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- 11.11.2007
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Der Schatten
Ich folge dir, gehe überall dorthin, wo auch du hingehst. Ja, ich bin dein Schatten. Ich bin an dich gebunden. Nie werde ich dich alleine lassen. Nicht weil ich es so wollte. Ich muss. Ich bin an dich gebunden, mit festen Ketten aus Sonnenlicht. Gerne würde ich einmal einen anderen Weg begehen, den altbekannten Pfad, deinen Pfad, verlassen, doch es ist unmöglich. Habe ich überhaupt einen eigenen Willen? Es spielt keine Rolle. Die Ketten sind mein Schicksal, und wer ein Schicksal hat, für den spielt der eigene Wille keine Rolle. Doch vielleicht habe ich doch einen eigenen Willen, schliesslich denke ich diese Dinge, diese Wunschträume, nicht? Dies scheint manchmal das Gewicht der Ketten leichter zu machen, der Gedanke daran, dass ich denken und fühlen darf, was ich will, auch wenn es an meinem Schicksal nicht das Geringste ändert. Doch wer weiss: Es ändert die Art, wie ich diesem Schicksal begegne, und vielleicht ist dies alles, was zählt? Doch heute, heute ist es ein wenig anders. Heute denke ich diese Dinge nicht nur, ich sage sie auch. Dir. Dem Träger meiner Ketten. Du scheinst dir gar nicht bewusst zu sein, wer du bist. Dass du mich bindest, mich gefangen hälst, mir meine Träume schenkst und sie wieder brichst.
Du bist mein Sklavenhalter, ich dein Sklave. Du bist mein Vorbild, ich deine Imitation.
Ich habe deine Umrisse, ahme jede deiner Taten nach, jeden Schritt, jede Bewegung, jedes Zucken deiner Muskeln, solange es Licht gibt, das meine Form zeichnet. Doch nie werde ich du sein, egal, wie perfekt ich dich kopiere und imitiere. Für alle Ewigkeit, solange du existierst, werde ich dein Sklave, deine Imitation, dein Schatten bleiben, dir folgen, bei Tag und Nacht, bei Licht und Dunkel.
Du wirst glauben, ich fürchte mich vor dem Licht, da ich mich immer so hinter, vor, oder unter dir verstecke, dass es mich nicht berühren kann, doch das ist nicht die ganze Wahrheit. Sicherlich, ich weiss, wo die Sonne ihr Licht hinscheinen lässt, existieren keine Schatten. Doch bin ich auch dankbar, denn ich weiss, dass ich ohne dieses grausame Licht, vor dem ich mich verstecke, nicht existierte.
Du wirst glauben, dass ich das Dunkel liebe, da es ja ein Teil von mir ist, oder ich ein Teil von ihm, doch das ist nicht vollkommen wahr. Ja, es gibt mir das Gefühl, frei zu sein, wenn ich mit all den anderen Schatten verschmelze zu dem, was du das Dunkel nennst, da ich mein Selbst verliere, das an dich gekettet ist. Doch genau dies lässt mich auch erzittern, denn mein Selbst zu verlieren, bedeutet nicht länger zu existieren. Was ist besser?
Gekettet doch existent, oder aber frei und tot?
Doch weshalb sage ich dir das alles? Du hörst mich nicht, schliesslich habe ich keinen Mund, dessen Worte du hören könntest. Und wenn du meine Worte nicht hörst und nicht darauf reagierst, woher weiss ich dann überhaupt, dass ich die Dinge gedacht habe, die ich dir sagen will? Woher weiss ich dann überhaupt, dass ich die Freiheit habe, zu denken, was ich will?
Jetzt fällt es mir schmerzlich wieder ein: Ich habe bereits einmal mit dir zu sprechen versucht, vor langer Zeit. Und davor schon einmal, und davor, und davor... Nie hast du mir zugehört, wie auch? Nie wieder werde ich sprechen, so schwöre ich. So schwöre ich, wie ich es jedesmal getan habe.
Du bist mein Erlöser, ich dein Gefolge.
Du bist mein Herr,
ich bin dein...