Der Ruf
Der Ruf der Schönen
Sie werden sicher an den Einzelheiten meiner Geschichte zweifeln. Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Schließlich hatte ich an jenem Tag wirklich tief ins Glas geblickt. Und manches erscheint wirklich zu seltsam. Aber die Tatsachen sprechen doch für mich.
Sie wollte, dass ich sie finde. Sie hat mich gerufen.
Warum hätte ich denn sonst diesen schrecklichen Waldweg nehmen sollen? Warum hätte ich einen Umweg gehen sollen? Nur, weil ich betrunken war? Aus Lust und Laune?
Und glauben Sie mir. Ich würde es nie wieder tun.
Zu schrecklich sind die Bilder. Zu grausam das Greuel, das nicht aus meinem Kopf will. Dieser entsetzliche Film, der nicht mehr aus meinen Gedanken verschwindet.
Warum hat sie sich denn ausgerechnet mich ausgesucht?
Wie ich also leicht schwankend aus der Wirtschaft herauskam, vernahm ich es schon zum ersten Mal. Zunächst nur ganz undeutlich. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch. Ein Wispern in der Luft. Und doch weiß ich, dass es da war.
„Komm!“ flüsterte es. Ganz leise und sanft. Irritiert blickte ich mich um.
Doch da war niemand. Die Straße war um diese Zeit menschenleer. Ich schüttelte den Kopf und dachte noch, dass ich mich täuschen musste. Mein berauschter Geist spielte mir wohl einen Streich. Oder ich vernahm einfach noch ein paar Wortfetzen aus der eben verlassenen Kneipe.
Ich ging weiter. Doch schon nach wenigen Schritten war es wieder da.
„Komm zu mir!“, flüsterte es in der Luft. Oder in meinem Kopf?
Es war eine Spur lauter als zuvor. Eine sanft gehauchte Frauenstimme.
Nochmal schaute ich mich um. Niemand.
War ich wirklich so betrunken? Fing ich an, Stimmen zu hören?
Mit einem leicht unangenehmen Gefühl im Nacken ging ich weiter.
Und dann tat ich es. Ich weiß bis heute nicht warum. Weis nicht, wie ich den Entschluss gefasst habe. Doch anstatt meinen gewohnten Weg nach Hause einzuschlagen, bog ich ab und ging in eine Seitenstraße.
Ich kann es mir nicht erklären. Doch ich konnte nicht anders.
Und augenblicklich – wie zur Bestätigung – war sie wieder da.
Diese unwiderstehlich lockende Stimme.
„Komm näher. Komm zu mir!“
Und ich tat es. Ging weiter. Ging durch Straßen, die ich nicht kannte. Ohne auch nur einmal an meinem Weg zu zweifeln.
Irgendetwas sagte mir, wohin ich zu gehen hatte.
Je mehr ich mich von der Innenstadt entfernte, umso ausgestorbener und verlassener wirkten die Straßen. Immer weniger Lichter erhellten den Weg. Und schließlich nach einer letzten Straße mit einer Reihe unbelebt wirkender alter Mitshäusern, erreichte ich den Stadtrand und den unmittelbar angrenzenden Wald.
Selbst hier begann ich nicht zu zweifeln. Ich war absolut sicher, wie ich zu gehen hatte. Ein innerer Drang trieb mich. Trieb mich hinein in die Dunkelheit des Waldes. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit folgte ich dem Waldweg.
Dann, urplötzlich sah ich es – oder sie. Sah sie zum ersten mal. Ich sah diese Nebelwesen. Ja, anders vermag ich es kaum auszudrücken. Es, sie? Sie hatte etwas nebelhaftes. Wie ein zarter weißer Schleier, der vorbeizieht. Ungefähr 20 m vor mir schwebte es verschwommen in der Luft. Etwas im Dunkeln kaum zu erkennendes. Eine schattenhafte Bewegung. Ein Huschen, dass auch von der Fantasie vorgegaukelt sein konnte.
Ich blinzelte mehrmals. Doch meine Augen trügten mich nicht. Die halbdurchsichtige Frauengestalt blieb. Und sie gab mir Zeichen. Zeichen ihr zu folgen. Und ich musste folgen. Wie von alleine bewegten sich meine Beine. Ich konnte nicht anders. Wollte auch gar nichzt mehr anders.
Diese unglaublich schöne und leichte, anmutige Erscheinung lockte mich. Die geisterhafte Gestalt einer wunderschönen Frau.
Oh, warum nur war mein Wille so unter ihrem Bann?
Hätte ich doch meinen Körper und meinen Verstand unter Kontrolle halten können.
Doch ich folgte dem, wie vom Wind getragenen, Schatten. Folgte der merkwürdig leuchtenden Aura. Dieses nicht körperliche Wesen zog mich immer tiefer in den Wald. Schließlich auch weg vom Weg. Hinein. Zwischen die Bäume und durch das Unterholz.
Wie ein letztes Aufblitzen meines Verstandes hatte ich nochmals ein unangenehmes Gefühl im Bauch. Ich spürte eine feuchte Kälte und Furcht beschlich mich. Doch leider warnte mich mein Körper zu spät. Wie unter Zwang musste ich wieder und wieder zu der Gestalt blicken. Eindringlicher denn je verführte sie mich und beugte meinen Willen.
In Trance folgte ich der, in der Dunkelheit des Waldes kaum wahrnehmbaren Nebelfigur.
Unfähig, meinen Blick von ihr abzuwenden.
Ganz seiner/ ihrer betörenden Stimme verfallen.
„Wir sind jetzt ganz nah,“ flüsterte sie mir ins Ohr. „Bald hast du mich gefunden.“
Wäre es mir doch erspart geblieben.
Doch die Erscheinung lächelte sanft und in meinem Kopf hallte ihr „Komm! Komm! Hier bin ich.“
Die vage Figur einer vielleicht 30 – jährigen Frau. Von eleganter Schönheit. Ein anmutiges Geschöpf.
Und dann mit einemmal war sie verschwunden. Wie aus einem unruhigen Schlaf schreckte ich hoch. War urplötzlich wieder vollkommen Herr meiner Sinne. Als hätte ein Schnippen der Finger mich aus einer tiefen Hypnose erweckt.
Und nun sah ich sie. Musste sie sehen. Oder vielmehr das, was von ihr übrig war.
Entsetzen und Grauen übermannten mich. Ihr Anblick verfolgt mich bis heute in jeder Nacht. Nie werde ich es vergessen.
Es war die Frau, die mich hergeleitet hatte. Oder deren Geist mich hierhergeführt hatte, um sie zu finden. Doch wie entsetzlich anders doch die Wirklichkeit war.
Wie die Erhängte an dem Strick baumelte. Leicht vom Wind hin und her bewegt. Die von Tieren angefressenen Füße glitten sanft über das Laub am Boden.
Der verfaulende, verwesende Körper. Das Grau des Todes.
Das Getier, das sich an ihr zu schaffen machte.
Der Strick, der sich tief in den Hals geschnürt hatte.
Und wie, um mir das Furchtbare noch unvergesslicher zu machen, drehte sich mir in diesem Moment der Kopf zu. Fast wirkte es wie ein begrüßendes Nicken.
Das schwarze Mundloch zum Schrei verzerrt. Die hohlen Augen starrten mich an.
Ich hatte sie gefunden!
Sie hatte mich geholt!