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Der Schauspieler
Der Vorhang rauscht beiseite. Dem Publikum preisgegeben kauert ein Mann. Seine Hände halten den Kopf, als wäre sein Hals zu schwach, um ihn zu tragen. Er bewegt sich nicht. Alles starrt gebannt. Und ein jeder wartet, wartet auf das Erscheinen des Mannes, wegen dem sie alle gekommen sind. Denn, wenn man der Kritik glauben darf, dann ist das Stück äußerst banal und ohne jede Originalität; aber der Hauptdarsteller wird gerühmt, wird groß geheißen und die Leute von der Zeitung überbieten sich gegenseitig mit ihren Preisungen von seinem Können.
Da kommt er auf die Bühne, das Genie, Manfred Schau – von der Seite kommt er, kommt im vollen Selbstbewusstsein seiner Rolle. Sein Gang ist von federnder Leichtigkeit und doch vermittelt die Haltung seiner Schulter, das leichte Vorstrecken seines Kopfes eine Zielstrebigkeit, einen Ernst, die den hilflos auf ihn wartenden Mann in der Mitte der Bühne noch weiter schrumpfen lassen. Schau schreitet auf das Bündel Mensch vor ihm zu. Vier Meter trennen die beiden noch und schon erhebt Schau die Stimme.
„Was fällt dir ein, was? Warum hintergehst du deinen Herrn auf solch scheußliche Weise? Sprich!“
Und der Mann vor ihm windet sich und stammelt seine Antwort. Doch keiner im Saal achtet auf ihn; jedes Augenpaar ist auf Schau gerichtet, der sich breitbeinig vor dem Winselnden aufgebaut hat und dabei so viel Autorität ausstrahlt, dass ein frischer Rekrut im Publikum beinahe stramm gestanden hätte. Im letzten Moment reißt der Junge sich zusammen und mit schamerhitzten Wangen blickt er sich um, ob jemand sein Aufzucken bemerkt hat.
Aber er ist nicht der einzige, den Schau mit seiner Gabe zu bezaubern weiß; alle starren sie auf die Bühne und niemandem ist der Rekrut aufgefallen.
Ein alter Herr im grauen Anzug denkt: diese Größe, so wie er müsste man das Leben nehmen, immer bereit zum Kampf und keine Rückschläge dulden; dabei spannt sich sein Körper, wie zum Versprechen, das Gedachte auch wirklich zu leben.
So manche Frau im Publikum sieht in Schau ihr Ideal eines Mannes und auch viele seiner Geschlechtsgenossen halten ihn dafür und verspüren einen Stich in der Brust, im Bewusstsein der Unzulänglichkeit ihrer selbst. Und so schlagen viele Herzen für den Mann auf der Bühne, der den Verräter nun, nicht ohne Strafe, aber doch mild gestimmt entlässt.
Doch am höchsten, am begeistersten schlägt Schaus eigenes Herz. Ernst blickt er dem gefallenen Gefolgsmann nach, dazu mit dem Kopf nickend, als dächte er darüber nach, wie hart doch das Leben ist und wie schwach der Mensch. Dabei verspürt er eine Lebensfreude und eine Energie, die er nur während des Schauspiels kennt und sonst nirgends. Diese beiden Gefühle sind dafür verantwortlich, dass er die Menschen im Saal in den Bann schlägt, dass er sie ihr Leben vergessen lässt, wenigstens für zwei Stunden; denn sie verleihen seiner Rolle eine sprühende Vitalität, die weit über das gewöhnliche Maß hinausgeht und so den Mann, den er spielt, als so vollkommen, so energisch erscheinen lässt.
Er hat seinen ersten Abgang. Hinter der Kulisse ist es düster; seinen Stuhl findet Schau nur durch tasten. Schau blickt auf die Bühne, auf der gerade ein Ehedrama exerziert wird. Die Frau schreit und wirft mit Kissen von dem Sofa, auf dem die beiden gerade noch gesessen haben, um sich. Dilettanten!, denkt Schau, das ist nicht dramatisch, das hat keinen Stil, das ist nur lächerlich. Was soll dieses Fuchteln mit den Armen? Wen will er damit beeindrucken? Auf dem Jahrmarkt kann man sowas bringen, aber doch nicht hier. Hier braucht man ein Gefühl für das rechte Maß, für die Verhältnismäßigkeit der Mittel; denn schnell ist die Grenze überschritten zwischen genialer Darstellung und hilfloser Effekthascherei und diese beiden haben die feine Trennlinie strammen Schrittes übertreten und verlieren sich nun in Kreischen und Wehgeschrei. Missbilligend schüttelt Schau dem Kopf. Wenn er doch nur diese Szene spielen dürfte, er würde dem Publikum einen Ehemann präsentieren, der seine Gefühle mit Stil der Welt preisgibt, nicht mit Schnauben und hochrotem Schädel, wie dieser Trottel da. Selbst ungeübt würde es ihm bestimmt besser gelingen. Aber er darf nicht. Er muss warten. Und leiser Neid auf die beiden Schauspieler, auf der Bühne, breitet sich in ihm aus. Die stehen im Rampenlicht, denkt er, und obwohl sie schlecht sind und kaum Talent haben, sind sie mir momentan über, denn sie spielen vor dem Publikum, während ich nur hinter der Kulisse sitze und zu sehe. Er kennt diesen Neid. Bei fast jeder Aufführung verspürt er ihn in den Momenten, da er anderen die Bühne überlassen muss. Es ist ein Ziehen in der Brust, ein Verlangen aus den Schatten zu stürmen und wieder die Blicke aller auf sich zu spüren. Hier im Dunkel ist er ein Nichts, da, im grellen Licht der Scheinwerfer, ist er alles.
Endlich! Die Streiter vereinen sich wieder, umarmen sich unter Schluchzen und treten ab. Es ist wieder an ihm. Er steht auf. Schon ist er wieder der energische Mann im Anzug. Man sieht es sofort. Saß er zuvor leicht zusammengesunken auf dem Stuhl, ein verlangendes Glänzen in den Augen, so hält er sich nun aufrichtet und strahlt die Aura eines Menschen aus, der alles hat und nur noch seine Launen lebt. Ah! Welch Hochgefühl die Bühne zu betreten, das Licht der Scheinwerfer im Gesicht. Aber nicht zu hastig - beherrscht muss es sein; man will ja nicht den beiden Stümper gleichen. Den Blick auf den Untergebenen richten, der gleich von dem beobachteten Ehekrach der Tochter berichten wird.
Nur einmal, ganz kurz, fällt Schau aus seiner Rolle und blickt in den dunklen Saal, sucht die schemenhaften Gesichter des Publikum, in denen er, trotz des grellen Gegenlichtes der Scheinwerfer, die Begeisterung ausmachen kann und sein Herz saugt diesen Eindruck der gebannten Menschenmasse auf, um ihn gut zu konservieren und später, in den einsamen Stunden des Selbstzweifels und der Kälte, wieder hervorzukramen und sich daran zu wärmen. Und diese kleine Schwäche - auf die das Publikum gewartet hat, denn er verfällt ihr bei jedem Auftritt ¬- sie ist es, die seinem Schauspiel erst die volle Wirkung und Zauberkraft gibt. Ist der Mensch vom absolut Vollkommenen doch immer, bei aller Bewunderung, auch ein wenig abgestoßen. Er kann es nicht begreifen und so erscheint es ihm als fremd, ja als kalt. Gibt sich aber der Makellosigkeit ein kleiner Fehler bei, so kommt sie dadurch dem Menschen näher und dessen distanzierte Bewunderung wird zur selbstvergessenen Begeisterung. Dann ruckt Schau mit dem Kopf zu dem Mann, auf den er zu geht, und schlüpft wieder in seine Rolle.
Applaus! Applaus! Der Sturm der Hände will nicht abnehmen. Die Schauspieler müssen wieder und wieder hinter dem längst gefallenen Vorhang vortreten. Vor allem einer muss es und er tut es ebenso begeistert wie das klatschende Publikum. Er tritt hinter dem roten Stoff hervor - erst mit den anderen, später alleine - macht ein, zwei Schritte auf den Saal zu und verbeugt sich dann mit einstudiert linkischer Geste. Und bei jedem sich neigen braust es auf unter den Zuschauern. Bald wird ihm der Rücken lahm vom Bücken, doch das Publikum ist unerbittlich, immer wieder will es seinen Helden sehen und selbst als dieser schließlich nicht mehr erscheint, gehen viele nicht gleich nach Hause, sondern schlagen weiter ihre schon ganz tauben Hände ineinander. Und so dauert es lange, bis sich die Zuschauer schließlich aufmachen und sich, nachdem sie Mantel und Jacken von der Garderobe geholt haben, in den Straßen der Stadt verlaufen.
Schau steht derweil vor seinem Spiegel mit dem Sprung in der Mitte und wischt sich das bisschen Schminke, das er trotz seiner Begabung braucht, vom Gesicht. Doch mit der Kosmetik verschwindet auch der letzte Rest seiner Rolle. Jetzt ist er wieder er selbst und er ist kein Mann von Größe; er ist klein und steht gebückt vorm Spiegel, die Schultern hochgezogen. Auch sein Blick hat sich völlig gewandelt; zuvor voll von Leben und Energie, ist er nun leer.
Er blickt noch einmal in den Spiegel. Das Gesicht, das er sieht, hat nur noch entfernte Ähnlichkeit mit dem, welches das Publikum von ihm kennt. Gut, die Haare sind die Gleichen, noch immer feinsäuberlich über den Schädel nach hinten gegelt; auch die deutliche Zeichnung seiner Wangenknochen, die schmale Nase und das Kinn mit dem Grübchen sind noch wie auf der Bühne. Aber es scheint doch, als sei alles ein wenig nach unten gesackt, als laste die Schwerkraft stärker auf diesem Gesicht als zuvor. Die Wangen hängen schlaf herunter. Der vormals keck geschwungene Schnurrbart, mit seiner Autoritätswirkung, hat alle Kraft verloren und seine Enden beugen sich nach unten. Ja, dieses Gesicht scheint einem anderen Menschen zu gehören, als dem, der auf der Bühne stand und die Menge verzauberte. Aber es ist Schaus wahres Gesicht. Die Autorität, die Spannung – alles nur mühselig antrainiertes Blendwerk. Im wahren Leben ist Schau ein gebeugter Mann, über den der Blick hinweg gleitet, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
Er seufzt. Dann lässt er sich auf den billigen Stuhl fallen, dem einzigen Möbelstück außer einem alten Kleiderspind im ganzen Raum. Er packt seinen Hinterkopf und streckt den Nacken, um die Kopfschmerzen zu vertreiben, die ihn nach jedem Auftritt ebenso befallen, wie die Verspannungen in Rücken und Schultern. Doch es hilft nichts, das Stechen im hintern Schädel, knapp über dem letzten Wirbel, das er so gut kennt, bleibt. Schau schließt die vor Müdigkeit brennenden Augen.
Auf dem Gang vor seiner Umkleide kann er die anderen Schauspieler hören, wie sie sich unterhalten und dabei auf so unbeschwerte Weise lachen, wie es ihm nur auf der Bühne gegeben ist.
Ihr habt es gut, denkt Schau, für euch fängt der Tag jetzt erst richtig an, ihr zieht los in die Kneipen, Clubs und Discos der Stadt; für mich dagegen ist es vorbei, ich gehe nach Hause, um allein noch ein wenig Musik zu hören und dann geh ich einsam zu Bett.
Traurig schüttelt er den Kopf.
Schau bleibt sitzen, bis er die anderen Schauspieler nicht mehr hören kann, dann steht er auf, zieht sich um und geht.
Die Straße ist still, still und leer. Kein Mensch wandelt hier außer Schau. Natürlich ist die Stille nicht vollkommen, von einer großen Verkehrsstraße, einige Kreuzungen weiter, hört man das Rauschen des Autoverkehrs und irgendwo läuft laute Musik, aber diese Geräusche scheinen fern und ohne Belang. Auch ist es, abgesehen von einigen Straßenlaternen, dunkel. Schau liebt das Dunkle der Nacht; es gibt den Dingen mehr Freiheit als das grelle Sonnenlicht. Am Tag sind alle Linien klar gezeichnet und die Grenzen hart. In der Nacht dagegen wird alles weich, die Konturen fließen ineinander, verlieren ihre Bedeutung und man kann nicht mehr genau sagen, wo noch das eine ist und wo schon etwas neues anfängt; es ist alles eins. Und weil er die Dunkelheit liebt, verabscheut Schau die Straßenlaternen, die mit ihrem Licht die Dinge wieder in das Korsett des Tages zwingen.
Es ist kalt. Ein beißender Wind treibt dünne Schneeschleier über die Straße. Die Schneedecke ist noch dünn, sodass zwischen dem Weiß auch immer wieder der schwarze Asphalt zu sehen ist; nur an den Bordsteinen hat der Wind den Schnee zu Verwehungen aufgehäuft und dort läuft Schau. Denn wie die Dunkelheit liebt er auch den Schnee und zwar aus dem selben Grund, auch der Schnee nimmt den Dingen ihre Härte.
Schließlich erreicht er das Ende der Straße und biegt nach links in eine Neue ab. Hier ist es nicht mehr so still und leer. Zwei, drei Gestalten laufen, dick vermummt, auf dem Gehweg; ein Auto erwacht ratternd zum Leben und seine Scheinwerfer schneiden Streifen in die Nacht. Aus einer schmuddeligen Kneipe fällt Licht auf den Gehsteig. Als Schau vorbei geht, sieht er einige Männer mit langen Bärten und fettigem Haar, in abgetragener Kleidung, am Tresen sitzen, ein Jeder mit einem Bier vor sich. Es sieht aus, als hätte das Leben sie vergessen und wäre ohne sie weiter gezogen und nun sitzen sie alle in der Kneipe und trinken einsam ihr Bier und der Barkeeper, der genauso einsam ist, schenkt ihnen ein Neues ein, wenn das Alte leer ist. Von dort drinnen kommt auch die laute Musik, die in die stille Straße hinüber geweht ist. Es ist irgendwas rockiges, lebendiges, als versuche der Besitzer der Kneipe damit darüber hinwegzutäuschen, dass bei ihm nur die Einsamen zechen und niemand sonst.
Schau geht weiter.
Am Ende läuft ihm ein Mann, von links kommend, direkt vor die Füße. Schau - zu versunken in sich selbst, um ihn zusehen - läuft in den Mann hinein.
„Entschuldigen sie. Tut mir wirklich Leid.“
„Ist ja nichts passiert.“
Der Mann lächelt Schau an und dieser erschrickt zutiefst. Er kennt den Mann, er kennt ihn aus dem Publikum der heutigen Vorstellung. Bei einer seiner vielen Verbeugungen, als er den Rücken am weitesten gekrümmt hat und daher nicht vom Scheinwerferlicht geblendet wurde, hat er diesen Mann gesehen; er erkennt seine Züge wieder, die Augen, die vor Bewunderung geleuchtet haben, die scharfe Nase, das weiche Kinn und der leichte Ansatz zur Glatze.
„Es ist wirklich nichts passiert. Mir geht es bestens.“
Der Mann glaubt offenbar, dass Schau ihn wegen dem Zusammenstoß so erschrocken ansieht. Doch den Schauspieler entsetzt viel mehr das Nichterkanntwerden, denn der Mann sieht ihn zwar lächelnd an, aber ohne zu merken, dass er vor Schau steht, dem Theatervirtuosen, den er vor einer Stunde noch ehrfürchtig bestaunt hat.
Der Mann lächelt noch einmal unsicher und geht dann weiter. Schau bleibt stehen, zutiefst getroffen. Er ist nicht erkannt worden und das von einem Zuschauer aus der ersten Reihe.
Wenn nicht einmal er mich erkennt, denkt Schau, wie weit muss ich dann von dem Mann, den ich heute gemimt habe, entfernt sein, wie unbedeutend, klein und verloren muss ich aussehen. Es ist ein Schlag für Schau und er wankt unter ihm, nicht äußerlich, aber in seiner Seele. Zum ersten Mal wird ihm die Erbärmlichkeit seines Lebens außerhalb des Theaterspiels gezeigt. Sicherlich, er hat sie davor schon geahnt, aber bis jetzt konnte er sich eine gewisse Hoffnung bewahren, dass er sich täusche. Aber dieser Mann hat es bewiesen und zur feststehenden Tatsache gemacht – Schau ist ein Nichts.
Schließlich geht er wieder. Als er zwei Straßen weiter erneut an einer Bar vorbei kommt, bleibt er stehen und sieht, durch die verdreckte Scheibe, in den hell erleuchteten Raum. Wie sehr sie sich doch von der unterscheidet, die er vorher gesehen hat. Keine Spur von Traurigkeit. Alles lacht und scherzt. Auch sitzt niemand allein; jeder scheint irgendwen zu haben mit dem er trinkt, mit dem er derbe Witze und Anekdoten austauscht. Und alle haben sie rotfleckige Wangen und leuchtende Augen. Selbst die, die zu viel getrunken haben und beinahe einschlafen vor ihrem Bier, lächeln noch und wirken fröhlich, trotz ihrer Müdigkeit. Einer von ihnen müsste ich sein, denkt Schau, dann wäre das Leben erträglich; ich müsste nur einer von ihnen sein. Er geht zur Tür und betritt die Kneipe. Drinnen ist die Luft heiß und stickig von den Ausdünstungen und er Wärme der Menschen; beinahe wie in einem Viehstall. Es riecht nach Bier; nach Bier in Gläsern; nach Bier in Bärten; nach Bier auf dem Tisch und auf dem Boden.
Schau steht an der Eingangstür, unsicher, ob er nicht besser wieder gehen soll; diese Welt ist ihm so fremd geworden seit seiner Jugendzeit. All diese Menschen, sie bilden eine Menge, eine Menge in der niemand für sich allein lebt; nur Schau steht als Individuum da, denn er unterscheidet sich von ihnen durch das tiefere Verständnis der Einsamkeit und durch die Schwäche dieses Verständnis zu ertragen. Doch dann kommen neue Gäste herein und er muss ihnen in den Raum hinein ausweichen. Da er nun vollständig im Raum steht, kommt es ihm unmöglich vor, gleich wieder zu verschwinden und so geht er zur Theke, wo er sich auf einen der wenigen freien Barhocker setzt. Er bestellt ein Bier. Doch als einer der beiden jungen, flinken Kellner ihm sein Glas hinstellt, nippt Schau nur ein wenig am Schaum.
Der einzige Raum der Kneipe ist sehr weitläufig. Überall stehen kleine, runde Tische, ein jeder umgeben Stühlen und auf den Stühlen sitzen die Menschen und trinken und lachen. Auffällig an den Tischen ist, dass sie keinen festen Platz zu haben scheinen, sondern immer da hin geschoben und getragen werden, wo man sie gerade braucht und so ist es ein ständiges Herumrücken.
Die Wände des Raumes werden von zahlreichen Werbeschilder für alle Arten von Getränken geziert; die meisten von ihnen preisen Guinness oder Cola an. Der Tresen an dem er sitzt ist aus dunklem, speckigem Holz, das in der trüben Beleuchtung stellenweise glänzt. Hinter der Theke hassten die beiden jungen Kellner hin und her, füllen Gläser und stellen sie, immer wissend wer was bestellt hat, vor die Empfänger. Die Wand hinter den beiden wird von einem Regal eingenommen, auf dem sich, neben den unterschiedlichsten Gläsern, ein Sammelsurium an Schnäpsen, Likören und anderen Spirituosen aufreiht. Und über all dem breitet sich der Lärm aus. Es ist ein Geschrei und Gelächter. Wieder und wieder werden lautstark immer gleiche Trinksprüche durch den Raum gegrölt. So laut ist es, dass die Musik – die gleiche wie in der Kneipe der Einsamen: laut, rockig, voller Leben – kaum noch zu hören ist; sie verschwindet im allgemeinem Geräuschknoten.
Es hat nicht funktioniert. Schau gehört nicht zu der fröhlichen, lachenden Menge und er wird es auch dann nicht tun, wenn er ein Bier getrunken hat; selbst wenn aus dem einen zwei werden oder drei. Er wird nur noch trauriger werden und immer mehr in sich zusammen sacken, bis er schließlich halb auf der Theke liegt. Dort wird er dann bleiben und darauf warten, dass die Kneipe schließt und man ihn rauswirft. Was will ich hier?, denkt Schau. Was will ich hier finden? Es ist besser, wenn ich austrinke und gehe. Nein, noch besser ist, ich gehe gleich und lasse das Bier stehen.
Während Schau so denkt, eskaliert hinter ihm ein Streit, dessen eigentlich nichtiger Anlass durch den Alkoholkonsum der beiden Streiter eine Überhöhung ins empfindlich Beleidigende erfährt, sodass einer der beiden Männer seinen Kontrahenten, nach einigen, vorangehenden Stößen gegen die Brust, niederschlägt. Der Getroffene stürzt nach hinten, reißt dabei einen Tisch mit sich und Bier und zersplittertes Glas spritzt umher. Schon ist einer der Kellner zur Stelle; doch er braucht gar nicht mehr einzugreifen, denn der Mann am Boden steht, offensichtlich vom Schlag zur Vernunft gebracht und unter Klatschen und Gejohle der umstehenden, wieder auf, geht zu seinem Kontrahenten und klopft diesem auf die Schulter. Anschließend nimmt er sich von einem der Tische ein Bier und verschwindet wieder im allgemeinen Gewühl. Das ganze läuft so schnell ab, dass, als Schau sich nach dem Tumult umsieht, nur noch der Kellner und der Sieger des Streites zu sehen sind; dieser starrt in die Menge, in der sein Gegner verschwunden ist, die Faust noch immer geballt, während jener mit einem Wischmopp die Scherben und das Bier aufwischt. Schau denkt, während er den Sieger beobachtet: diese Größe, so wie er müsste man das Leben nehmen, immer bereit zum Kampf und keine Rückschläge dulden; dabei spannt sich sein Körper, wie zum Versprechen, das Gedachte auch wirklich zu leben.
Dann setzt sich der Gewinner wieder an einen der Tische. Und Schau sieht, zu gleich fasziniert und entsetzt, dabei zu, wie der Mann sich verändert, kaum, dass er wieder unbeobachtet, mit seinem Bier in der Hand, dasitzt. Jegliche Spannung fällt von ihm ab, die Schultern sacken ab, der Rücken krümmt sich, ja, sogar die zuvor so strahlenden Augen verlieren ihren Glanz. Da sitzt ein Versager, einer Versager wie Schau; nur der Zorn hat ihm einen kurzen Augenblick der Größe gewährt, der schon wieder vorbei ist.
Und Schau erschrickt zum zweiten Mal an diesem Abend. Heftiger noch als bei dem Zusammenstoß mit dem Mann und dem Beweis seiner eigenen Nichtigkeit. Er kennt diesen Mann; es ist sein alter Klassenkamerad Martin.
Ich habe ihn nicht erkannt! Bis gerade eben habe ich nicht gewusst, dass er es ist. Dabei ist gar kein Zweifel daran, dass er es ist. Ich habe ihn nicht erkannt; und zwar aus demselben Grund, aus dem mich auch der Mann aus der ersten Reihe nicht erkannt hat: Martin hat sich nicht so benommen, wie ich ihn kannte, er war einen Moment lang nicht der klägliche, sich ständig duckende Außenseiter, als den ich ihn immer sah. Vielleicht hat er zum ersten Mal nicht eine Rolle gespielt, war nicht ein Schauspieler -wie wir es wohl alle sind, aus Feigheit, aus Angst vor der Wahrheit – vielleicht war er zum ersten Mal einfach er selbst. Und ich habe ihn nicht erkannt.
Schau steht auf und geht.