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Der Scherbensortierer

kaj

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03.12.2004
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Der Scherbensortierer

Der Scherbensortierer

In einem fernen Land, in einer fernen Zeit, so fern, dass ihr niemals dorthin gelangen werdet, gab es einmal einen Scherbensortierer. Tagein und Tagaus tat er nichts anderes, als die Scherben menschlicher Existenzen zu sortieren, die unablässig durch ein Loch in der Decke in seinen Keller fielen. Da gab es die zerschlagenen Hoffnungen, die in eine große Holzkiste ganz rechts kamen, die gescheiterten Lieben im Regal auf der linken Seite, die geplatzten Träume, die er in einer Glasschüssel aufbewahrte. Sogar für zerbrochene Überzeugungen und gesprungene Wünsche gab es einen eigenen Platz.

Der Scherbensortierer liebte seine Arbeit. Wenn die Sonne auf den Scherbenhaufen fiel, glitzerte er in allen Farben, die man sich denken kann. Er besaß große und kleine Scherben, fast rund gewaschene und solche mit scharfen Kanten. Er hatte feine Kristallsplitter und breite, dicke Scherben, die so schwer waren, dass er Muskelkater bekam, wenn viele von ihnen an einem Tag geliefert wurden. Er liebte seine Scherben in ihrer Unvollkommenheit und hatte ganz vergessen, dass sie einmal zu etwas Ganzem gehört hatten, das noch viel schöner gewesen sein musste als die einzelnen Scherben es jetzt waren. Er hatte auch ganz vergessen, dass jede seiner Scherben einmal einem Menschen gehört hatte und in ihm zerbrochen war. Er war so sehr mit seinen Scherben beschäftigt, dass er darüber die Menschen ganz vergaß.

Doch eines Tages trug es sich zu, dass ein kleiner Junge in den Keller des Scherbensortieres herabstieg. Es war ein magerer kleiner Junge, höchstens zehn Jahre alt, mit dünnen Ärmchen, Beinen wie Stelzen und dem Gesicht eines alten Mannes.

Der Scherbensortierer, der schon seit langer, langer Zeit mit niemandem mehr geredet hatte, blickte kaum von seiner Arbeit auf. „Was willst du?“, knurrte er.

„Ich möchte meine Kindheit zurück“, sagte der Junge.

„Tut mir leid.“ Der Scherbensortierer kramte ungerührt in der Schüssel mit den geplatzten Träumen. „Ich führe keine Kindheit. Hier gibt’s nur Scherben – und die verkaufe ich nicht.“

„Die Kindheit“, beharrte der Junge und sah den Scherbensortierer aus großen traurigen Augen an, „meine Kindheit.“

„Ich kann dir nicht helfen.“ Der Scherbensortierer wandte dem Kind seinen breiten Rücken zu und betrachtet eine besonders schöne, zartviolette Traumscherbe.

„Aber Sie haben doch all die zerschlagenen Hoffnungen hier, die geplatzten Träume und die zerbrochenen Überzeugungen. Und die Scherben meiner Kindheit, die haben Sie nicht?“ Dem Jungen stiegen die Tränen in die Augen.

Endlich sah der Scherbensortierer auf. „Was ist denn mit deiner Kindheit passiert?“, fragte er zögernd.

„Sie haben sie mir weggenommen.“ Trotzig starrte der Junge durch die Schleier seiner Tränen. „Haben mir ein Gewehr in die Hand gedrückt, mich an die Front geschickt und mich gezwungen, auf andere Kinder zu schießen.“

Der Scherbensortierer schwieg. Nachdenklich ließ er den feinen Kristallstaub der zerschlagenen Hoffnungen durch seine Finger rinnen. „Wo haben sie sie hingebracht?“, fragte er schließlich.

Der Junge zog die Schultern hoch. „Deshalb bin ich hier. Weil ich es nicht weiß.“ Seine Mundwinkel zuckten verdächtig.

Jetzt erst bemerkte der Scherbensortierer die tiefen Falten, die sich in das Gesicht des Kindes gegraben hatten und es so viel älter erscheinen ließen. Er schwieg, denn er konnte sich nach den Jahren und Jahrtausenden der Einsamkeit nicht mehr daran erinnern, wie man einen Menschen tröstet.

„Ich dachte, sie haben meine Kindheit in tausend scharfe Splitter zerschlagen“, fuhr der Junge fort. „Und sie ist wirklich nicht hier?“ Wieder liefen Tränen der Verzweifelung über das kleine Gesicht mit den traurigen Augen.

Langsam ging der Scherbensortierer durch den Raum, steuerte auf einen Korb zu auf dem mit ungelenkt anmutenden Buchstaben SONSTIGES geschrieben stand. Er griff hinein und breitet eine Handvoll Scherben auf dem kalten Steinboden aus. Die Scherben klirrten leise und da es inzwischen dunkel geworden war, glitzerten sie gespenstisch im Mondlicht, das durch ein Kellerfenster in den Raum schien.

Der Junge, der in düsteren Gedanken gefangen auf dem Boden hockte, sah auf. Sein Blick fiel auf einige feine Splitter, die das Mondlicht weiß-gelb reflektierten und Lichtpunkte an die Decke zauberten. „Meine Kindheit!“, rief er und mit einem Mal schien sein Gesicht wieder ganz jung und glatt zu sein. Der kleine Junge sprang auf, hob die Splitter vom Boden auf und warf sie in die Luft. Flirrend schwebten sie durch den Keller, Farbreflexe auf Decke, Wände und das Kind werfend.

Der Scherbensortierer stand ganz still und staunte. Wie schön der Junge aussah! Mit leuchtenden Punkten übersät, den Kopf in den Nacken geworfen, lachend. Seine Augen funkelten aus dem kleinen Gesicht wie tausend Sterne. So viel schöner als die bloße Reflektion der Scherben waren diese Augen, so viel schöner!

Da erinnerte sich der Scherbensortierer plötzlich. An die Menschen, die laut lachten und deren Augen Funken sprühten. Und an die Menschen, die weinten, verzweifelt waren; gerade dann, wenn eine besonders schöne Scherbe durch das Loch in der Decke des Kellers fiel. Und mit einem Mal wurde ihm bewusst, dass der Preis für seine Scherben ein hoher war; dass Menschen unglücklich sein mussten, damit er Scherben bekam, die in allen Farben glitzerten, die man sich denken kann.

Und als er den Jungen erneut ansah, wie er durch den Keller tobte, das Gesicht so jung, die Augen so strahlend, wusste er mit einem Mal, was er zu tun hatte. „Magst du mir helfen?“, fragte er und das Kind, das der Tonfall aufhorchen ließ, blickte ihn erwartungsvoll an, aus großen, nicht mehr traurigen Augen.

„Du hast mir geholfen und jetzt helfe ich dir!“ Die Stimme des Jungen klang entschlossen und fest. „Was soll ich tun?“

„Ich hatte ganz vergessen, dass es Menschen gibt dort draußen und dass es ihnen schlecht geht, wenn etwas in ihnen zerbricht.“ Der Scherbensortierer sprach langsam, zögernd, so als müsse er seine Stimme erst erproben. „Ich hatte vergessen, dass all diese Scherben hier nicht mir gehören. Erst du hast mich mit deiner Hartnäckigkeit daran erinnert.“

Der Junge schwieg, umfuhr mit den kleinen Händen vorsichtig die scharfen Kanten seiner Kindheit.

„Ich denke, es ist unsere Pflicht, meine Pflicht, den Menschen ihre Scherben, all ihre Hoffnungen, Träumen, Wünsche zurückzubringen“, fuhr der Scherbensortierer fort. „Denn mir ist jetzt klar, dass das Funkeln der Augen eines Menschen sehr viel mehr wert ist als noch so schöne Scherben. Wirst du mir helfen?“ Erwartungsvoll blickte er den Jungen an.

Das Kind nickte, erst zögernd, dann immer heftiger. „Ja“, sagte es und machte sich auf den Weg zu der Glasschüssel mit den geplatzten Träumen. „Ich fange gleich an.“ Und der Scherbensortierer lächelt ein stilles, glückliches Lächeln bevor er sich daran machte, die zerbrochenen Überzeugungen wieder zusammenzufügen.

 

Hey kaj,

oh.. *schnief*
Die Geschichte ist wirklich schön, die Idee ist gut, auch die Umsetzung toll. Mir sind noch ein paar Formulierungen aufgefallen, die ein wenig holpern, auch finde ich die Sprache der Charaktere stellenweise zu ausformuliert und unwirklich. Vielleicht liest du dir den Text noch mal laut vor? Auf die Art findest du solche Stolpersteine schneller.
Aber alles in allem eine schöne Geschichte, nett für zwischendurch, liest sich flüssig in einem Rutsch weg.

gruß
vita
:bounce:

 

Aloha, kaj!

Deine kleine Erzählung ist wirklich gut, in Idee und Umsetzung. Auch die Formulierungen und der Satzbau treffen so ziemlich meinen Geschmack, allerdings ist da ein Satz, der wirklich sehr umständlich wirkt. Wie dem auch immer sei, ich habe die Lektüre genossen. :)

Dinge, die mir auffielen:

... das noch viel schöner gewesen sein musste als die einzelnen Scherben es jetzt waren.
musste als -> musste, als

Langsam ging der Scherbensortierer durch den Raum, steuerte auf einen Korb zu auf dem mit ungelenkt anmutenden Buchstaben SONSTIGES geschrieben stand.
Raum, steuerte -> Raum und steuerte
zu auf -> zu, auf
ungelenkt -> ungelenk

Der kleine Junge sprang auf, hob die Splitter vom Boden auf und warf sie in die Luft.
Boden auf und -> Boden und (2 'auf' dicht hintereinander)

Wie schön der Junge aussah!

Nicht falsch, aber 'glücklich' statt 'schön' macht sich m.E. besser.

Seine Augen funkelten aus dem kleinen Gesicht wie tausend Sterne.
-> Seine Augen funkelten wie tausend Sterne.

So viel schöner als die bloße Reflektion der Scherben waren diese Augen, ...
-> So viel schöner, als die bloße Reflektion der Scherben, waren diese Augen, ...

... fragte er und das Kind, das der Tonfall aufhorchen ließ, blickte ihn erwartungsvoll an, aus großen, nicht mehr traurigen Augen.
er und das -> er, und das (oder: er. Das)

... und das Kind, das der Tonfall aufhorchen ließ, blickte ihn erwartungsvoll an, aus großen, nicht mehr traurigen Augen.
Mir gefallen verschachtelte Sätze, aber der hier wirkt betont umständlich.

... dass das Funkeln der Augen eines Menschen sehr viel mehr wert ist als noch so schöne Scherben.
Funkeln der Augen -> Funkeln in den Augen
ist als -> ist, als

Und der Scherbensortierer lächelt ein stilles, glückliches Lächeln bevor er sich daran machte, ...
lächelt -> lächelte
Lächeln bevor -> Lächeln, bevor

shade & sweet water
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