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Der Rosenmörder
Der Rosenmörder
Lothar Scharnberg genoss die milde Temperatur an diesem frühen Julimorgen. Seit er die siebzig überschritten hatte, war er ein wenig kälteempfindlich. Mit Vorfreude auf die schönen Rosen nahm er wie immer den Weg durch den Kurpark. Seine schwarze Pudelhündin schritt ohne Leine stolz neben ihm her. Plötzlich bellte sie. Scharnberg spürte, dass etwas nicht stimmte. Dann der Schock. Die Rosen ... alle abgeschnitten! Was für widerliche Vandalen mochten das gewesen sein? Sissi war schon ein Stück weitergelaufen. Ihr Bellen wurde aufgeregter. Er eilte zu ihr. „Na, na, mein Mädel...“. Weiter kam er nicht. Das, was er sah, verschlug ihm die Sprache. In heller Aufregung verließ er mit Sissi den Park und hielt Ausschau nach Passanten. Die hatten doch alle ein Handy. Nur eine Frau mit Hund kam in seine Richtung, sonst niemand. Er eilte ihr entgegen.
„Bitte, haben Sie ein Telefon? Sie müssen unbedingt die Polizei rufen!“
„Was ist passiert?“, fragte die Frau überrascht.
„Im Kurpark. Eine Tote!“, Scharnbergs Stimme überschlug sich fast.
„Was?“ Die Frau nahm ihr Handy aus der Gürteltasche und wählte. Dann drückte sie es Scharnberg in die Hand.
Er hatte Mühe, sich der Polizei verständlich zu machen. Am liebsten wäre er gleich nach Hause gegangen, aber er sollte warten. Ein Polizeiwagen kam relativ schnell. Zwei Uniformierte stiegen aus.
„Haben Sie uns angerufen?“, fragte ihn der eine etwas schroff.
„Ja, ja, wegen... also Sissi und ich...“
Wo ist die Tote?“, sagte der andere Polizist. „Zeigen Sie uns bitte den Fundort.“
Scharnberg führte die Beamten zu der Leiche.
„Ein Verrückter“, kommentierte der eine, während der andere mit der Spurensicherung telefonierte.
Weitere Polizisten trafen ein und sperrten den Kurpark ab.
Für Scharnberg war alles so unwirklich, bis ihn wieder jemand ansprach. Freundlich diesmal.
„Kommissar Harms“, stellte sich der große vollschlanke Mann vor. „Bitte schildern Sie mir, wie Sie die Leiche gefunden haben.“
In den nächsten Tagen ging Scharnberg nicht durch den Park. Das Grauen saß zu tief. Nach dem Besuch der Bäckerei stand er nun im Metzgerladen. Nach reiflichem Überlegen entschied er sich für zwei Scheiben gekochten Schinken. Die Bedienung war so freundlich. Dabei kaufte er stets kleinste Mengen. Die einzige andere Kundin war eine jüngere Frau. Sie hatte eine offene und warme Ausstrahlung.
„Dieser Mord, ist das nicht schrecklich?“, sagte die Verkäuferin. „Und das in unserer kleinen Stadt! Die Tote soll ganz nackt gewesen sein.“
Scharnberg errötete. Es stimmte, die Zeitung hatte von einer nackten Frauenleiche berichtet.
„Sissi hat sie gefunden“, platzte er heraus.
„Was? Unsere Sissi?“ Die Bedienung schaute ihn neugierig und interessiert an. Die andere Kundin ebenfalls.
„Ja, bei unserem morgendlichen Spaziergang“, erzählte Scharnberg. „Aber dass die Frau nackt war, haben wir nicht gesehen. Sie war bedeckt.“
Die erstaunten Zuhörerinnen wollten mehr wissen.
„Unter Rosen lag sie, die hatte der Kerl im Kurpark abgeschnitten.“
„Wer tut denn so was?“, empörte sich die Verkäuferin. „Haben Sie die Frau erkannt?“
Scharnberg schüttelte den Kopf. „Nein, nein.“
„Sie soll erwürgt worden sein“, meinte die Verkäuferin.
„Ich muss meine Sissi für eine Woche unterbringen“, wechselte Scharnberg das Thema, weil es ihm so auf der Seele lag.
„Ah, die Knieoperation. Ist es soweit?“
„Ja, und ich hab´ noch keinen, der Sissi solange nimmt.“
„Ich würde sie ja gerne nehmen“, sagte die Verkäuferin. „Aber ich bin den ganzen Tag im Laden.“
„Sie könnte zu mir kommen“, erbot sich die andere Kundin. Später saß Scharnberg in seiner behaglichen Küche. Er belegte ein frisches Brötchen mit dem Schinken und freute sich auf den Kaffee, der gerade durchlief. „Na, Sissi, wie gefällt dir die Dame? Julia Behrend heißt sie. Ist ja nur für eine Woche. Eigenes Haus mit Garten. Da wohnst du mal so richtig vornehm.“
Sissi schaute ihn aufmerksam an, so als verstünde sie jedes Wort.
Julia Behrend freute sich auf die Pudelhündin. Sie liebte Tiere. Leider war Ingo immer dagegen gewesen, einen Hund oder eine Katze zu halten. Dabei hatte sie das Haus mit in die Ehe gebracht und ein nicht unbeträchtliches Vermögen. Was war nur los mit ihrem PC? Sie musste dringend ein paar Überweisungen tätigen. Selbst nach dem dritten Neustart ging nichts. Da musste sie eben Ingos nehmen. Ingos! Sie hatte den Computer bezahlt wie so ziemlich alles. Als der andere Rechner hochgefahren war, schaute sie sich die Namen der Ordner und Dateien an. Seit vier Jahren war sie mit Ingo verheiratet, aber oft schien er ihr wie ein Fremder. Sie entdeckte einen Ordner „Bilder“. Ingo hatte diese teure Digitalkamera, aber was er eigentlich fotografierte, wusste sie nicht. Sie öffnete den „Bilder“-Ordner. Nur sechs Dateien waren darin enthalten mit der Bezeichnung b1 bis b6. Das war wirklich nicht viel. Sie öffnete b1. Verwirrt starrte sie auf das Bild. Die Aufnahme musste im Dunkeln entstanden sein. Mit Blitzlicht. Ein Berg Rosen, ein blasses Gesicht umrahmt von schwarzen Haaren. Julia bekam einen heftigen Schrecken. Die Tote aus dem Kurpark. Das musste sie sein. Die Anlage war nachts wie ausgestorben. Trotzdem, wer nahm so ein Risiko auf sich? Eine Leiche abladen und nichts wie weg, okay. Aber all die Rosen? Und auch noch fotografieren. Die anderen Bilder zeigten das gleiche Motiv. Woher hatte Ingo sie? Aus dem Internet? Spontan schickte Julia Behrend sie per E-Mail an ihre Freundin Susanne, die bei der Presse arbeitete und sich mit solchen Sachen auskannte. Sie bat die Freundin, niemandem davon zu erzählen.
Gerade, als sie den Rechner herunterfuhr, legte sich eine Hand auf ihre Schulter. Sie erschrak. Sie hatte ihren Mann nicht kommen hören.
„Was tust du an meinem PC?“, fragte er mit deutlicher Missbilligung.
Sie fasste sich. „Muss ich dich um Erlaubnis fragen? Meiner geht nicht und ich hatte Überweisungen zu tätigen.“
„Schon gut“, lenkte Ingo ein. „Ich mag es nur nicht, wenn jemand in meinen Sachen herumschnüffelt.
„Habe ich das jemals getan?“ Julia fühlte sich verletzt.
Sie stand auf und ging in Richtung Küche. Da fiel ihr ein, dass sie den Hundekorb aus dem Keller holen wollte. Bevor Ingo in ihr Leben getreten war, hatte sie einen Hund gehabt. Sie war schon lange nicht mehr im Keller gewesen. Irgendwie war das Ingos Reich. Scharnberg und sie hofften beide, dass Sissi den fremden Korb mit ihrer eigenen Decke darin annehmen würde. Sie öffnete die Tür zum Keller und schaltete das Licht über der Treppe ein. Dann stieg sie die Stufen hinunter. Fast stolperte sie über Ingos Schnürstiefel. Sie waren total verschmutzt. Zufällig nahm sie aus dem Augenwinkel ein Rosenblatt an der Kante der Schuhsohle wahr. Ein eisiger Schrecken durchfuhr sie. Sollte Ingo...,aber warum? Das ergab doch keinen Sinn. Sie starrte auf die Schuhe und bemerkte zu spät, dass Ingo sie beobachtete. Er würde ihr nichts tun. Er war ihr Mann!
Alles ging so schnell. Im Nu war Ingo bei ihr und schubste sie die restliche Kellertreppe hinunter. Unten im Raum zwang er sie zu Boden und fesselte sie.
„Keine Sorge, wir werden es aussehen lassen wie einen Unfall.“ Seine Stimme klang wie die eines Fremden. Julia Behrend brach der Schweiß aus. Ihr Herz raste.
„Wer war die Frau? Wieso hast du sie umgebracht?“
„Bianca? Sie war seit drei Jahren meine Geliebte. Wollte mich erpressen, dir von unserem Verhältnis erzählen, falls ich sie nicht heirate. Das dumme Mädchen. Nie würde ich das Vermögen aufgeben.“
„Du kannst mir nichts tun. Die erwischen dich.“ Julia Behrend war verzweifelt.
„Halt den Mund!“ Seine Stimme klang rau.
Es läutete an der Haustür.
„Wer ist das?“, fragte Ingo nervös.
„Das muss Herr Scharnberg sein“, antwortete Julia Behrend. Ich will seinen Hund in Pflege nehmen.
„Verdammt“, zischte Ingo. Ein Mucks von dir und ich stech den Kerl ab.
Lothar Scharnbek hatte alles dabei, Sissis Decke, Futternapf und Wassernapf, die Lieblingsspielsachen, Dosen mit Futter.
Als die Tür geöffnet wurde, sah er sich einem feindseeligen Mann gegenüber. „Entschuldigen Sie bitte“, sagte er verunsichert. „Ich möchte zu Frau Behrend.“ Mit vollen Händen konnte er nicht verhindern, dass Sissi in den Flur drängte. Sie lief zu einer Tür und bellte wie wild.
„Nehmen Sie Ihren Hund und verschwinden Sie“, fauchte der Mann. Er ließ Scharnberg an sich vorbei. Bevor der alte Herr sich bremsen konnte, rief er laut: „Frau Behrend, sind Sie da?“
Ganz plötzlich hatte der andere ein Messer in der Hand. Mit dem Fuß schubste er die Haustür zu. Der Schwung reichte nicht, um sie ins Schloss fallen zu lassen. Da klingelte es und die Haustür wurde aufgeschoben. Behrend zuckte zusammen. Kommissar Harms erfasste die Situation schnell und ließ Behrend keine Zeit zu reagieren. Im Nu entwaffnete er ihn und legte ihm Handschellen an. Den Abtransport besorgten seine uniformierten Kollegen, die mitgekommen waren.
Sissi bellte wieder. Kommissar Harms öffnete mit der Waffe in der Hand die Kellertür. „Ist da jemand? Hier spricht die Polizei“, rief er.
„Ich bin hier unten.“ Das war Frau Behrends Stimme.
„Sind Sie allein?“
„Ja.“
Sissi stürmte die Kellertreppe hinunter. Der Kommissar folgte ihr.
Scharnberg wartete aufgeregt, bis alle wieder auftauchten.
„Wir sollten uns setzen“, schlug Harms vor.
„Am besten ins Wohnzimmer“, stimmte Julia Behrend zu. „Ich brauche einen Cognac. Sie doch sicher auch, Herr Scharnberg?“
Als sie die bauchigen Gläser aus dem Schrank nahm, sah sie Harms fragend an. Dieser schüttelte den Kopf. „Ich bin leider im Dienst.“
Scharnberg nahm dankbar einen großen Schluck.
„Was hatte das alles zu bedeuten?“, fragte er.
Julia Behrend sah blass aus. Sie erzählte, was sie wusste. Dann fragte sie den Kommissar: „Wie kommt es, dass Sie hier auftauchten?“
„Ihre Freundin Susanne Wagner informierte uns über die Bilder, die ihr Mann abgespeichert hat“, erklärte Harms. „Zuerst wollte sie deren Herkunft verschweigen, aber wir haben es aus ihr herausgekitzelt.“
Julia Behrend schaute den schwarzen Hund an. „Ich bin froh, dass Sissi für eine Weile bei mir bleibt.“
„Bei ihr sind sie in guten Pfoten“, lächelte Scharnberg. Er war zufrieden. Frau Behrend würde seine Sissi gut behandeln.