Der Schelm
Die Kolonne schleppte sich zur Arbeit, wie jeden morgen. Das Grau des Himmels rührte von den nahegelegenen Industriestätten her, deren Schlote unablässig qualmten, des Tags ebenso wie des Nachts. Am Rande des Weges war der übliche Müll der Zivilisation gesammelt: Joghurtbecher, Plastiktüten, Träume, allesamt grau in grau. Die elektrischen Zäune trennten die Arbeiter von den Gärten der Kapitalisten, die sich allerdings nur darin vom Rest der asphaltierten Städte unterschieden, dass weniger Müll auf ihnen zu finden war.
In letzter Zeit allerdings war Müll en vogue, weshalb das einzige wirkliche Unterscheidungsmerkmal die Zäune waren, deren Existenz somit letztlich schlicht und einfach Selbstzweck war.
#1 - #23197 hatten bereits das Tor zu den Fertigungsanlagen passiert, #23198 - # 42087 warteten noch vor den gusseisernen Toren auf Einlass, um acht Stunden lang ihre Pflicht gegenüber der Gesellschaft erfüllen zu können, bevor sie das Blöken des Hornes erlösen würde, sodass sie sich wieder ihrer Selbstverwirklichung würden widmen können.
Die Älteren unter ihnen erinnerten sich noch der Zeiten, in denen sie nicht nur Nummern waren, sondern mehr. Und dann und wann kam in jenen Teilen der Kolonne die sich vor den Toren staute ein Gespräch zwischen den wenigen nicht wegrationalisierten Alten in Gang.
Dann klopften sie sich auf die Schultern und sagten: "Damals, als wir produktiver waren", denn auch das Wort jünger galt sein langer Zeit nicht mehr als en vogue bei den Kapitalisten, und was die Kapitalisten en vogue fanden, das fanden auch die Kolonnen en vogue. "Damals, als wir produktiver waren", pflegten sie dann zu sagen "da waren wir mehr als bloße Nummern, da waren wir mehr. #2178 hier, ich weiss es noch genau, er hieß damals S192, denn er war ein Schrauber." Und die jüngeren Arbeiter nickten voller Ehrfurcht, aber auch voller Angst, denn damals war nicht alles besser gewesen, das wussten sie. Die Zeiten waren härter und der Wettbewerb anders beschaffen.
Und dann waren sie froh, da zu sein wo sie waren und das zu sein was sie waren, denn diesen Lebensstandard konnte nur das beste der möglichen Systeme bieten.
Wenn sie dann des morgens antraten, um jedes Produkt auf Perfektion zu prüfen, bevor es von den Maschinen in die harte Welt des Wettbewerbes entlassen wurde, waren sie zwar nicht glücklich, aber dennoch zufrieden, da es ihnen hätte schlechter gehen können.
Die Kolonne schleppte sich zur Arbeit, wie jeden morgen. Das Grau des Himmels rührte von den nahegelegenen Industriestätten her, doch blitzte hie und da an jenem Tage ein Sonnenstrahl hindurch, um den Tag des Wettbewerbs zu zelebrieren. Und jeder Strahl der den Asphalt und den Müll traf, liess ihr Sicherheit verheißendes Grau in einem anderen wundervollen Farbton erstrahlen. Und jedesmal da die Leute den Asphalt im Lichte schimmern sahen nickten sie und sagten: " Das hat der Wettbewerb gebracht", und sie waren froh, dass sie Straßen hatten auf denen ihre kleinen grauen Fahrzeuge gut fahren konnten.
Und an einem kleinen Park, der sich von der restlichen Stadt nur durch den Elektrozaun unterschied standen #31217 - #31284 in ihrer Kolonne, und warteten darauf, dass die Fabriktore sich öffneten, damit sie ihre Arbeit beginnen konnten. #31224 war jedoch an diesem Tag etwas zerstreut, weil der Asphalt in so vielen Farbfacetten schien. Berührt von diesem einmaligen Kulturschauspiel betrachtete er die Abfallberge am Rande der Kolonne, wo das Licht die grauen Joghurtbecher und die grauen Plastiktüten beschien, sodass er seinen grauen Träumen von seinem kleinen grauen Auto nachhängen konnte, welches er sich in näherer Zukunft zu kaufen gedachte.
Wie erschreckt war er doch, als sein Blick auf das grelle Objekt fiel, das stechend weiss und schwarz zwischen den Tüten zweier großer Discountläden lag. Und da seine Arbeit letztlich noch nicht begonnen hatte, beschloss er, es sich einmal näher zu betrachten, hatte er doch ohnehin seine Lektüre zuhause vergessen.
Für einen Arbeiter war #31224 stets ein großer Leser gewesen, und er bediente sich am reichen Angebot, das der Wettbewerb hervorgebracht hatte. Seine kleine Bibliothek umfasste fantastische Literatur, die von edlen Elfen und gemeinen Orks handelte. Sie hatte Krimis, die allesamt den raffinierten Kniff hatten, den Verdacht bis zur letzten Seite auf eine Person zu lenken, um dann auf der letzten Seite jemand völlig anderen als den Übeltäter zu entlarven. Natürlich hatte er philosophische Bücher, deren Gehalt zu großen Teilen darin bestand, aufzuzeigen weshalb der Wettbewerb in seiner jetzigen Form jeder anderen Gesellschaft überlegen war, und immer sein würde. Und sämtliche Einbände hatten dieses dezentfröhliche, nicht zu grelle grau, was #31224 besonders erfreute, da dies die Farbe seiner Wahl auch für den Rest seiner Wohnungseinrichtung war.
Nun allerdings war #31224 lektürelos, was ihn dazu veranlasste nach dem kleinen Objekt zu greifen, nur um sich sofort danach wieder in die Kolonne einzuordnen, wo er das Objekt in der Tasche seines Overalls verschwinden ließ, da das Signal ihn und seine Freunde zum Arbeitsbeginn ermahnte.
Das Stampfen früherer Zeiten war nunmehr abgelöst von einem monotonen Surren, da die stählernen Giganten es dank modernster Technik vermochten, nicht nur effizienter, sondern auch leiser herzustellen. Und zwischen seinen 43000 Freunden stand #31224 und lauschte dem Surren, während das Fließband ihm Joghurtbecher und Plastiktüten lieferte, die er mit geschulten Blicken und routinierten Berührungen auf ihre Makellosigkeit überprüfte. Das Fließband lieferte auch andere Gegenstände, aber Joghurtbecher und Plastiktüten waren ihm die liebsten, da viele der anderen Ecken und Kanten aufwiesen, die sich nicht mit seinem Sinn für Ästhetik vertrugen. Er war ein Feingeist, der Bauhaus ebenso schätzte wie Kubismus, und seine Wohnung war voll monochromer Drucke seiner Lieblingskünstler.
Die Maschine surrte, sonst herrschte Stille in der Fabrik, abgesehen vom gelegentlichen leisen Klopfen von Daumen auf Plastik oder Holz. Die Gegenstände folgten einander in ihren kleinen Kolonnen, und #31224 fragte sich manchmal, ob die Gegenstände auch Namen hatten wie er, oder seine Freunde. Manchmal gab er ihnen Namen, angefangen beim ersten des Morgens, und er taufte sie von #1 bis #20000, manchmal sogar mehr. Und dann stellte er sich vor, wie #1 bis #20000 die Fabrik verließen und sich trennten, um in alle Welt verschifft zu werden, wo sie zu nützlichen Plastiktüten oder Joghurtbechern wurden, aus denen kein Tropfen Joghurt ob seiner gewissenhaften Kontrolle je entwich.
Seine Arbeit hatte einen Sinn, und das machte ihn glücklich, genau wie jeder einzelne Becher und jedes einzelne Objekt ihn erfreuten, brachten sie ihn doch den Zielen die er sich in seinem Leben gesetzt hatte näher.
Die Lebenspläne #31224s waren bescheiden, er wünschte sich nur ein etwas größeres Auto und vielleicht eine etwas größere Wohnung, vielleicht etwas näher an einem Park der Fabrikbesitzer. Was die Fabrikbesitzer taten war stets en vogue, also mussten ihre Wohnhäuser auch en vogue sein. Und je näher man sein eigenes Grundstück an einem der ihrigen hatte, umso beliebter und glücklicher war man.
#31224s Verstand wurde überstiegen von der Vorstellung, wie glücklich man sein musste, wenn man in den Parks, jenseits der Elektrozäune lebte. Zwar erschienen sie nicht anders als der Rest der Welt, dennoch gab es die Zäune, was sie bereits zu etwas besonderem machte.
An diesem Tag jedoch nummerierte er keine Objekte,war er doch mit tiefschürfenderen Gedanken beschäftigt, die sich allesamt um das Objekt in der Tasche seines Overalls drehten.
Am Abend dann ging er in seiner Kolonne nach Hause, wo er sich, ohne es an der nötigen Sorgfalt beim Zusammenlegen seiner Kleider mangeln zu lassen, auszog und an den Küchentisch setzte. Er war froh, einen gräulichen Teint zu haben, denn jegliche dunklere Farbe hätte das komplette Konzept seiner Wohnung gestört, ebenso wie vermutlich das komplette Konzept der Stadt.
So saß er denn an seinem Tischlein und wendete das Objekt mit Verwirrung und Ehrfurcht. Als er jung war, so erinnerte er sich, hatten die Alten die damals schon alt waren erzählt.
Er erinnerte sich genau.
Damals hatte sich die Kolonne zur Arbeit geschleppt, wie jeden morgen. Dass das Blau des Himmels nur trüb zu sehen war, lag an den Industriestätten leicht ausserhalb der Stadt.
Die Alten standen manchmal zusammen, wenn es sich ergab, was schon damals selten war, da man sie für gewöhnlich wegrationalisierte und redeten über ihre Kindheit.
Manchmal, wenn sie ausserhalb der Kolonne ihrer Freizeit nachgingen, kamen sie auch zu ihm und sagten: "Damals, als ich noch jünger war", denn als #31224 jung war, war es noch nicht en vogue nicht jünger zu sagen. "Damals, als ich jünger war", pflegten sie dann zu sagen, "da waren wir noch mehr als bloße Buchstaben und Zahlen. M12 hier, ich weiss es noch genau, hieß Peter Maler, denn er war dafür zuständig den Dingen die Farben zu geben." Und dann staunte #31224 stets und riss die kleinen Äugelein weit auf und fragte Dinge wie: "Was waren das, die Farben?".
Er entsann sich, dass die Zeiten glücklicher gewesen waren. Aber damals war er ein Kind gewesen und konnte noch nicht erkennen, wie schlimm es um die Welt stand ohne die Errungenschaften die der Wettbewerb seitdem gebracht hatte. Und es war schlimm, das stand auch in seinen grauen Büchlein.
Und als es dunkler wurde, und das trübe Sonnenlicht dem flackernden Licht verbrennender Gase wich, schaltete #31224 sein Licht an und öffnete den Kasten, in dem sich mehrere kleine Döslein befanden. Und in einem der Döslein war ein Rest orangener, fester Pigmente. Noch bis es Zeit für ihn wurde ins Bett zu gehen starrte #31224 das Döslein an und erfreute sich der Farben, die es ihm darbot. Schließlich legte er sich zur Ruhe, um sich am nächsten Tag abermals in die Kolonne einzuordnen, diesmal jedoch mit seinem neuen Glücksbringer in der Brusttasche.
Als sich die Kolonne am nächsten Morgen zur Arbeit schleppte, waren alle zufrieden mit den Dingen, die ihnen der Wettbewerb beschert hatte. Die einen waren dankbar, dass sie das neue Automobil hatten erwerben können, die anderen waren glücklich, einen Beruf zu haben und nicht abhängig von den Unsicherheiten vergangener Zeiten zu sein. Einer jedoch war im Augenblick schlicht und einfach glücklich über das kleine Objekt in seiner Brusttasche.
Und als #31224 die Produkte seiner Firma auf Qualität prüfte, dachte er nur an seinen kleinen Schatz, der ihm solche Freude bereiten würde, sobald er wieder freie Zeit hatte. Einmal gar riskierte er einen Blick während der Arbeit, nachdem er sich vergewissert hatte, dass niemand ihm zusah.
Als er heimkehrte, legte er die flache Dose wieder neben das Objekt, dem er es entnommen hatte. Dann nahm er das rechteckige Objekt, dass ihm trotz des starken schwarz/weiss Kontrastes zu gefallen begann und drapierte es auf besondere Art und Weise neben dem anderen Müll in seinem Vorgarten, bevor er sich wieder die verbliebenen orangenen Pigmente betrachtete, die ihm so gefielen. Eine Weile dachte er darüber nach, Musik zu diesem Farbspektakel zu hören, bevor ihm klarwurde, dass seine Musik eher das äquivalent eines Grau war. Alle seine CDs waren voller poppiger, eingängiger Rhythmen, denen digital jede kleinste Störung und auch der kleinste Fehlton genommen wurde, sodass er in den vollen Genuss des Klanges kommen konnte. Das war bisher stets adäquat gewesen, nun jedoch sehnte er sich nach etwas anderem, dass in der Lage war, dem Orange auf seinem Küchentisch eine angemessene Begleitung zu bescheren. Da er allerdings nichts besaß, und auch von nichts gewusst hätte, das dieses Kriterium erfüllt hätte, begnügte er sich damit, das Orange zu erfühlen und sogar zu schmecken. Nachdem allerdings das Orange mit seinem Speichel in Berührung gekommen war, begann es abzufärben, was #31224 im ersten Moment erschrak, dann jedoch entzückte. Er feuchtete seinen Finger mit Speichel an und drückte ihn dann in die Pigmentmasse, nur um dann Abdrücke auf seinen liebsten grauen Gegenständen zu hinterlassen. Er wusste zwar, dass dies nicht gern gesehen und schon gar nicht en vogue war, aber dennoch war er zu fasziniert von der Leuchtkraft der Farbe, um abzulassen.
Als nur wenig verblieben war, ließ er ab um sich in sein graues Bett zu begeben. Sein graues Bett mit dem orangenen Fingerabdruck am linken vorderen Bein.
Die Kolonne schleppte sich zur Arbeit, und nur #31224 schleppte sich nicht, sondern wippte vergnügt auf und ab, während er ein Lied pfiff, dass er aus seiner Kindheit, als alles noch schlechter war zu kennen glaubte. Es war nicht digital nachbearbeitet und von Fehlklängen befreit, weshalb sich einige der Jüngeren beschwerten, aber das kümmerte ihn nicht. Der Wettbewerb hatte alles frei gemacht, und in seiner Freizeit durfte er auch etwas pfeifen wenn ihm danach war. Der Grund seines Vergnügens war der kleine Streich, den er vorbereitet hatte.
Als das Signal ertönte, war es das erste Mal, dass #31224 glücklich und nicht bloß zufrieden war als er die Fabrik betreten konnte. Wie üblich begann er seine Qualitätskontrolle, von Zeit zu Zeit jedoch berührte er mit einem angefeuchteten, pigmentierten Daumen die Becher und Tüten, sodass eine schwache,orangene Spur seiner Anwesenheit zurückblieb. Und eines Tages, dessen war er sich gewiss, würde er, wenn das Orange schon längst versiegt wäre, eine seiner unzerstörbaren, makellos qualitätsgeprüften Tüten an einer Kasse hängen sehen, und dann würde er der Kassiererin in ihrem grauen Overall zulächeln und sagen: "Das war ich.".
Er wusste jetzt schon, sie würde nicht zurücklächeln,denn Lächeln war selten einmal en vogue. Sie würde sagen "82 Pence." und den Einkauf von seiner kleinen grauen Karte abbuchen. Aber er würde lächeln, dessen war er sich gewiß. Und vielleicht würde er einmal einer der Älteren sein, die den jüngeren der Kolonne von sich erzählten, oder sich untereinander unterhielten.Aber er hätte dann sogar einen Beweis seiner glorreichen Jugend, eine graue Tüte mit einem kleinen orangenen Punkt.
Er war ein Schelm.