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Der richtige Mann
Ein Pfeifton, ununterbrochen. Wann endlich hörte er auf? Der graue Monitor zeigte eine waagerechte, helle Linie. Großmutter war tot. Ihre noch warme Hand glitt aus Ritas. Der Arm fiel schlaff nach unten, als wollte er sagen: Jetzt ist es genug. Die goldene Armbanduhr löste sich und knallte auf den Fußboden.
Rita hob die Armbanduhr auf und sprach langsam zu Ihrer Großmutter. Zu dem, was von ihr übrig war, zu einem Körper ohne Seele. Wie sehr sie sie liebe und wie sehr ihre Nähe schon jetzt fehlen würde. Mehr konnte sie, tränenerstickt, nicht sagen.
Rita tat sich monatelang schwer mit dem Verlust. Omas Lachen, die veilchenblauen Augen, der zuweilen merkwürdige Humor und sogar das Parfum fehlten. Rita war bei Großmutter aufgewachsen, da sie ihre Eltern früh verloren hatte. Mit viel Liebe kümmerte sich Oma um die kleine Rita. Am Kinderbett sang sie das Lied vom Mann im Mond, La-le-lu, nur der Mann im Mond schaut zu, wenn die kleinen Babies schlafen, drum schlaf auch du, mit einem sanften Kuss und dem Duft zarter Vanille in der Nase schlief Rita ein.
Später lehrte Großmutter sie den Umgang mit Menschen. Noch später den Umgang mit Männern, eine ganz eigene Kategorie. „Zeige dem Mann immer, dass er der Herr im Hause ist und nimm du die Dinge in die Hand“. So lautete Gesetz Nummer eins.
Gefolgt von Nummer zwei „Männer sind große Kinder, lass ihnen ihr Spielzeug und halte die Hand auf das Verdiente“. Derartige Gebrauchsanweisungen gab Oma zuhauf zum Besten. Großmutter hielt sie auch dazu an, eine kluge Wahl in Bezug auf den künftigen Gatten zu treffen. Das bedeutete: „Achte darauf, dass er genug verdient, um eure Kinder zu ernähren, achte auf seine Umgangsformen, damit nichts peinlich wird. Und sein Humor muss groß genug sein, um die Ecken und Kanten des Lebens lachend zu umschiffen. Wenn er alle drei Attribute besitzt, heirate ihn und schick ihn spielen!“ Großmutters beißende Lache im Anschluss an solche Weisheiten hörte Rita immer noch, die Erinnerung daran würde wohl nie verblassen.
Großmutter sah die Welt mit veilchenblauen Augen, und diese Welt hatte einfache, traditionelle Strukturen: Männer sollten arbeiten, Frauen die Kinder erziehen. Sie meinte, dass viele Ehen scheiterten, weil junge Frauen den ehelichen Pflichten nicht ausreichend nachkommen würden. „Rita, mein Schatz, wenn du erst einmal verheiratet bist, musst du deinen Mann auch ranlassen. Sonst kommt er auf dumme Gedanken“. Nähere Erklärungen gab sie nicht ab.
Völlig unvermittelt kamen zuweilen auch präzise Tipps: „Mein Schatz, du musst deinem späteren Gatten immer etwas bieten. Hübsche Seidenwäsche, verwende ein schönes Parfum und lasse dich nie gehen. Und wenn er es dann übertreibt, schließe die Augen und denke an die zukünftigen Generationen. Wir alten Frauen mussten da auch durch und es hat unseren Fortbestand gesichert!“
Rita beherzigte einige Ratschläge. Den mit den Seidendessous übernahm sie und fuhr nicht schlecht damit. Marco stand darauf. Oma hatte also so Unrecht nicht gehabt. Auch das „Ranlassen“ mochte Marco. Vielleicht wäre er ja der Richtige. Marco arbeitete als Speditionskaufmann und verdiente gut. Humor brachte er mit, gepaart mit Häuslichkeit. Nur an den Umgangsformen haperte es.
Seit einem vollen Jahr waren sie schon zusammen. Er war es, der sie getröstet hatte, als Großmutter starb, der ihr zu einem Lächeln verholfen hatte. Nur Marcos vernehmliches Schmatzen beim Essen und die regelmäßig hochgeklappte Toilettenbrille fand Rita gewöhnungsbedürftig. Trauerränder unter den Fingernägeln ließen eher auf Mitarbeiter im Bestattungswesen schließen. Rita schockte dies nicht und sie betätigte sich missionarisch. Als Marco sie zu einem Fünf-Gänge-Menü im Gourmetrestaurant „Silberwiese“ einlud, erspürte ihre weibliche Nase eine Verlobung. War Marco der Richtige? Vermutlich würde sie sich spontan entscheiden. Ein bisschen Unvernunft stand jeder Frau.
Sie hatte das kleine Schwarze angezogen und, um sich ihrer Großmutter nahe zu fühlen an diesem wichtigen Tag, die goldene Uhr angelegt. Glitzern an Ritas Handgelenk.
Marco schlürfte sich an der Vorsuppe satt. Rita bekam Gänsehaut. Der zweite Gang, ein Zanderfilet an kross gebratener Haut auf Kartoffel-Sellerieschaum, folgte. Marco nahm den ersten Bissen.
„Herr Ober!“, gellte er durch den Raum. Ritas Gänsehaut wurde gänsiger.
„Zwei Gläser Champagner!“ Er bestellte mit weit ausholender Geste. Rita ruschte ein Stück tiefer in den Stuhl, Fluchtgedanken krochen in ihr hoch. Der Kellner kam angerannt, viel zu schnell. Das Personal ist auch nicht mehr das, was es einmal war, hörte sie wie eine fremde Stimme aus einer fernen Welt. Ihr Handgelenk wurde heiß. Sie rieb mechanisch daran, ohne es weiter zu beachten. Die ganze Zeit sah sie Marco zu. Dieser fletschte gerade ein Stück Fisch aus dem Mund. Und hob zu einem Bäuerchen an.
Der Kellner setzte die Champagnerflöten ab. Rita schwankte. Ihr Handgelenk wurde noch heißer. Marco gabelte noch ein riesiges Stück Zander auf, schob es in den Mund und ergötze sich daran. „Gut, nicht?“ Marco war schlecht zu verstehen. Der Champagner perlte. Ihr Handgelenk stand in Flammen. Marco würgte, vermutlich hatte er eine verborgene Gräte verschluckt. Rita sah auf ihr immer heißeres Handgelenk. Die Hitze ging von der Uhr aus. Marco lief blau an und fiel zuckend vom Stuhl. Rita starrte auf ihr gutes Stück, sie konnte den Blick nicht davon lösen. Die Uhr lief rückwärts. Marco röchelte. Rita verfolgte den Rückwärtslauf des Minutenzeigers. Marco starb noch in der Nacht. Zwei Männer brachten sie nach Hause. Erst dort, allein im Dunkeln, hielt sie sich die Hand vor den Mund, unterdrückte einen Schrei und wimmerte.
Roland war Bauunternehmer, vermögend und grundsolide. Er hatte gute Umgangsformen und erwies sich als parkettsicher. Also genau der Richtige für Ritas nachfolgende Generationen. Schmatzen beim Essen sollte kein Kernproblem der Beziehung werden, nur Humor hatte er nicht und über Witze lachte er selten. Er produzierte statt dessen eine Art Schnalzen, und das mehr aus Höflichkeit. Aber Rita war diese Eigenheit nicht wirklich wichtig, sie würde ihn sonst, wie immer, einfach bekehren. Von guten Gewohnheiten lässt man nicht. Interessanterweise mochte er ebenfalls Dessous und ließ sich gerne zu Rita herab, wenn sie ihn ranließ. Ihre Trauerzeit um Marco war schnell vorbei. Der rasante Roland fühlte vor, welche Art von Heiratsantrag sie denn bevorzugen würde. Sehr behutsam. Das Problem eines Freundes schob er vor. Schnalzte dabei und sah sich als brillanten Erforscher der weiblichen Seele.
Rita war in ihrem Element. Aufregend sollte das Ereignis sein. An einem ungewöhnlichen Ort und gleichzeitig romantisch. Ja, so würde sie es dem Freund anraten.
Als Rita ein paar Tage später mit Roland über den Jahrmarkt bummelte, trug sie Omas Armbanduhr. Und als sie in das Kettenkarussell einstieg, brannte ihr Handgelenk. Ein kleines Mädchen malte auf dem Asphalt mit Kreide acht Quadrate und hüpfte darin. Das Karussell begann sich zu drehen. Roland saß in der Schaukel neben ihr. Er lächelte und schnalzte. Das Karussell drehte sich langsam, ohne Musik. Das kleine Mädchen sprang ins nächste Viereck. Roland nestelte an der seiner Jacketttasche.
„La-Le-Lu, nur der Mann im Mond schaut zu“. Das kleine Mädchen sang laut beim Springen. Ritas Handgelenk glühte und ihre Augen wurden größer. Roland strahlte und hielt nun einen kleinen, schwarzen Samtkarton in der Hand. Das Karussell drehte sich schneller. „Wenn die kleinen Babies schlafen gehen. Drum schlaf auch du“. Das Mädchen beendete abrupt seinen Gesang, schaute dem Karussell zu und lächelte Rita an. Roland holte Luft und sagte etwas. Rita sah auf die Uhr. Roland schrie nicht, als er von der scharfen Kante einer plötzlich herausgerissenen Schaukel tödlich an der Schläfe getroffen wurde. Rita schrie ebenfalls nicht. Sie maß die Zeit. Das kleine Mädchen stand etwas abseits und winkte. Rita ging wortlos an ihm vorbei und nahm, ganz entfernt, den Geruch von Vanille wahr. Zwei Männer brachten die schweigende, auf ihre rückwärts laufende Uhr schauende Rita nach Hause. Erst allein, im Dunkeln, wimmerte sie.
Hannes wusste sich zu benehmen und glänzte als spritziger Unterhalter. Warm ums Herz wurde Rita, wenn sie nur an ihn dachte. Sie war voller Liebe, doch über Geld verfügte Hannes nicht. Ihr liebendes Herz verriet ihr den richtigen Weg. Die goldene Uhr verpackte sie sicher in einer schweren Schatulle und versteckte die in einer Kellerkiste, ganz unten. Niemals versprach sie Hannes die Ehe. Vermutlich würde er in einem Geldbad ertrinken.
Rita machte mit sich und Großmutter ihren Frieden, um künftig ohne Rat aus dem Jenseits zurechtzukommen. Denn guter Rat war manchmal zu teuer. Nur selten schlich sie in den Keller. Wenn Probleme drückend wurden. Rita sprach in solchen Momenten zu Omas Uhr in der geschlossenen Holzkiste. Der Keller füllte sich mit Vanilleduft. Sie träumte von lange vergangenen Zeiten und das gab ihr Kraft. Summend stieg sie dann die Kellertreppe hinauf.
„... Dann kommt auch der Sandmann.
Leis tritt er ins Haus.
Sucht aus den Träumen,
dir den schönsten aus.
La Le Lu nur der Mann im Mond schaut zu ...“