.S.:

wikipedia schrieb:
Kerberos wurde zunächst einköpfig, später dreiköpfig oder auch fünfzigköpfig dargestellt, wobei auch noch andere Zahlen genannt werden.
Meine Annahme der fünf Köpfe stammt, wie mir einfiel, aus Gene Wolfes Kurzgeschichte "Der fünfte Kopf des Zerberus", ein verwirrendes Werk über Klone.

 

Hallo Naut und vielen Dank für deinen Kommentar.

Seit ich "Perlmanns Schweigen" von Pascal Mercier gelesen habe, ist das Thema der "erfundenen" Zeit, also der rückwirkend eingebildeten Situationsemotion, zu einem meiner Lieblingsthemen geworden.

Grüße

Cerberus

 

und nochmal ich:-)
wenn ich endlich mal ein bisschen zeit habe, dann muss ich die auch nutzen!
finde die idee sher schön und auch super umgesetzt!
die rolle die zeit und erinnerungen in unserem leben spielen erscheint einem im nachhinein immer wichtiger udn wichtiger zu werden:-)

hat mir sehr gefallen, vorallem weil die philosophie in deiner geschichte nicht überhand nimmt, oder zu einem schwall von aufgeschnappten ideen wird, sondern sich einfach aus deinen gedanken geformt hat:-)

liebe grüße,
fiona

 

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