- Beitritt
- 22.11.2005
- Beiträge
- 993
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 7
Der Schattenmusiker
Da man das Instrument nicht kannte, hat man es flüchtig und plump „Schattenorgel“ getauft. Diese Betitelung ist nicht angebracht, falsch und dumm, denn viele berichten, er habe es in die Hüfte gestemmt, mit einer Art Violinenbogen gestreichelt, geschlagen, gezupft, und das ganze Ding gebogen wie einen Fuchsschwanz, und wie ein solcher soll es auch den Klang geändert haben. Richtige körperliche Arbeit sei es gewesen, die Schattenorgel zu bedienen, die er manchmal auch blies und regelrecht zusammendrückte wie einen Dudelsack. Ich denke, die Menschen haben es Schattenorgel genannt, da er, zum einen, im Schatten des Kölner Doms spielte. Zum anderen, aufgrund der Tonintensität, die so kräftig und klar gewesen sein soll, wie man es nur von einer Orgel kennt. Geld wollte er nicht; er hatte keinen Hut oder offenen Koffer für Kleingeld, ging auch nicht herum und sammelte, was er auch nicht gemacht haben konnte, denn er soll niemals aufgehört haben zu spielen. Wenn es dunkel wurde, machte er Schluss; die Nachtkälte war für dieses hochfeine Instrument wohl ähnlich schädlich wie die Sonne. Und so kreisten tagtäglich mehrere Menschen, kommend und gehend, mit dem Musiker um den Dom. Daher munkeln viele auch, die Domverwaltung habe ihn beiseite schaffen lassen. Aber darauf will ich hier nicht weiter eingehen.
Wichtig ist zu erfahren, dass er sein Spiel unterbrach, sobald sich ihm jemand weniger als zehn Fuß näherte. Es wurde sich entschuldigt und zurückgegangen, und er setzte neu an, begann sein Werk erneut; somit wurde die Person, die zu nah an den Meister herangetreten war, gescholten. Man kann allerdings auch nicht von einem Werk sprechen, da kein Anfang und kein Ende, so erzählt man sich, keine deutlichen Noten oder Rhythmen erkannt werden konnten. Die Menschen wurden neugieriger und neugieriger, und bald versuchte man, sich dem Instrument tückisch zu nähern, also seitlich heranzuschleichen, und so war das Spiel durch ständige Unterbrechungen gekennzeichnet. Sie riefen und schrieen und rückten bald gemeinsam immer näher, bis der Musiker das Instrument nahm und auf den Boden zerklingen ließ, wobei einige Narren eine Wolfsquinte vernommen haben wollen. Als die Menge vor Entrüstung inne hielt, musste er unbemerkt das Weite gesucht haben und ward niemals wieder gesehen. Bis heute versucht man, das Instrument zu rekonstruieren, den einzelnen, zerbrochenen Teilen einen Sinn zu geben. Viele Wissenschaftler hatten es schon so zusammengeflickt, wie sie es für korrekt hielten, doch noch nie hat sich ein Ton gelöst. Und das wird sich wohl auch nicht ändern.