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Der Ring des Grafen
Jonathan, Akt I
Was war es in den letzten Tagen kalt geworden!
Dieses Jahr ließ der Winter nichts anbrennen und entschloss sich, einen Monat früher als üblich zuzuschlagen. Schneidende Winde peitschten die ersten Schneefälle nach Courthaven, die zuerst als Graupel an die Fenster klopften und sich schließlich in feine Schneekristalle verwandelten.
»Da sieht man mal wieder, dass die Regulation nicht an den kleinen Mann denkt!«, schimpfte ein glatzköpfiger Ladenbesitzer, der die fallenden Flocken vom Eingang seines Geschäfts aus beobachtete. »Wie können die es zulassen, dass der Winter so früh anfängt? Haben die bei der Antragsstelle gepfuscht?«
»Ich glaube, du verstehst nicht ganz wie die Jahreszeiten funktionieren«, entgegnete der müde aussehende Bäcker von nebenan, der zum Rauchen sein Geschäft verlassen hatte. »Zu Beginn eines neuen Jahres bekommen die ihre Arbeitsmonate zugeteilt; da wird nichts beantragt. Letztes Jahr hat man dem Sommer mehr Zeit zugesprochen und diesmal ist eben der Winter dran.«
Jonathan Voltaire saß zwischen den beiden Herrschaften und lauschte der Diskussion von seinem gemütlichen Felldeckchen aus, dass zwar fürchterlich stank, aber in den eisigen Nächten Wärme spendete. Auf seinem Schoß ruhte eine Dose ohne Etikett, die er vorbei gehenden Passanten vor die Nase hielt; vor den Elementen schützten ihn ein alter Kapuzenpullover und ein abgetragener Stoffmantel voller Löcher, den er beim Bankett der Mottendelegation - einem Zusammenschluss von Rollenspielern, die ihre Darstellung von Kleinschmetterlingen viel zu ernst nahmen - vom Buffet geklaut hatte.
Eure Probleme hätte ich gerne, dachte er, als er wieder mal von einem passierenden Mann ignoriert und weg gedacht wurde. Ihr steht in euren überheizten Läden, umringt euch mit Essen und beschwert euch darüber, dass ihr Morgens ein bisschen Schnee schieben müsst, bevor ihr mit dem Tagesgeschäft anfangt.
»Weißt du, was mich wirklich am frühen Wintereinbruch stört?«, fragte der Bäcker.
»Was denn?«, wollte sein Kollege wissen, von dem Johnny nicht wusste, was er genau verkaufte. In seinem Schaufenster stand hiervon Etwas und davon Etwas, der Junge war sich sicher, dass das Geschäft „Unnützer und zusammengeklauter Plunder“ hieß.
»Morgen Früh werden wir ein bisschen Schnee schieben müssen, bevor wir mit dem Tagesgeschäft anfangen.«
Der Irgendwelches-Zeug-Verkäufer seufzte. »Unvorstellbar. So schwer wie wir hat es sonst keiner. Der kleine Mann zieht immer die Arschkarte!«
Ungläubig sah Johnny zwischen den beiden Herren hin und her. Ja, nee. Ist schon klar, ihr zwei Pappnasen. Warum fallt ihr euch nicht gleich in die Arme und knutscht rum?, dachte er und schluckte den Gedanken, der ihm beinahe als gesprochenes Wort aus dem Mund gekrochen wäre. Seit sein Vater ihn mit zwölf Jahren vor die Tür gesetzt hatte, hatte sich Johnny alleine durchgeschlagen und bisher drei Winter auf der Straße überlebt; der vierte schien der bisher schlimmste zu werden. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass ein weiterer Monat Eiseskälte für einen Straßenjungen nichts Gutes versprach und ein bisschen Schnee eines der geringeren Übel war. Ich brauche Geld, dachte er und klapperte mit der Dose, in der lediglich ein paar Coronets vor sich hin klimperten. Geld, neue Kleidung und was zu Essen.
Klink, klink, klink. Ein fülliger Mann mit einem hohen Zylinder warf eine Hand voll Münzen in seine Dose. Verblüfft sah Jonathan zu ihm auf. Das hier war Courthaven! Nach Upper Downhaven galt die Tochterstadt von Musical Dumpster als die geizigste Bande, die man sich nur vorstellen konnte. Metaphorisch gesehen waren die Einwohner rote Drachen, die auf ihrem riesigen Goldhaufen hockten und jedem Feuer entgegenspuckten, der zu intensiv an eine Münze dachte. Johnny wollte überhaupt nicht hier bleiben, doch die kräftigen Schneefälle hatten eine Weiterreise unmöglich gemacht. So sah er sich gezwungen, für ein paar Tage in Courthaven zu lagern.
»Danke«, sagte er perplex, sah zuerst in seine Dose und dann zu seinem Spender.
»Dafür musst du mir nicht danken, junger Mann«, antwortete der ältere Herr, der mit seinem breiten und farblich zum Niederschlag passenden Schnauzbart wackelte. »Ich wollte meinem Enkel nur zeigen, dass eine kleine Spende die Seele reinwäscht.«
»Pffffffrrrrrt«, zischte ein Ballon, der sich bei näherer Betrachtung als der eben erwähnte Enkel offenbarte. Das Kind war kugelrund, hatte eine knallrote Nase und aufgedunsene Wangen, die seine Augen komplett von der Außenwelt abschotteten. Es trug einen Matrosenanzug und wurde von zwei Dienern die Straße entlang gerollt.
»Jetzt komm, Mortimer. Wir haben irgendeinem Penner etwas Geld gegeben und uns somit die Absolution erkauft. Erstehen wir ein Geschäft und brennen es nieder, denn jetzt geht das in Ordnung!« Der Mann klopfte dreimal mit seinem Gehstock auf den Boden und wollte sich auf den Weg machen, da sein Enkel bereits voller Vorfreude durch die Einkaufsstraße kullerte und an den Wänden abprallte, doch Johnny zupfte dem netten Spender am Arm.
»Wartet!«, rief er und griff sich die Hand des Mannes, die er überschwänglich schüttelte. »Danke. Danke, danke, danke.«
»Ich sagte bereits, dass du mir nicht danken musst«, antwortete der Alte, der auf das Händeschütteln angewidert reagierte und zurückwich. Er wischte sich die Hände an seinem Gehrock sauber und schritt im Schwebegang davon.
»So ein nettes Kerlchen«, schwärmte Johnny und warf einen Blick in seine Dose. »Das sind doch bestimmt fünf Crowns. Damit kann ich mir eine Kleinigkeit zu Essen kaufen.« Bling machte es, als er den Ring in die Dose fallen ließ, den er dem netten Herrn vom Finger gezogen hatte. »Und der dürfte mir beim Pfandleiher eine ganze Stange Geld bringen.«
Wenn man auf der Straße überleben wollte, musste man die Idee des Gutmenschen schnellstens ablegen. Jonathan hatte das rasch gelernt. Den meisten Leuten war es völlig gleich, wer da in der Gosse lag und vor sich hin klapperte - es war einfacher, nicht hinzusehen und sich die Ohren zuzuhalten. Die wenigsten erklärten sich bereit, einem Straßenjungen Arbeit anzubieten, die nicht absolut entwürdigend war und noch weniger Menschen waren vom Schicksal eines Obdachlosen so berührt, dass sie sich seines Schicksals annahmen.
Oft hatte Jonathan daran gedacht, Zeitungsartikel zu veröffentlichen, in denen stand wie traurig er war und wie schlecht es ihm ging und das ganze Ding mit Bildern zuzupflastern, auf dem er mit nassen Augen und einer leeren Suppenschüssel posierte, denn auf so was fuhren die Leute ab. Leider fehlten ihm die Fertigkeiten dazu und er bedauerte es jedes mal aufs neue, wenn er die Schafe in feinen Anzügen reagieren sah, nachdem irgendeine dubiose Lampenfirma plötzlich Spenden für die Kriegsopfer im Sandland sammelte, obwohl es da seit 30 Jahren keinen Krieg mehr gegeben hatte.
»In irgendeinem Land geht es irgendwelchen Menschen schlecht!«, riefen sie. »Lasst uns eine große Spendenaktion für diese unbekannte Firma veranstalten, die keine Sau kennt, aber die diesen traurigen und mitreißenden Bericht verfasst hat! Wir können uns ganz sicher sein, dass das eingenommene Geld da ankommt, wo es gebraucht wird; schließlich haben sie Fotos von traurigen Kindern! Und jetzt schiebt den widerlichen Penner beiseite, der das Bild unserer schönen Stadt beschmutzt und den man einschläfern sollte, denn er steht unserem Spendenmarsch im Weg!«
Von dieser Scheinheiligkeit hatte Jonathan die Nase gestrichen voll. Wenn sie mir nicht helfen wollen, helfe ich ihnen dabei, mir zu helfen, dachte er. Eine Tasche war einfacher auszuräumen, wenn der Bestohlene angestrengt in die andere Richtung sah, um den traurigen Augen eines Straßenjungen auszuweichen.
In den letzten vier Jahren war er richtig gut darin geworden, den Leuten beim Helfen zu helfen.
Graf Wilson, Akt II
Wilhelm Wilson saß in seinem komfortablem Bürosessel, lehnte auf seinem Schreibtisch und besah die nackte Hautfläche, an der sich wenige Stunden zuvor der Verlobungsring seiner verblichenen Frau Emily befunden hatte. Der fehlende Druck des zu engen Goldschmucks fühlte sich seltsam an, als ob er oberkörperfrei in einen kalten Regenschauer rannte. Er strich mit den Fingern über die bleiche Hautstelle und dachte nach.
Wann ist das passiert? Ich war mit meinem Enkel Mortimer in der Stadt, um ihm zum Geburtstag ein Geschäft zu kaufen und habe mit niemanden, außer diesem heruntergekommenem Straßenjungen gesprochen. Hat er etwas damit zu tun? Sicherlich nicht. Er hatte Mühe, die Dose festzuhalten und war vor Freude betrunken, als ich ihm die fünf Crowns gegeben habe.
Es ergab überhaupt keinen Sinn. Sein ganzes Leben lang war Willy - so durften ihn nur seine Freunde nennen - ein Raubtier. Er war immer auf der Pirsch und seiner Konkurrenz einen Schritt voraus. In Upper Downhaven bezeichneten ihn sogar die Skrupellosen als skrupellos. Nichts und niemand war seinen perfiden Geschäftstaktiken gewachsen; unter ihm kollabierten die kleinen Einzelhändler und über ihm zitterten die Großkonzerne vor dem Tag, an dem das wilde Tier durch den Fußboden brechen würde, um sie zu verschlingen.
Ein Jäger lässt sich nicht jagen, dachte er, Dafür sind seine Sinne zu scharf. Hatte er sich über all die Jahre hinweg geirrt? Waren ihm die Schatten seienr Konkurrenz entgangen, die ihm auf Schritt und Tritt folgten und ohne sein Wissen von ihm lernten? Auch der König der Tiere wurde nachlässig, wenn es niemanden zu fürchten gab, man den ganzen Tag auf der steinernen Anhöhe seiner Savanne lag und sich mit den abgenagten Knochen seiner Untergebenen umgab. Schlossen sich alle verbliebenen Konkurrenten zusammen, um ihn mit gezielten Nadelstichen in den Wahnsinn zu treiben, weil er sich einen Tag zu lang auf seinem hohen Felsen ausgeruht hatte?
»Das ist doch albern!«, rief er in den finsteren und stillen Raum, in dem ein knisterndes Kaminfeuer verzweifelt versuchte, denselben Takt wie die Standuhr anzuschlagen. Willy aktivierte das Metronom auf seinem Schreibtisch, um es den Flammen einfacher zu machen. »Niemand stiehlt von Graf Wilhelm Wilson. Quincy!«
Durch die Tür trat ein nach vorne gebeugter Mann in seinen späten Siebzigern. Haare waren ihm keine geblieben, wenn man die, die aus den zahlreichen Leberflecken auf seiner Glatze wuchsen, nicht mitzählte. Er hatte eine lange Nase und die Haut an seinen Wangen wurde von der Schwerkraft zielstrebig gen Boden gezogen. Seine buschigen Augenbrauen ähnelten einem schlecht verschnittenem Busch und wucherten über die kleinen, milchig blauen Augen. Er trug ein großes Silbertablett, auf dem eine Teetasse stand, in der er mit einem Löffel herumrührte.
»Der Ring meiner Frau ist verschwunden«, sagte Wilhelm, nahm seinem Diener die Teetasse ab und trank einen Schluck, als er durch das raumhohe Fenster auf die verschneiten Straßen Courthavens blickte. Der ortsansässige Winterdienst war mit den Schneemassen völlig überfordert und schaufelte gegen die vom Himmel gleitenden Eiskristalle an, die sich ohne Skrupel und Rücksicht auf Verluste auf den freigeschaufelten Stellen niederließen.
»Ein Dieb, Graf Wilson?«, fragte der treue Quincy, der bereits hier gearbeitet hatte, als Willys Vater das Haus erstand. Willy erinnerte sich an einen fröhlichen Mann, der ihn nach der Schule immer mit einem Plätzchen begrüßte und musterte sein gealtertes Ebenbild, dass immer noch, Tag für Tag, mit einem Keks an der Tür auf ihn wartete, wenn er aus dem Büro nach Hause kam.
»Ausgeschlossen«, sagte Wilhelm und schüttelte mit dem Kopf. »Meine Konkurrenz fürchtet mich und Diebe wissen, was ihnen blüht, wenn sie von Wilhelm Wilson stehlen! Es gibt nur eine einzige logische Erklärung für das Verschwinden meines Rings.«
Wilhelm drehte sich zu seinem Diener um, der mit Mühe seinen Kopf anhob, damit er seinen Meister in die Augen schauen konnte.
»Ihr meint doch nicht etwa ...« Quincy brach mitten im Satz ab.
»Doch, alter Freund.« Wilhelm nickte, stellte die Tasse auf dem Fensterbrett ab und verschränkte die Arme hinter dem Rücken. Seine Gedanken verloren sich in den Erinnerungen an seine verstorbene Frau. Er sah, wie sie ihn anlächelte, hatte ihren Geruch in der Nase und dachte an ihr herzliches Lachen, das diese tristen Räumlichkeiten immer mit Freude erfüllt hatte. Er hasste diesen Gestank, den Krach den sie veranstaltete, wenn sie beim kleinsten Witz viel zu laut lachte und ihr debiles Gegrinse. »Der Geist meiner toten Frau ist zurück gekehrt, um sich ihren Verlobungsring zu holen, den ich ihr am Tag ihrer Beerdigung vom Finger gezogen habe.«
Quincy fiel vor Schreck das Tablett aus den knochigen Händen. »Oh Gott.«
»Sag den Männer Bescheid«, befahl Wilhelm, »Wir gehen auf Geisterjagd!«
Jonathan, Akt III
Der Dieb verließ die Fleischerei Jacobs mit einem vollen Beutel, vollem Magen und unverschämt guter Laune. Er leckte sich die Finger ab und steckte sich eine Bratwurst wie eine Zigarre zwischen die Zähne. Momentan interessierten ihn weder die fallenden Schneeflocken, noch die unverschämt hohe Wachpräsenz, die zur späten Abendstunde die schlecht gepflegten Straßen absperrte.
Für fünf Crowns konnte man in Courthaven große Mengen Wurst, Fleisch und sonstigen Krimskrams kaufen und der Gedanke an den fetten Umsatz, den der Ring ihn bringen würde, erfüllte seinen mit Linseneintopf vollgestopften Bauch mit Freude. So musste das immer laufen!
Jonathan malte sich aus, was er alles mit dem Geld anstellen würde und schlitterte über den Fußweg, als wäre er auf Schlittschuhen unterwegs. Zuerst nehme ich mir ein Zimmer in Innton, dann lasse ich den Zimmerservice kommen und mir den ganzen Raum mit Fleisch, Wein, und Süßigkeiten voll stellen. Danach fresse und trinke ich solange, bis ich platze!
Rums machte es, als er mit einem großen Mann kollidierte, der mitten auf dem Gehweg stand und den er während seiner Fantasterei übersah. Der Mann mit der runden Melone und dem roten, fein gezwirbelten Schnauzbart war einer von vielen, die sich auf der Straße eingefunden hatten und wild durcheinander riefen. Jonathan verstand kein Wort, doch offensichtlich waren alle aus irgendeinem Grund aufgebracht. Auf einem notdürftig zusammengezimmerten Podest aus Holzkisten und Farbeimern stand ein Offizier der Stadtwache - das erkannte Jonathan an der hellblauen Uniform und dem hohen Pelzhut - und rief etwas in ein Megaphon.
»Beruhigt euch, Bürger von Courthaven!«, gellte er mit glockenheller Stimme, die überhaupt nicht zu seiner kräftigen Statur passte. »Wir wissen, dass euch die Sirene beunruhigt, die seit zwei Minuten durchgehend durch die Gassen lärmt!« Jetzt wo er es sagte, hörte Jonathan es auch. »Ich fürchte, wir müssen Geisteralarm ausrufen!«
»Geisteralarm?«, rief eine Mutter, die ihre Tochter fest an der Hand hielt. »Den hatten wir bestimmt seit zwei Wochen nicht mehr!«
»Diese ektoplasmatischen Störenfriede lernen es wohl nie!«, rief ein anderer, »Wir müssen unsere Häuser räumen und zu heruntergekommenen Drecksbuden verkommen lassen, damit die einen Platz zum wohnen haben und dann tauchen sie trotzdem in den Wohnungen von braven Bürgern auf, um die Bilder umzuhängen, grauenhafte Botschaften des Terrors an die Wände zu schreiben und mit den Lampen zu wackeln. Das sind doch keine Zustände mehr!«
»Wir alle sind beunruhigt!«, rief der Wächter und machte eine beschwichtigende Geste mit der Hand. »Die Koalition für Geisterangelegenheiten ermittelt bereits im vorliegenden Fall und wird diese Sache so schnell wie möglich klären.«
Der Soldat zeigte auf vier Männer, die hinter ihm barfuß durch den Schnee tanzten und sich um die eigene Achse drehten. Sie trugen Nachthemden und Hüte aus Silberpapier, während sie hektisch mit den Armen in der Luft herum ruderten und »Hui, ui, ui, ui, ui« riefen. Die Menschen im Mob schwiegen und sahen den Männern bei der Arbeit zu. Einer von ihnen begann im Kreis zu laufen und hielt seine Hände so, als würde er mit einem Fahrzeug durch die Straßen tuckern, rief die ganze Zeit »Tuut, tuut, tuut« und presste im Anschluss Luft durch die geschlossenen Lippen.
Ohrenbetäubender Jubel brach aus und Hüte wurden in die Luft geworfen.
»Geistertruppe! Geistertruppe! Geistertruppe!«, riefen die Menschen als Einheit, fassten sich an den Händen und stimmten ein Lied an.
Jonathan blinzelte irritiert. Er kam schnell zum Entschluss, dass er keinen der anwesenden Bürger nach dem Grund für diesen Unsinn fragen musste, also schob er sich durch die Menschenmenge, raubte und klaubte hier und da ein paar Crowns aus den Taschen der Leute und blieb direkt vor dem Offizier der Stadtwache stehen, der zusammen mit seinen Kollegen alles andere als begeistert aussah. Die armen Wichte hatten eine lange Nacht vor sich.
»Was ist hier los?«, fragte er den Wächter mit den meisten Streifen und den hübschesten Sternchen auf der Uniform.
»Graf Wilson wurde ein Ring gestohlen«, sagte der Soldat. Sein Blick verlangte nach Gin und er roch, als hätten viele Leute diesen Wunsch erkannt. »Er hat Geisteralarm ausgerufen, weil er glaubt, dass seine Frau aus dem Jenseits zurückgekehrt ist.«
»Das klingt völlig plausibel. Stimmt es denn?«
»Wissen wir nicht«, sagte der Mann und zuckte mit den Schultern. »Bei der Antragsstelle für Spuk und Oberweltbesuche sind keine Anträge in diese Richtung eingegangen. Vielleicht hat sie sich durch ein Loch zwischen unseren Universen geschlichen oder einen korrupten Fährmann gefunden, aber das halten wir alle für sehr unwahrscheinlich. Die Gewerkschaft der Knochengestelle in billigen Mänteln ist sehr kleinlich, wenn es um die Akquise neuer Angestellter geht.«
Jonathan nickte und tat so als würde er zuhören. Der erste Satz hatte gereicht, um den Kern des Problems ausfindig zu machen. Geisteralarm am Arsch, dachte er und spielte mit dem Ring, den er in seiner Manteltasche verbarg. Vielleicht sollte ich dem guten Mann einen Besuch abstatten und diese Situation bereinigen, bevor die Menschen anfangen, die Friedhöfe niederzubrennen. Das würde den Zombies nicht gefallen.
Graf Wilson, Akt IV
Von seinem Fenster aus beobachtete Graf Wilson eine schreiende Meute, die mit Staubsaugern bewaffnet in Richtung Zentralfriedhof eilte. Die Standuhr und der Glockenturm von Courthaven schlugen zur Geisterstunde, was bedeutete, dass die Ausgangssperre für paranormale Entitäten aufgehoben wurde und sie ihrem Tagesgeschäft nachgehen durften. Die Menschen wollten ihnen an staatlich subventionierten Spukhäusern und Gruften auflauern, um sie für die Dauer ihres Freiganges in geisterdichte Säcke einzusperren.
Ich werde es diesen verdammten Geistern zeigen, dachte er und krampfte seine Finger um ein Weinglas. Niemand nimmt Wilhelm Wilson etwas weg. Sogar der Tod hatte tief in die Taschen greifen müssen, als seine Frau das Zeitliche segnete. Der Graf hatte mit der Welt der Toten einen Vertrag ausgehandelt, die die Seelen aller ihm nahe stehenden Verwandten auf ein hübsches Sümmchen versicherten. Wer auch immer gerade in der Buchhaltung der Anderswelt saß, ärgerte sich bestimmt über den bürokratischen Fehler, den sein Vorgänger damals gemacht hatte.
»Feeeeettsaaaaaaack«, flüsterte jemand hinter ihm.
Er fuhr herum und sah sich in seinem abgedunkelten Raum um, doch er entdeckte niemanden.
»Wer ist da?«, fragte er die Leere.
»Ich bin deine Fraaaaau«, antwortete die kratzige Stimme.
»Seit wann hörst du dich an wie ein Junge im Stimmbruch?«, fragte Wilson und sah hinter seinen Sessel. Irgendjemand war bei ihm im Raum; er konnte hören, dass sich jemand durch das Zimmer bewegte. Flink wie eine Katze und still wie der fallende Schnee.
»Das weiß ich doch niiiiicht«, antwortete das Phantom. »Sag duuuuuu‘s mir.«
»Ich lasse mich nicht veralbern!«, rief der Graf und schlug auf den Lichtschalter, der sich neben der Tür befand. Nichts passierte. Die Lampe in seinem Zimmer blieb dunkel.
Klirr! Neben ihm zersplitterte eine Glühbirne an der Wand; Glasscherben flogen dicht an ihm vorbei, und verteilten sich auf seinem Teppich. Eine größere streifte an seinem Gesicht entlang, ohne bleibende Schäden zu verursachen. Willy zuckte zusammen und kauerte instinktiv. Die kleinen Splitter unter seinen Füßen knackten, als sie seinem Gewicht nachgaben und brachen.
»Gib es aaaaaauf«, stöhnte das Phantom. Wilhelm erkannte einen Schatten, der am Vorhang entlang huschte und hinter seinem Sessel verschwand. Die auf dem Kamin stehenden Bilder kippten der Reihe nach um. »Ich möchte meinen Riiiiiiing!«
»Du hast ihn doch bereits!«, antwortete er laut. Seine Stimme brach durch die Anspannung und war plötzlich zwei Oktaven höher.
»Du überlässt ihn mir niiiiiicht. Schickst sogar Leute nach miiiiiir.«
»Ich ... ich rufe sie zurück! Bitte hör auf, Unordnung zu machen und Vokale grundlos in die Länge zu ziehen. Das macht mich wahnsinnig!« Seine Augen wanderten hektisch durch den Raum. Kalter Angstschweiß benetzte seine Stirn und er traute sich kaum, seine Hand zu heben, um ihn abzuwischen.
»Sag mir nicht, wie ich meine Arbeit zu tun haaaaabe«, stöhnte der Geist. »Ich quatsch dir auch nicht in deine Angelegenheiten reeeeeein.«
Plötzlich streifte ihn irgendetwas. Er spürte etwas Körperliches, dass seinen Rücken berührte und hinauf zu seiner Schulter wanderte. Als kalte Finger seinen Nacken kitzelten, stieß er einen weibischen Schrei aus, sprang wie ein Frosch nach vorne und horchte auf, weil sein Körper ein lautes Pröt von sich gab. Eine unangenehme Masse füllte seine Hose und ein stechender Geruch breitete sich im Raum aus.
Schweigen. Wilhelm konnte die Scham in seiner Brust wachsen hören.
»Pf. Pfffft. Pfffpffbfrrt. Bahahahahahaha!« Das Phantom grölte los.
Willy hörte das verhöhnende Gelächter und drehte sich um. Am Boden lag - durch die Bewegungen deutlich zu erkennen - der Straßenjunge vom frühen Abend und hielt sich den Bauch.
»Du«, stellte er fest und nahm eine würdevollere Haltung ein. »Was willst du hier?«
»Ich hab deinen Ring gefunden!«, sagte der Bengel, setzte sich in einem Schneidersitz auf und hielt das durch die Finsternis verschleierte Schmuckstück hoch.
»Gib ihn wieder her!«, rief Willy und streckte eine Hand danach aus.
»Kostet aber.«, antwortete der Straßenjunge und entzog ihm seinen Besitz.
Niemand nimmt etwas von Wilhelm Wilson, ohne dafür zu bezahlen. »Ich habe dir bereits fünf Crowns gegeben! Sieh sie als deinen Finderlohn an und gib mir den Ring wieder! Er ist ein Andenken an meine verstorbene Frau!«
»Tatsächlich?« Der Junge betrachtete den Ring. »Das wird nicht billig, Großer.«
»Du kannst doch nicht einfach ...«
»Angebot und Nachfrage, Herr Graf.« Der Bube grinste frech und schob sein Gesicht nach vorne in den Schein des flackernden Kamins. Er war dreckig und hatte tiefe Augenringe, doch für einen Straßenbengel war er ein ansehnliches Kerlchen. Nicht besonders groß und ziemlich feminin, aber nichtsdestotrotz ein hübscher Kerl mit einem charmant-frechem Grinsen, das den Graf wütend werden ließ.
»Ich werde nicht für mein Eigentum bezahlen!«, schimpfte er und wollte aufstehen, doch der Inhalt seiner Hose machte sich mit seiner lauen Wärme bemerkbar und hinderte ihn daran.
»Besser wärs aber«, sagte der Frechdachs. »Du kannst entweder dafür bezahlen, dir damit dein Eigentum und mein Schweigen erkaufen oder musst die nächsten Tage alle Pfandleiher in der Umgebung abklappern und dir den Ring bei ihnen zurück kaufen. „Bist du der Graf, der sich eingeschissen hat, als man ihm auf die Schulter tippte?“, werden sie fragen und du wirst dir denken, dass es besser gewesen wäre, mir das Geld hier und jetzt zu geben. Du sitzt nämlich gerade schön in der Scheiße.« Der Junge musterte ihn und zog die Mundwinkel rauf. »Wortwörtlich.«
Niemand nimmt etwas von Wilhelm Wilson, ohne dafür zu bezahlen!, dachte er zuerst, doch dann glitten seine Gedanken zu den kommenden Geschäftsessen. Das Gerücht würde sich wie ein Lauffeuer verbreiten, da jeder wusste, dass Pfandleiher Klatschbasen waren. Er sah sich am Tisch mit zwölf Vertragspartnern sitzen; jeder kannte die Geschichte, dass sah er in ihren Augen, doch niemand sagte etwas. Peinliches Schweigen rundherum und alle starrten angestrengt auf ihre Teller. War es das wert? Immerhin versprach der Bengel, dass er schwieg und viele Möglichkeiten blieben Willy nicht.
»Was möchtest du?«, fragte er gepresst.
Der Junge überlegte. »Als ich herkam, dachte ich an den Marktwert. 350 Crowns. Aber dann hast du dir eingeschissen und die Latte nochmal höher gelegt, weil du mir sagtest, dass es ein Erinnerungsstück ist. Als Geschäftsmann solltest du wissen, dass man nicht versucht, an das Gewissen anderer zu appellieren. Das zeugt von Schwäche und treibt den Preis hoch. 2000.«
Willy schlief das Gesicht ein. Ich habe den Jungen unterschätzt! »Das ist viel zu viel!«
»Für dich steht auch eine Menge auf dem Spiel, Herr Graf.«
»Sobald du hier raus bist, werde ich die Wache rufen!«, drohte Willy. Das sollte den Jungen unter Zugzwang setzen und den Preis drücken.
Blöderweise reagierte der forsche Kerl anders, als Willy erhoffte. Er lachte abfällig. »Ich bitte dich. Weißt du wie lange ich das schon mache?« Er setzte seine Kapuze ab und warf das lange Haar zurück, in dem neben einigen Holzperlen auch Coronetmünzen aus verschiedenen Städten der Landfills eingeflochten waren. »Der Herr Graf hat mich zu sich eingeladen und gesagt, er wollte mir etwas warmes zu Essen geben. Als wir dann bei ihm waren, hat er ... da hat er ... mich angefasst.« Der freche Mistkerl drehte seinen Kopf beschämt zur Seite und schaffte es tatsächlich, eine Träne aus seinen Augen zu pressen.
Wenn er der Stadtwache so gegenüber trat und die Wachen bei ihren Ermittlungen auf die vollen Hosen stießen, gab es richtig Ärger. Willy wollte sich gar nicht vorstellen, was die Stadtwache von ihm denken würde, wenn der kleine Mistkerl seine Geschichte auftischte und alle voller Fassungslosigkeit zu ihm blickten.
»Dich haben die Dämonen geschickt«, sagte Willy. Er war rat- und mittellos. Ein einfacher Straßenjunge zeigte ihm seine Grenzen auf. Das wilde Tier steckte in einem engen Käfig aus morschem Holz und konnte sich wegen mangelnder Bewegungsfreiheit nicht befreien. Es war beschämend.
»Nein, Herr Graf«, sagte der Junge und lächelte spitzbübisch. »Ich bin einfach nur gut in dem, was ich tue. Genau wie du.«
Der Graf schwieg lange. »Einverstanden. 2000. Ich bekomme meinen Ring und niemand erfährt etwas davon«, sagte er schließlich leise und sah auf den Boden. Wilhelm Wilson, geschlagen von einem Dreikäsehoch.
»Versprochen, bei der Ehre unter Banditen«, sagte der Junge grinsend.
Noch nie war es dem Graf so schwer gefallen, einen größeren Betrag Crowns auszuzahlen. Üblicherweise erhielt er im Gegenzug für so eine Summe etwas großes, das ihm entweder mehr Geld brachte oder das ihm für einige Wochen Freude bereitete, aber heute war alles völlig anders.
Jonathan, Akt V
Der Geisteralarm war aufgehoben und die meisten Menschen gingen zu Bett. Auf den verschneiten Straßen traf Jonathan nur die üblichen Verdächtigen; den Winterdienst, betrunkene Ehemänner, die eine große Runde um das eigene Haus gingen, weil sie entweder Angst vor ihren Frauen oder keine Lust zum Heimgehen hatten, Wächter, die ihre Runden drehten und Halbstarke in Damenbegleitung, die in einem Anflug von Selbstüberschätzung in die Luft sprangen und gegen ein Straßenschild schlugen.
»Hast du das gesehen, Samantha?«, rief ein halbstarker. Seine Wangen glühten vor Aufregung.
»Ohja, echt beeindruckend«, murmelte Johnny, als er sah, dass das junge Mädchen ihrem Helden um den Hals fiel. »Seht nur, wer ich bin. Ich bin ein Vollidiot mit unfertigem Gesicht und einem grässlichem Modegeschmack! Indem ich dieses Schild geschlagen habe, habe ich meinen Status als Alphamännchen untermauert und der Gesellschaft gehörig eins ausgewischt!«
Leider hatte der Jugendliche vergessen, dass Schildklopperei in Courthaven als Verbrechen galt und übersehen, dass sich einige Stadtwachen auf der gegenüberliegenden Straßenseite befanden. Zwei Wächter sprinteten wie Kurzstreckenläufer auf der Flucht über die Straße und warfen sich dem Blondschopf mit gezogenem Gummiknüppel entgegen, als wollten sie eine Kugel für ihn abfangen. Sie rissen ihn mit solcher Wucht von den Beinen, dass sie sich mehrmals überschlugen. Als sie zum Stillstand kamen, prügelten sie mit Gummiknüppeln auf ihn ein, während ein dritter Wächter die Aussage des Straßenschildes aufnahm.
»Ich weiß auch nicht, was passiert ist«, sagte der völlig irritierte Mann im Stoppschildkostüm, der eine Arbeitsmaßnahme in Courthaven absolvierte - diese Art von Arbeit bekam man, wenn man sich als Obdachloser beim Einwohnermeldeamt vorstellte. »Ich stehe hier herum, erledige meine Aufgabe und wie aus dem nichts springt mich dieser Degenerierte an!«
Der Winterdienst schien den Kampf gegen die Schneemassen endgültig zu verlieren. Drei Männer mit Schippen versuchten, einen ihrer Kollegen aus einem aufgehäuften Schneeberg zu ziehen, unter dem er sich irgendwie eingeklemmt hatte. Wie genau das passiert sein sollte, erschloss sich Jonathan nicht.
»Lasst mich einfach zurück!«, rief der arme Mann mit bebender Stimme. »Sagt meiner Frau, dass ich sie liebe und ... das sie morgen diese Hosen waschen muss, die ein klitzekleines bisschen nass geworden sind!«
»Sprich nicht so, als wäre es vorbei, Mors!«, rief sein Arbeitskollege und zog mit aller Kraft. »Wenn wir dich schnell hier raus ziehen, kannst du die einfach über die Heizung legen und morgen wieder anziehen!«
Doch das war Jonathan egal. Er steuerte gut gelaunt eine Taverne an, die ihm jeder in der Stadt empfohlen hatte. Wandernapf nannte sich das Etablissement, das dafür bekannt war, nur für wenige Tage im Jahr in der Stadt zu sein und sonst den Kontinent zu bereisen. Eine fahrende Kneipe, die mal hier, mal da stand und für ihr ausgezeichnetes Essen hoch gelobt wurde.
Er hatte mehr als 2000 Crowns und ein fettes Wurstpaket in der Tasche. Jetzt konnte er Winter ruhig kommen! Jonathan wollte seine Ankunft mit einem zünftigen Mahl im Wandernapf feiern und der Jahreszeit damit mitteilen, dass er sich nicht einmal einer allmächtig wirkenden Wettererscheinung geschlagen geben würde.
Jonathan Voltaire! Er ist der größte, beste und schönste Mensch der Welt, dachte er, nahm Anlauf und schlitterte über den Gehweg. Mit einem Salto schwang er sich über die Wächter, die immer noch auf den Halbstarken einschlugen und landete unsanft mit dem Gesicht voran auf dem Boden. »Autf.«, brummte er.
Wieder einmal hatte er vergessen, dass ihm ein gedrehtes Ding keine Superkräfte verlieh.