Mitglied
- Beitritt
- 24.01.2006
- Beiträge
- 697
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 33
Der schönste Tag meines Lebens
Für die meisten ist es der Hochzeitstag. Für andere der erste Kuss oder das erste Mal. Für wieder andere ist es ein Geburtstag oder ähnliches. Für mich ist es der Tag meiner Musterung: Der schönste Tag meines Lebens!
Warum, werden sich jetzt viele fragen. Ganz einfach. Weil ich an diesem Tag das Leben verstehen lernte. Ich betrachte jetzt alles, was danach kommt, mit einem lachenden Auge. Die Welt ist schön!, zumindest im Vergleich zu dem was man bei einer Musterung erlebt.
Das Grauen hat eine Namen: Wehrdiensttauglichkeitsprüfung. Das dieses Wort noch nie zum Unwort des Jahres nominiert wurde, erscheint mir mehr als verwunderlich. Auf jeden Fall bin ich von diesem Tag – es war der 21. Oktober 2005 – so traumatisiert, dass ich seitdem schlecht träume und es mir immer wieder eiskalt den Rücken herunter läuft, wenn ich einen Soldaten sehe. Das mag vielleicht übertrieben klingen, aber das ist es keineswegs. Ich verließ meine Wohnung, an diesem sonnigen Oktobertag, an dem es 18 Grad hatte, um acht Uhr vormittags. Wer erinnert sich noch so genau an das Wetter an einem x-beliebigen Tag? Richtig. Keiner. Außer eben, man erlebt etwas Schreckliches. So wie ich.
Wie ich schon erwähnte ging es um acht Uhr los. Ich setzte mich in mein Auto und fuhr zum Kreis-Wehr-Ersatz-Amt. So zumindest hatte ich es vor, als ich ins Auto einstieg. Da die netten Damen und Herren in ihrem überaus freundlichen Einladungsschreiben – Wortlaut: Kommen Sie am 21. Oktober zur Musterung! Erscheinen Pflicht! So oder so ähnlich – mir glücklicherweise eine Wegbeschreibung beilegten, erwartete ich das Bundeswehrgebäude ohne Probleme zu finden. Ich folgte strikt der Anleitung, die keinen Zweifel am gelingen der Mission zuließ, und schaffte es bis in die Innenstadt, was ich auch ohne Hilfe leicht geschafft hätte. Ich folgte weiter den Anweisungen (rechts um, links ab und so weiter), bis ich mich irgendwo in Würzburg befand. Hier endete die Beschreibung. Was nun? Da ich nicht mehr weiter wusste, beschloss ich einen Passanten zu fragen. „Tschuldigung, könnten Sie mir bitte sagen wo´s zum Kreis-Wehr-Ersatz-Amt geht?“ „Keine Ahnung“, entgegnete der Passant freundlich, aber bestimmt. Plötzlich sah ich eine Tankstelle. Also ging ich hinein und fragte den Mann hinter dem Tresen. Dieser lachte sich jedoch nur schlapp über meine Frage. Ich überlegte, was ich falsch gemacht hatte, doch da gab er mir, immer noch kichernd, die Antwort. Er zeigte auf das Gebäude direkt gegenüber und lachte weiter. Mit geröteten Wangen bedankte ich mich und verließ die Tankstelle. Als ich hinausging, dachte ich nur: Oh man, du Vollidiot! Wie konntest du das nur übersehen? Ist doch ein riesiges Gebäude. Und groß war es ja wirklich. Nur stand da nirgends, was sich in dem Gebäude befindet. Erst als ich eintrat, sah ich das kleine Schild neben der Tür, kaum größer als ein Namensschild einer Türklingel. Auch sonst wies nichts auf ein Bundeswehrgebäude hin. Ein Gebäude, in dem täglich 100 Menschen oder mehr, ein- und ausgehen, sollte man wirklich besser kenntlich machen. Sonst gibt es für jeden Scheiß ein Schild. „Achtung Froschlaich“ oder „Vorsicht Gebärende Ziegen auf der Fahrbahn“. Manchmal glaube ich: Je größer und wichtiger das Gebäude ist, desto kleiner und unkenntlicher das Schild dafür. Also direkte proportionale Abhängigkeit. Nur eben falsch herum. Von wegen Schilderwald Deutschland, dachte ich und trat ein.
Nachdem ich mich an der Information angemeldet hatte, ging ich auch prompt ins Wartezimmer. Mit mir in diesem Zimmer saßen ungefähr 20 Männer, manche in Uniform, andere in Zivil, wie auch ich. In jeder Ecke standen Fernseher, auf denen via Video Dokumentarfilme aus den Siebzigern liefen. Ich glaube, es wurde ungefähr jede Ausbildungsrichtung der Bundeswehr vorgestellt. Gebirgsjäger. Marinetaucher. Fluglotse und und und. Kurz um, die Spannung pur. Die meisten der vorgestellten Tätigkeiten gibt es wahrscheinlich nicht einmal mehr, da die Technik mittlerweile wesentlich weiter ist. Aber das beste war, dass ein Soldat dafür zuständig war, die Videokassetten zu wechseln. Das muss man sich mal vorstellen. Die arme Sau hockt den ganzen Tag in diesem Raum und hat nichts anderes zu tun, als alle halbe Stunde die Videokassetten auszutauschen. Als wenn irgendjemand sich diese Scheiße auch noch anschauen würde.
Nach circa zwei Stunden wurde ich dann endlich aufgerufen. Übrigens, vielen Dank für den Termin, sonst hätte ich wohlmöglich noch warten müssen. Sichtlich gereizt begab ich mich in das Büro, in dem ich mich einfinden sollte. Dort musste ich allgemeine Fragen zu meiner Person beantworten. Name, Geburtsdatum, Ort, angestrebte Ausbildungsrichtung bei der Bundeswehr. Hallo? Ich will ausgemustert werden. Da ich aber im Vorfeld hörte, dass man nicht richtig gemustert wird, wenn man schon vorher sagt, man will nicht zum Bund, bekundete ich reges Interesse. Der Herr, der meine Angaben annahm riet mir Heerdienst anzukreuzen. Also Heerdienst. Ab an die Front. Fürs Vaterland. Ließe summte ich die Nationalhymne, während der Beamte mich in des nur verwirrt anstarrte.
Nach Beendigung des Gespräches wollte der Herr mich wieder ins Wartezimmer führen. Ich sagte zu ihm, dass er sich das sparen könne. Sarkastisch ergänzte ich: „Ich weiß wo das Wartezimmer ist. War ja schließlich schon zwei Stunden dort gesessen.“ Also wieder hinsetzen, irgendein blödes Propagandamagazin durchlesen, nur um nicht vor Langeweile zu sterben. Die Bundeswehr hilft bei Krisen. Die Bundeswehr verteidigt unser Land. Die Bundeswehr... blabla. Im Hintergrund immer noch Maschinengewehrsalven von den Gebirgsjägern aus dem Fernseher. Warum gibt’s eigentlich keine Maschinengewehrklänge auf CD? Seit meiner Musterung weiß ich: Es gibt nichts entspannenderes als gelegentliches Maschinengewehrgeknatter und dazu raue Männerstimmen. Kurz bevor mich die sanften Klänge in den Schlaf wiegen konnten, kam ein Soldat, der mich bat ihm zu folgen. Er nuschelte irgendwas von medizinischer Untersuchung und brachte mich in einen kleinen Raum, in dem nichts weiter war, als einige, abschließbare Schränke und zwei Bänke. In dem Raum war es schweinekalt und es roch widerlich nach Schweiß. Als ich mich umschaute, wusste ich auch warum. Auf den Bänken saßen acht nur in Unterhosen gekleidete Männer. Der Soldat sagte mir, ich solle mich ebenfalls bis auf die Unterhose ausziehen und warten bis ich abgeholt werden würde. Alles klar, also raus die Klamotten. Das ganze hatte etwas von finnischer Sauna. Nur ohne Hitze, aber dafür mit viel mehr Schweiß und Gestank.
Was mich im Nachhinein etwas wundert, war der Sachverhalt, dass wir alle schon in dem Raum – halb nackt wohlgemerkt – warten mussten, obwohl immer nur einer nach dem anderen dran kam. Wahrscheinlich sollten wir uns nur schon an das Gruppenleben gewöhnen. Auch möglich ist, dass man die Bilder live im Internet sehen konnte. Das wäre mir aber auch scheißegal. Ich wollte einfach nur da raus. Keiner sagte ein Wort. Was auch? „Hey schöne Shorts“ oder „Bist du der, der so nach Schweiß stinkt?“ Als der Soldat dann endlich kam und den ersten bat, ihm zu folgen, war ich sichtlich erleichtert. Allerdings verging noch eine weitere Stunde bis ich an der Reihe war. Mein Magen meldete sich zu Wort, aber meine Verpflegung befand sich im Wartezimmer, in meinem Rucksack. Da ich eine gewisse Vorstellung von Anstand und Moral habe, vermied ich es, halbnackt durch das Bundeswehrgebäude zu latschen, nur um mir eine meiner leckeren Stullen zu holen. Als ich dann endlich an der Reihe war und von dem Soldat, halbnackt durch das ganze Bundeswehrgebäude geführt wurde, bereute ich meine Entscheidung, die Brote nicht zu holen. Meine Moralvorstellungen waren über den Haufen geworfen und ich war immer noch hungrig. Die Welt ist schlecht.
Doch wie schlecht erfuhr ich erst wenige Minuten später. Da stand ich nämlich vor der 60-jährigen Ärztin. Ich grüßte freundlich: „Guten Morgen“. Doch als Antwort erhielt ich nur ein Knurren. Nach zwanzig Sekunden unbeholfenem Rumstehen, sagte die Ärztin „Setzen“ zu mir. „Dieser Befehlston“, sagte ich „Fast wie beim Bund. Ach Scheiße. Wir sind ja beim Bund.“ Über meinen super Witz musste ich lachen, die Ärztin nicht!
„Irgendwelche Krankheiten?“ fuhr sie fort.
„Aids, Lebra und die Pest. Sonst keine.“ Antwortete ich mit einem Grinsen. Ich wollte gerade sagen „Quatsch, war nur Spaß, ich bin gesund“, als die alte Giftspritze mich anmachte: „Keine Witze - sonst sitzen sie gleich wieder im Wartezimmer“. Ich verkniff mir gerade einen weiteren zynischen Kommentar und blieb lieber still. Bloß nicht wieder ins Wartezimmer. Ich begriff sofort: Mit Widerstand war hier nichts zu holen. Es ging weiter.
„Allergien?“
„Nein“
„Diabetes?“
„Nicht, dass ich wüsste“
„Antworten sie bitte mit ja oder nein“
Die alte Schlampe! Meine Wut gerade noch unterdrückend schnaubte ich: „Ok, geht klar.“
Das ganze Spielchen ging einige Minuten. Ich wurde nach Krankheiten gefragt, von denen ich noch nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Bei ungefähr jeder dritten Krankheit sagte ich „Ja“, schließlich wollte ich ausgemustert werden und doch nicht unglaubwürdig wirken.
Die Ärztin glaubte mir allerdings kein Wort. Die Alte war vielleicht von Grund auf böse und die Unfreundlichkeit in Person, aber leider nicht dumm. So ein Mist. Ich brauchte eine neue Strategie.
Danach sollte ich 10 Liegestützen und 10 Kniebeugen machen. Ich glaube die Alte wollte mich nur leiden sehen. Sadistische Kuh. Nach Ausführung meiner aufgetragenen Aufgaben lamentierte ich, dass ich starke Schmerzen im Knie hätte, ein Stechen im Rücken und dass mir überhaupt alles Weh tue. Doch die Ärztin ignorierte mich konsequent.
So eine Scheiße, dachte ich und sah mich schon im Matsch rumrobben und bei minus 10 Grad draußen schlafen. Mir blieb nur noch eine Chance. Die Ärztin bat mich auf eine Trage. Ich solle mich drauflegen, oder wie sie es freundlich sagte: „Hinlegen“. Wie wäre es mal mit „Bitte“. Soll helfen. Mürrisch begab ich mich auf die Liege. Die alte Giftspritze winkelte meine Beine in sämtliche Himmelsrichtungen ab, drückte mit ihrem ganzen Gewicht entgegen und zog und zerrte an mir herum, dabei knurrte sie mürrisch. Ich witterte meine Chance: „Alles in Ordnung?“ Von ihrer Antwort war ich sichtlich überrascht. „Mit der Hüfte stimmt was nicht. Ich muss sie zum Facharzt schicken“ Überglücklich antwortete ich „So schlimm. Oh nein.“ Sie fragte, wo ich wohne, sie wolle mich zu einem Arzt in meiner Umgebung überweisen. Danach fragte sie, wo ich arbeite, und abschließend warnte sie mich noch, dass ich mir ja nicht einfallen lassen solle, die Fahrtkosten anrechnen zu lassen. Ich schaltete einfach ab.
„Ist das in Ordnung so?“
„Seit wann hab ich ein Mitbestimmungsrecht?“
„Jetzt werden sie mal nicht unverschämt, junger Mann.“
„Wer hat noch nichts von Umgangsformen gehört?“
„Junger Mann, ich warne sie noch ein letztes Mal.“
„Ja, ja, schon gut. Das geht so klar. Ich lass mir schnellstmöglich einen Termin geben.“
Ich dachte schon ich bin erlöst, als sie zu mir sagte: „Unterwäsche aus“. Ich verkniff mir gerade noch ein „Na, na, so lange kennen wir uns jetzt auch noch nicht.“ Stattdessen schaute ich nur skeptisch drein. Sie erkannte wohl meine Bedenken und faselte etwas von Prostata oder ähnlichem. Ich zog mich aus und die Alte langte mir auch sofort an die Eier. Die hässliche, alte Schlampe! Was soll denn bitte das? Einen Mann hat sie sicher nicht, aber warum muss sie deshalb jedem jungen Mann an die Nüsse gehen? Ich solle husten. Ich hustete. Bitte, lieber Gott, mach, dass das gleich vorbei ist. Mir wurde schlecht, als ich ihre faltige Hand an meinen Hoden spürte und dazu noch ihren lüsternen Blick betrachten musste. Ich erwache immer noch nachts und sehe diesen Blick. Zum Glück war das Drama schnell vorbei und ich konnte mich wieder anziehen. Zumindest die Unterhose. Sie ließ mich meine Angaben unterschreiben und ich flüchtete aus dem Raum. Anschließend ging ich in den Umkleideraum und zog mich wieder an, begab mich dann ins Wartezimmer und nahm endlich eine Mahlzeit zu mir, obwohl mir immer noch unwohl war.
Einige Maschinengewehrsalven, zwei neue Filme über Rettungssanitäter und Fluglotsen später, also nach circa dreißigminütigem Warten - neuer inoffizieller Bundeswehrekord -, durfte, besser gesagt musste ich zum Hörtest. Eine junge, bildhübsche Dame wies mich in das Prüfungsgerät ein. Warum kann die Ärztin von vorhin nicht einfach mit dieser Dame tauschen? Aber weiter beim Test. Ich wurde in eine Kabine gesteckt. Über Lautsprecher hörte ich: „Bitte den Knopf drücken, sobald sie ein Geräusch hören.“
Als ich aber nach einer Minute noch immer nicht reagierte, fragte die Dame mich, ob ich nichts hören würde. „Ne, nur Rauschen“ erwiderte ich. Daraufhin sagte sie mir, dass es sich bei dem Rauschen um den Ton handelt.
Alles klar. Muss man ja alles erst gesagt bekommen. Also noch mal von vorne. Nach drei Tönen, die ich jeweils prompt, durch Knopfdruck beantwortete, hörte ich wieder nichts und reagierte dementsprechend auch nicht. Der Lautsprecher ging an: „Verarschen Sie mich wieder?“
„Wieso wieder“
„Ist ja auch egal. Bitte drücken Sie, wenn Sie etwas hören.“
„Ich höre aber nichts“
„Wirklich nicht?“
„Nein.“
Danach spielte sie mir – angeblich, ich hörte ja nichts – weiter Töne vor und fragte jedes Mal: „Und?“ Ich antworte jedes Mal wahrheitsgemäß: „Nein“
Nach dem Test verließ ich die Kabine und sie sagte mir, dass ich keine hohen Töne hören kann.
„Wird man deswegen ausgemustert?“, fragte ich.
„Nein, nur deswegen nicht, aber das trägt dazu bei.“
Bingo. Jetzt sieht es doch ganz gut aus.
Wieder zurück ins Wartezimmer. Zurück zur Propagandaliteratur und weiteren filmischen Meisterwerken. Zwei volle Stunden lang. Mittlerweile war es 16 Uhr und ich durfte, jawohl ich durfte, zum IQ-Test. Der Test verlief ohne weitere Probleme, was nach den vorangegangenen Erlebnissen auch gut war, da ich sonst wahrscheinlich Amok gelaufen wäre. Abschließend ging ich zur Fahrtkostenabrechungsstelle und erhielt meine Auslagen. Ohne Musterungsergebnis fuhr ich heim und meldete mich umgehend beim Orthopäden an. Dieser bescheinigte mir ein verkleinertes Hüftbecken, mit dem Wohl nicht zu spaßen ist, aber das war mir egal, denn er sagte, dass ich sicherlich ausgemustert werden würde. Nach zehn Tage erhielt ich Post. T5! Wie schön ein Buchstabe und eine Zahl doch klingen können. T5! Ich jubelte und tanzte durch unser Haus. T5! Seitdem liebe ich das Leben. Jedem, dem es schlecht geht, kann ich nur sagen, begeben sie sich zur Musterung, danach ist alles halb so wild. Getreu dem Motto: Wer durch die Hölle gegangen ist, fürchtet auch den Teufel nicht mehr.