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Der Schlüssel zum Königreich
Rudi lebt den Sommer über im alten Bürstner neben dem Haus. Er sagt, manchmal braucht er einfach seinen Freiraum. Seine Frau Barbara ist einen Kopf größer als ich und fast zwei Köpfe größer als Rudi. Ich habe sie noch nie etwas essen oder trinken gesehen. Dafür raucht sie zwei Schachteln Marlboro am Tag.
Rudi drückt mir die Flasche Kettenöl in die Hand. Jung, das brauchste selbst auch. Geh dir doch mal besorgen so ne Pulle, kost doch nix.
Ich nicke. Dank dir erstmal.
Im offenen Metallregal liegen zwei STIHL-Sägen nebeneinander.
Machste denn so viel Holz?
Rudi schüttelt den Kopf. Wieso? Was meinste?
Hast da zwei große Kettensägen.
Nee, Jung, ich hab von allem zwei.
Zwei Sägen meinste.
Nee, nich nur zwei Sägen, ich mein von allem: ich hab auch zwei White Hunter und zwei Generatoren. Er hebt die Augenbrauen. Jung, wenn mal was kaputtgeht, was dann? Dann musste rumlaufen und wen anders fragen. Aber ich muss das nich, verstehste? Ich bin unabhängig … das is ja das, was ihr nich mehr kennt oder wollt, unabhängig sein.
Rudi, sag mal, aber wenn du alles zweimal hast … haste auch zwei Barbaras?
Dazu sag ich jetzt nix, Freundchen. Nur eins: Noch bin ich nicht tot!
Rudi hat den goldenen Schlüssel für das Königreich Belgien. Ich habe zuerst nicht verstanden, wie er das meint. Er hat dreißig Jahre für den Forst gearbeitet und sich kurz vor der Rente alle Blätter nachmachen lassen, was natürlich hochgradig illegal ist. Gleich hinter dem Haus schließt ein schmales Stück Land an, das Rudi “meinen Garten” nennt, obwohl dort nichts außer Riedgras wächst. Am Ende des Gartens steht ein hoher Metallzaun mit eingefasster Tür. Dahinter liegt ein großes Naturschutzgebiet, das sich bereits auf belgischem Boden befindet. Es ist über tausend Hektar groß und es gibt viel Wild, vor allem starke Rothirsche.
Wann nimmst du mich mal mit ins Königreich, frage ich Rudi.
Er lacht. Hast du eigentlich ne Büchse?
Ne alte Mauser, die ist giftig wie ne Schlange!
Kaliber?
Infanterie Spitz.
Auch n Schalldämpfer?
Nee.
Im Königreich brauchste aber ne Flüstertüte, is doch klar. Kannst eine von Barbara’s Büchsen haben, die hat ne .308, die tritt nicht so, und da is vorne auch was drauf.
Klingt gut.
Dann machen wir das so … kommste morgen früh einfach mal mit.
Ich nicke. Wann willste denn los?
Na ja, auf jeden Fall, bevor die Sonne aufgeht … fünf Uhr müssen wir rüber. Dann zeigt er auf die Flasche in meiner Hand. Und besorg dir mal eigenes Kettenöl! Mensch, ehrlich, kann doch nich sein.
Ich gehe über die Straße, weiter auf den Hügel, den hier alle nur Monte Dung nennen, und auf dem das kleine Steinhaus steht, in dem ich seit drei Monaten lebe. Der Hügel hat den Namen erhalten, weil die Kühe, die hier früher grasten, angeblich immer auf den Grat geschissen haben. Rudi scherzt, das Haus stünde auf einem Fundament aus trockener Kuhscheisse und könnte jederzeit über mir einstürzen. Anfangs hielt er mich für einen Arzt. Ich habe ihn gefragt, warum er das glaube, und da hat er geantwortet, weil mein Gesicht so fein aussähe, viel feiner als das von den ganzen Bauern hier. Danach hat er nie wieder etwas in dieser Richtung gefragt. Ich würde ihm die Wahrheit sagen, und ich glaube, das weiß er auch.
Ich stelle das Kettenöl auf die Bank. Im Haus gibt es kein fließendes Wasser und auch keine Heizung, nur einen alten Ofen. Bald beginnt der Winter. Ich habe eine Milwaukee-Kettensäge, die Mauser und mein altes Böker mitgenommen; die Sachen, die ich bei mir trug. Dem Bauern, dem das Haus gehört, zahle ich einen Hunderter im Monat. Er findet, das sei viel zu viel, steckt es aber trotzdem jeden Ersten in das rosa Keramikschwein auf seinem Küchentisch. Drei Monate. Es fühlt sich an wie ein neues Leben.
Rudi hat mir eine seiner Tonpfeifen vermacht. Er sagt, sein Urgroßvater habe sie im Feuer gebrannt, 1880, nach damals schon alten Matrizen. Der Kopf ist so groß, dass er meinen ganzen Daumen aufnimmt. Rudi meint, ich soll um das Mundstück noch einen dünnen Faden spinnen, das würde das Rauchen angenehmer gestalten. Ich rauche die letzten Flakes aus der Dose, die ich noch im Auto gefunden habe. Der Tabak ist trocken, aber biegsam; ich knicke und falte den Flake, stopfe ihn in den Kopf, die Verse nehmen die Flamme an, der erste Rauch schmeckt nach gerade erst gemähtem Heu. Ich schließe die Augen und höre von irgendwoher eine Melodie, aber vielleicht stammt die Melodie auch aus meinem Kopf, es ist ein altes Lied, wir haben es damals in den Blue Mountains gehört, you are my pretty Fräulein, und wir haben über dieses Wort gelacht, dieses urdeutsche Wort inmitten der amerikanischten aller Landschaften.
Ich trinke das letzte Bier, eine Flasche Orval, es war ein Geschenk von Rudi, er lässt neben Orval nur Westvleteren gelten, den Gral der Biere. Man muss diese Biere wärmer trinken, nicht eiskalt wie das Kölsch im Rheinland, und Rudi kennt diesen schmutzigen Witz, den er jedes Mal erzählt: Was ist der Unterschied zwischen einem Kölsch und einem Kitzler? Der Kitzler schmeckt nur drei Sekunden nach Pisse. Ich stelle ein paar Scheite in den Ofen, entzünde ein Stück Holzwolle, strecke meine Hände der Wärme entgegen. Ich träume das ich durch ein Weizenfeld renne, meine Finger streichen über die Ähren, weiter hinten höre ich die Sauen brechen, das rasp rasp rasp ihrer Bewegungen, das dunkle, dreckverklumpte Fell zwischen den Halmen. In der Mitte des Felds tut sich ein Loch auf, so groß und tief, dass ein ausgewachsener Mann darin verschwinden könnte. Ich finde einen faustgroßen Stein in der feuchten Erde und schmeiße ihn in das Loch, warte auf den dumpfen Aufprall, es macht drei Schläge, sie klingen hohl und weit weg, wie die Glocken eines Kirchspiels in einer kleinen Stadt mit Straßen aus Kopfsteinpflaster, und dann wache ich auf und verstehe, es ist Rudi, der an meine Tür hämmert.
Ich dacht mir, gehen wir was früher, is besser, sagt er, nachdem ich die Tür geöffnet habe.
Alles klar. Warte gerade einen Moment.
Ich ziehe meine Lederhose an, die alte Real-Tree-Jacke, Gamaschen über die Stiefel. Dann packe ich die Mauser aus dem Futteral und lege sie auf die dünne Matratze. Rudi reicht mir Barbaras .308, eine Tikka mit kurzen Lauf, der Schalldämpfer ist schon aufgeschraubt.
Hab dir auch genuch Murmeln mitgebracht, sagt er und packt ein paar Patronen in meine Jackentasche. Das Gewehr ist leicht, die Fischhaut am Vorderschaft griffig. Ich gehe in den Anschlag, blicke durch die Optik.
Mit Leuchtpunkt, sagt Rudi und lacht. Richtige Frauenknarre.
Feuchte, kalte Luft füllt meine Lungen. Überall der Geruch nach Fichtennadeln und frischem Harz. Nebel auf den Feldern, auf der Straße fährt ein Kastenwagen ins Tal, ich höre das monotone Tuckern des Dieselmotors, das grelle Licht der Scheinwerfer zerfließt in der Dämmerung.
Is der alte Ott, sagt Rudi. Is mal mein Citröen gewesen, hatter mir abgekauft. Guter Wagen, Motor kriesste nich klein.
Wir gehen am Haus vorbei, in der oberen Etage brennt Licht, die Tür des Bürstner steht wie meistens offen.
Wart mal n Moment, sagt Rudi und verschwindet im Inneren des Wohnwagens. Ich bleibe draußen stehen, auf dem Pfad zwischen Anbau und Rasenfläche, und als ich mich umdrehe, sehe ich Barbara auf dem Balkon stehen; eine große, hagere Gestalt, die Arme verschränkt, den Kopf zur Seite gebeugt, eingehüllt in schlohweißen Rauch.
Jetzt könnenwer. Rudi schultert seine Büchse und wir gehen durch den Garten, der noch fast ganz im Schatten der Bäume liegt.
Erzähl das hier keinem, ja? Keinem!
Es ist ein kleiner Schlüssel, vollkommen unscheinbar. Er steckt ihn in das Schloss und dreht ihn zweimal gegen die Uhrzeigerrichtung. Noch einen Schritt, und wir stehen im Königreich.
Sieht anders aus, als bei uns, sagt er und ich schüttelte den Kopf. Naja, die Bäume und so, das Gras, wirste schon noch merken, klingt bescheuert, weil es ja nur n Meter is im Grunde, aber es is eben auch n anderes Land, ist Belgien, und da siehts halt anders aus als bei uns.
Hinter der Tür fällt das Gelände steil ab, wir schleichen langsam und vorsichtig durch das Dickicht, bis wir an einen mit Farn bewachsenen Hügel gelangen.
Hier runter, sagt Rudi, aber vorsichtig, is rutschig.
Eine lange Rückegasse entlang, durch den Farn, der feucht ist und an den Hosenbeinen kleben bleibt. Auf einmal blieb Rudi stehen.
Was haste für Schnaps zuhause?
Was?
Schnaps, sagt er und dreht sich um. Jeder Mann braucht doch mindestens ne Flasche Schnaps, oder?
Ich weiß nicht. Whiskey?
Also braun.
Braun, ja.
Auch Rum und so was?
Nee, eigentlich nicht. Whiskey.
Ich trink nur Weißes, Braunes macht mich aggressiv. Er zuckt mit der Schulter. Na ja, weißte, kann ich nich mehr, Weißes. Ich hab mal einen umgewichst, in ner Kneipe damals, und sagen wir so - ich konnt nich mehr aufhören. Wenn ich Braunes drinne hab, da werd ich zum Tier, also … Er sieht mich an, ein langer, strenger Blick. Ich sags dir, wie es is, ich hab gesessen, in Dietz, schwere Körperverletzung und so, und da war dann klar, kein Weißes mehr. Ich hab in den reingedroschen, immer wigger, und kein Ende, ich wusste ja, der hatte genug, aber so wars halt.
Ja, sage ich. Okay.
Schnaps hat auch was mit Respekt zu tun. Du willst nem anderen Mann keinen Dreck anbieten, wenn er dich schon zuhause besucht, ich mein, wie sieht das aus?
Verstehe ich.
Er lacht. Ich denk ja immer noch, du bist Arzt. n Arzt, oder schwul.
Schwul? Wieso das denn?
Er hebt die Schultern, spitzt die Lippen und drückt einen Strahl Spucke auf den Boden. Also, ich weiß nich, wie du dich bewegst und wie du redest, und so … da dachten wir das eben.
Wir? Wer ist denn wir?
Ja, die Barbaba auch, die sachte so, meinste der ist schwul? Ich dachte, das wäre so, und deswegen biste hier, also … weißt schon, wie ich das meine, is nich böse oder so.
Nee, klar. Aber ich bin nicht schwul, wirklich nicht.
Wär mir auch egal, sagt er. Also trinkste Braunes?
Ich trink Whiskey, sage ich. Ich mag aber auch Bier. Weißte ja.
Rudi klopft mir auf die Schulter. Lass mal weiter. Gleich is so weit.
Am Ende der Rückegasse weitet sich das Land zu einer flachen Ebene.
Die kommen meistens da raus, sagt Rudi und zeigt auf einen Bestand hinter einer Wildwiese. Aber wart ruhig ab, wenn was austritt. Die ersten sind Gucker, die sichern ab. Wir gehen n Stück weiter, du hinter die Weide da drüben, ich bleib mal hier.
Durch die Zweige erkenne ich Gewässer. Kleine Teiche umgeben von Röhricht, die Oberfläche ruhig und silbern. Ich war lange nicht mehr auf der Jagd, das letzte Mal in Frankreich, und das ist zwei Jahre her. Wir haben keinen Hund, sage ich noch leise.
Rudi winkt ab. Müssen im Knall liegen, so isset eben im Königreich. Dann geht er los.
Ich setze das Magazin in die Tikka, lade eine Patrone in die Kammer und sichere, danach beobachte ich die gesamte Flucht durch die Optik, sehe ein dunkelgrau entsättigtes Bild. Man kann noch keine Bewegung ausmachen, alles bleibt ohne Kontur, wie hinter dichtem Nebel.
Du hast immer gemeint, dass ich ein guter Koch bin. Ein verdammt guter Koch, so hast du es gesagt. Ich weiß nicht, ob das wirklich stimmt. Ich habe oft Rehrücken für uns gemacht, am Knochen mit Schalotten und Knoblauch. Das Fleisch habe ich mit Weißwein abgelöscht, den Sud dann über das geschmorte Gemüse und die gebratenen Kartoffeln gegossen. Da war etwas an der Art, wie du gegessen hast; mit den Fingern und geschlossenen Augen, ohne jede Reue. Es ist so selten geworden, einen Menschen dabei zu beobachten, wie er etwas tut, was er wirklich genießt.
Der Nebel zwischen den Bäumen löst sich allmählich auf, erstes Licht gibt der Natur den scharfen Kontrast, die Tiefe zurück.
Der Schuss klingt dumpf und gepresst.
Ich sehe kein Mündungsfeuer.
Habn erwischt, ruft Rudi, ich höre ihn von der anderen Seite des Teichs. Aber bleib unten.
Ich ziehe die Büchse in den Anschlag und suche die Wiese ab, kann jedoch nichts entdecken. Nach ein paar Minuten kommt Rudi mitten durch den Röhricht gewatet, das Gewehr bereits geschultert.
Müssn uns beeilen, ich glaub, das warn Mordstrumm!
Okay, sage ich. Weißt du, wo das Stück liegt?
Rudi nickt. Na sicher …
Wir machen uns klein, gehen über die Wiese bis zum Waldrand, ich höre bei jedem Schritt das Rascheln unserer Kleidung. Rudi bleibt vor den Bäumen stehen und sieht sich um.
Muss hier liegen, sagt er und zieht sich die Mütze vom Kopf.
Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, an einen bestimmten Punkt, ein Baum oder so?
Nix, muss hier liegen, Hundertprozentig.
Ich blicke zurück zu den Weiden. Der Teich ist siebzig, achtzig Meter entfernt, und da, auf einem helleren Wiesenstreifen, erkenne ich eine schattenhafte Erhebung.
Ich glaub da vorn, Rudi. Da vorn liegt was.
Er schüttelt den Kopf. Kann nich sein. Bin gut abgekommen. Muss hier irgendwo liegen.
Hat vielleicht noch paar Meter gemacht. Kannste ja nie wissen.
Naja, ich glaubs nich, aber lass trotzdem mal nachsehen.
Mit jedem Schritt wird die Erhebung größer.
Ich bleibe vor dem massigen Körper stehen.
Das ist kein Hirsch, sage ich.
Rudi bückt sich und legt eine Hand auf das graue Fell.
Seh ich selber, Mensch. Aber als er da stand, da … also, ich weiß auch nicht. Sah halt wie n Hirsch aus, und ich weiß doch, wie n Hirsch aussieht!
Das ist ein Wasserbüffel, Rudi.
Verdammte Scheiße, flüstert er. Verdammich …
Was machen wir denn jetzt?
Ja, keine Ahnung … weg! Auf jeden Fall erstmal weg hier, oder?
Können wir nicht einfach liegenlassen. Also, du weißt, was ich meine … irgendwer wird den finden.
Rudi atmet aus. Ja, ja ich weiß. Das kommt nachher zu uns zurück, die kriegen uns deswegen noch am Arsch, verdammt!
Er kommt näher, sieht mich an, seine Pupillen groß und dunkel, das ist Panik in seinem Blick, ich kenne dieses Gefühl, ich weiß, was es mit einem macht.
Ziehen wir innen Teich hier, das Viech, sagt er und legt mir eine Hand auf die Schulter. Musst mir aber helfen, Jung, ja? Tuste das? Mir helfen?
Die Dinger wiegen fünfhundert Kilo, Rudi …
Ja, wat sollenwer denn sonst tun?
Das wars im Königreich. Können wir nur auf das Beste hoffen. Das isses nicht wert, oder?
Hast ja Recht. Er nickt, hebt die Brauen, und seine Augen leuchten. Haste eigentlich dein Böker dabei?
Ich halte die Klingen meiner Messer immer scharf und öle sie regelmäßig, auch wenn ich sie nicht mehr so oft benutze. Das Böker war das erste gute Messer, das ich besessen habe. Ein Geschenk von dir. Full Tang, mit Griff aus Erlenholz, ein grundsolides und robustes Jagdmesser. Ich hatte es in den Volieren bei Poperinge und auf Elchjagd in Finnland dabei.
Jetzt entbeint Rudi damit den Wasserbüffel.
Ist dat Vieh hatlievich, verdammte Scheiße!, sagt er, Blut läuft ihm über den Handrücken. Aber is dat ne Keule, wa? Verdammte Axt, dat is ne Keule! Meinste wiegt die?
Keine Ahnung, Rudi. Achtzig Kilo?
Nee, meinste? Achtzig Kilo?
Vielleicht auch mehr.
So vell wie ne janze Minsch! Rudi lacht. Hattet sich ja doch gelohnt.
Ich sage nichts mehr.
Rudi trägt die Keule über der Schulter. Er ist stark, viel stärker als ich. Ich nehme seine Büchse und trage sie im Arm, es ist ein Geradezugrepetierer mit einer hochmodernen Optik von Swarovski.
Ist wirklich ein Mordstrumm, Rudi.
Ja, sagt er und bleibt kurz vor dem Zaun stehen. Weiß auch nicht, kam da einfach so plötzlich aus der Dickung, stand da rum, und … na ja, machste nix. Jetzt isset so, wie et is. Sind auch keine achtzig Kilo, aber nah dran. Und weißte was, irgendwie … Dann zuckt er mit den Schultern. Ach, was drauf geschissen.
Sagste der Barbara was davon?
Ach wat, der könnt ich auch n Elefantenfuß mitbringen, da würd die den Unterschied gar nicht mitkriegen, für so wat interessiert die sich nich, hat die noch nie.
Ich liege bis zum Mittag auf dem schmalen Feldbett, döse ein, falle immer wieder in kurzen, unruhigen Schlaf. Dann stehe ich endlich auf, stopfe den letzten Flake in die Pfeife und rauche auf der Bank vor dem Haus. Der Kopf aus Ton wird schnell heiß, ich setze die Pfeife ab und beobachte die Wolken, die mit hoher Geschwindigkeit über den Himmel ziehen; es riecht schon nach Regen, nach Gewitter.
Ich sehe, wie Rudi den Monte Dung hochkommt.
Keule is soweit feddich, sagt er und setzt sich. Hab ich zerwirkt und alles, größte Teil geht inne Kühle.
Ist doch gut, sage ich und zünde die Pfeife wieder an.
Er atmet tief durch. Sag mal, haste schon mal Büffel gemacht?
Du meinst gekocht?
Ja, ich mein … was machste da draus?
Ich denke, am besten ist so was wie Stew oder Chili … Fleisch parieren, klein schneiden, dann in der Pfanne anbraten und nachher mit Kartoffeln, Möhren und Weißkohl in einen Topf. Oder eben mit Tomaten und Paprika und einer Menge Zwiebeln.
Würdeste das machen? Für Barbara und mich? Also, du natürlich auch, bist eingeladen, klar.
Kochste nicht gerne?
Rudi schüttelt den Kopf. Nee, ich kann mir gerade mal n paar Eier inne Pfanne hauen, und Barbara, tja, weißte, die frisst ja so gut wie nix, das is ne echtes Problem, und da dacht ich, wenn ich da jetzt anfang rumzubrutzeln und das geht inne Hose - wär ja schad drum, ums gute Fleisch, oder?
Ich nicke.
Rudi lehnt sich an die Steinmauer. Ich geh heut nacht nochmal rüber, sagt er. Ich nehm ne STIHL mit und dann mach ich den klein. Er räuspert sich. Die habn da so n Projekt gestartet, Barbara hats heute morgen erzählt, ich wusste da nix von. Die wollen da drüben Büffel ansiedeln, so was in der Richtung. Sind schon fünfzig oder sechzig Stück von denen, die sollen wohl auch gut für die Landschaft sein. Fressen hier, scheißen da, Artenvielfalt.
Wir schweigen eine Weile.
Na ja, sagt er dann. Machste das denn jetzt, das mit dem Kochen oder Braten oder was weiß ich?
Willst du, dass ich mit rüberkomme?
Nee, lass mal, Jung, bei dir hab ich immer das Gefühl, wenn du irgendwo festhältst, dann ist das so, als ob zwei loslassen. Schaff ich schon alleine, kein Problem. Aber mit dem Fleisch und so, das wäre super.
Mach ich Rudi. Morgen? Ich geh in der Stadt vorher noch paar Sachen dafür besorgen, brauch sowieso neuen Tabak.
Fährste mit deinem Niva?
Klar, hab ja nur den Wagen.
Hatte auch mal n Lada, warn Topwagen, echt. Kriegste nich kaputt, aber hast eben auch sonst nix, kein ABS, kein Airbag, kein janix. Aber so sindse halt. Der Iwan braucht n Motor wo de Sand reinkippen kannst und n stabiles Dach überm Kopp, dann ist der glücklich.
Wir lachen.
Ich habe noch einen anderen Wagen, ganz normaler Subaru, der ist auch sehr gut. Den Niva hatte ich vor allem fürs Holz machen.
Rudi sieht mich an und hebt die Brauen. Dann machste also kein Holz mehr?
Doch, doch, sage ich. Wieso fragst du?
Weil du gesagt hast, dass de den Niva fürs Holz machen hattest, er macht eine Pause und zeigt auf den Wagen, der am Fuß des Hangs steht, aber den Wagen gibts ja noch, oder?
Ja, den gibts noch, klar, und ich mach auch noch Holz …
Rudi lächelt knapp. Wie lang biste jetzt hier, aufm Monte Dung? Zwei Monate?
Drei. Seit Juli.
Na siehste. Drei Monate. Er legt mir seine Hand auf das Knie. Ich frag schon nich, Jung. So was mach ich nich.
Dann steht er auf, reckt sich und atmet durch. Morgen is gut. Morgen kommste, machen wir mit Fleisch und allem, super.
Rudi, sag ich und er dreht sich um.
Ja?
Hast du wirklich gesessen?
Bin ich nich stolz drauf.
Nee, glaub ich dir.
Hab das abgesessen und gut is. Redet man nich so drüber. Aber, sagt er und zuckt mit der Schulter, et is wie et is.
In der Nacht höre ich Geräusche aus der Ferne, sie kommen aus dem Tal, werden immer wieder von kurzen Pausen unterbrochen, und ich weiß, das ist Rudis Kettensäge, die sich durch die Knochen des Büffels schneidet.
Ich liege da und warte auf Stille und denke dabei an deine Hände, wie ich sie unter der Decke suche, sie festhalte. Deine Finger sind kurz und dick und sind es schon immer gewesen; Genetik und harte Arbeit, das jahrelange Putzen in drittklassigen Hotels.
Niemand lügt mit den Händen.
Am nächsten Morgen brühe ich frischen Kaffee in der verbeulten Blechkanne auf, die hier noch an einem rostigen Nagel hing. Ich mache draußen zwischen den Steinen Feuer und mahle die Bohnen mit der Mühle per Hand. Der Wind weht vom Süden her den Hang hinauf, kalt und schon voll vom klaren Duft nach Frost.
Ich gehe über den Grat bis an den Rand des Feldes und trinke den schwarzen Kaffee langsam und in kleinen Schlucken.
Unten liegt die Stadt, die Häuser aus rotem Backstein, die vom Tau feuchten Dachrinnen glänzen in der Morgensonne; das pulsierende Schimmern der Reklametafeln.
Als ich den Niva auf dem Parkplatz vorm EDEKA abstelle, frage ich mich, ob es hier Überwachungskameras gibt. Wie lange sie die Aufzeichnungen aufbewahren, ob und wann sich die Bänder selbst überspielt haben? Ich denke, jeder hier kennt mein Gesicht. Jeder weiß, was ich getan habe.
Die Gänge sind um diese Uhrzeit noch leer. Ich lege gutes Olivenöl in den Wagen, frischen Knoblauch, Schalotten, Cocktailtomaten, Senf und scharfes Paprikapulver. Dann bleibe ich vor dem Regal mit dem Wein stehen, nehme eine Flasche weiß, eine Flasche rot und lege auch noch einen Bourbon in den Wagen, stelle ihn aber wieder ins Regal und nehme stattdessen eine Flasche Grasovka mit; Rudi trinkt nur Weißes. An der Kasse packe ich alle Waren aufs Band und beobachte die Kassiererin, die jeden einzelnen Artikel scannt ohne hinzusehen. Nach dem Erfassen ertönt ein schriller Signalton, und irgendwann treffen sich unsere Blicke, ihre Augen sind blau und klar wie Wasser. Ich halte einen Hunderter in der Hand, der Schein fühlt sich noch neu und ganz glatt an. Sie sagt Achtundsiebzigneunzig und nimmt das Geld, da ist immer noch ihr Blick, der an mir haftet, jede meiner Bewegungen verfolgt. Sie legt das Rückgeld in die Schale über der Kasse, ich nehme zuerst die Münzen, sammle sie in der hohlen Hand, sie sind kühl, die Ränder abgeschliffen, erst dann greife ich nach dem Zwanziger, falte ihn in der Mitte und stecke ihn in die ausgebeulte Tasche meiner M65.
Ich drehe mich um, blicke noch einmal den Gang hinunter; ein Mann in einem beigefarbenen Trenchcoat trägt zwei Kartons Vollmilch unter dem Arm und hebt sie auf das Band.
Das sind ihre Blicke, die ich auf meinem Rücken spüre, da bin ich mir sicher. Ich drehe eine Runde um den Parkplatz und bleibe mit laufendem Motor vor dem Eingang stehen, sehe sie in ihrer kleinen Kabine sitzen, wie sie immer weiter Waren über den Scanner zieht, und so ist es, sie sieht jeden so an wie sie mich angesehen hat, ich bin einfach nur ein weiterer Kunde, ein Niemand, der kommt und wieder geht.
Es scheint nur einen Tabakladen in der Stadt zu geben, ein kleines Geschäft an einer Ausfallstraße, gleich an der Straßenecke. Ich halte direkt davor auf dem Bordstein und lasse den Schlüssel stecken. Hinter dem Verkaufstresen ein Mann mit schütterem, grauem Haar, er liest den EXPRESS und sieht kurz auf, als ich die Tür aufziehe.
Haben Sie Pfeifentabak?
Er schließt die Augen, atmet aus und antwortet: Ja klar, ja, haben wir. Dann dreht er sich auf seinem Sitz um und zeigt auf ein paar Dosen im Regal, weiter hinten, neben den Zigarillos.
Dunhill, sage ich, selten.
Er zuckt mit der Schulter. Kauf ja fast niemand mehr.
Wieviel haben Sie denn von den Navy Rolls noch da?
Er ächzt, steht auf, geht langsam zum Regal hinüber und zählt durch.
Vier, sagt er.
Vier, wiederhole ich. Dann nehme ich alle.
Sind aber was teurer.
Von nix kütt nix, sage ich, und er lacht.
Liegen schon was länger hier, oder?
Wie gesagt, das is einfach nich mehr so nachgefragt - Pfeife, ich mein, wer raucht das noch? Das is echt selten geworden, die Leute, und deswegen, ja, kann sein, liegen schon was länger. Ist das n Problem?
Nee, sage ich. Kein Problem. Alles gut.
Ich bleibe noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen und halte die Dosen in der Hand - originale Dunhill Navy Rolls, wahre Schätze. Ich lehne mich zurück und denke an Birdhill, wo wir hinter unserem Cottage saßen und ich diesen Tabak rauchte, während du Piperade mit Lachs gekocht hast, ich habe den Duft in der Nase, wenn alle Zutaten zusammenkommen, dieser Moment, wenn die Süße der Zwiebeln sich mit den roten Paprika vermengt und der Lachs sein Fett in der Pfanne abgibt.
Die Sicht ist weit, vom Monte Dung aus sehe ich über das ganze Rheinland, vielleicht bis nach Hause, bis in diese kleine Stadt mit der düsteren Vergangenheit. Über dreihundert Hexen wurden hier verbrannt, natürlich sprechen sie offiziell nur von dreißig, vielleicht auch weniger, doch man spürt die Gewalt, wenn man auf dem Kopfsteinpflaster geht, sie ist da, wie ein Geist, sie begleitet einen. Ich öffne eine der Dosen mit der stumpfen Kante meines Bökers, und es ist dieser Geruch nach frisch gemähtem Heu, nach Dung auf einem Feld, der mich zurückbringt. Manche Dinge muss man nicht verstehen. Liebe ist etwas, das Bestand hat, das über das Verlangen nach fremder Haut hinausgeht. Etwas, das bleibt, das tiefer geht und tiefer wird, jede Schicht deines Verstandes einnimmt, bis hinab ins Reptiliengehirn, den ältesten Teil, der uns angreifen oder flüchten lässt, der uns am Ende nur eine Wahl lässt.
Rudi lacht. Siehst aber glücklich aus, was los?
Ich hebe eine der Dosen von der Bank. Hab original Dunhill bekommen, der lag da sicher schon Jahre in den Regalen, und der Verkäufer da wusste von nichts, das wird doch heute in Gold aufgewogen, das Zeug.
Na siehste, sagt er. Glück muss man haben, Mensch. Und? Wollenwer?
Also ich habe alles, was ich brauche.
Na, dann man tau.
Das Haus am Ende des Hügels ist hell erleuchtet. Vor der Tür stehen zwei Paar Gummistiefel, der getrocknete Schlamm ganz hell auf dem grünen Kunststoff.
Schuhe aus, sagt Rudi, is besser, Barbara is da ne ganz Genaue, die will das Haus immer sauber haben, weißte?
Klar. Ich stelle meine Stiefel auf den Abtritt und gebe Rudi die Tüte mit den Einkäufen in die Hand.
Hab auch was Weißes besorgt, sage ich und lächle. Guter Mann, sagt er. Weißt ja Bescheid, Braun und so …
Barbara sitzt am Ende des Tisches, es ist ein langes Stück Holz, ein halber Baumstamm mit Epoxitharz geglättet. Sie öffnet ihre Hand, hebt sie leicht an und sagt: Rudi meint, du wärst n guter Koch.
Mal sehen.
Bleibt uns ja nicht viel übrig, sagt Rudi und lacht. Willste erstmal n Bier, Jung?
Ich nicke, und er geht zum Kühlschrank und holt zwei kleine Flaschen heraus.
Wieder was aus Belgien?
Weißte, warum soll ich den Dreck von hier trinken, wenn ich n echten Klassiker trinken kann? Fährste immer richtig mit, oder?
Was haste da?
Straffe Hendrik, sagt er. Aber Vorsicht!, das Glasmantelgeschoss da hat ganze 11 Kaliber.
Er gießt das dunkle Bier in die Gläser, der Schaum ist dicht und leicht gelb.
Hab ja vorher fast nur Kölsch getrunken, ehrlich.
Dann haste was verpasst. Rudi gibt mir das Glas in die Hand. Der erste Schluck ist malzig und leicht bitter, ich trinke das Glas in einem Zug halb leer.
Vorsicht, sagt Barbara.
Schon gut, kann ich mit umgehen.
Was haste denn nu vor mit dem Fleisch?, fragt Rudi und setzt sich an den Tisch.
Ich mach schon, sage ich. Bleibt nur sitzen.
Kochen war immer meine Sache, das war unsere Abmachung. Ich bin jeden Morgen eine halbe Stunde vor dir aufgestanden, habe dich noch liegengelassen, um Bratkartoffeln mit Rührei und Sardellen und deinen geliebten schwarzen englischen Tee zu machen. Es lag etwas Beruhigendes, Beständiges in diesen Momenten; ein gemeinsames Ritual, während es draußen dämmerte, während draußen der Tag begann, die Welt erwachte, saßen wir in dieser kleinen Küche und waren uns genug.
Rudi hat die Keule bereits zerwirkt, drei große Streifen liegen nebeneinander auf der Anrichte. Ich ziehe mein Böker aus der Scheide, führe die Klinge mit der Maserung, schneide kleine, handliche Stücke heraus, das Fleisch ist weich und dunkel und riecht herb, ich entferne sorgfältig die Silberhaut. Barbara sitzt mir gegenüber, sie raucht eine Zigarette, und erst jetzt bemerke ich, dass sie eine Spitze benutzt, ein helles Stück Elfenbein mit einem schwarzen glatten Mundstück,
Komm, sagt sie. Ich helf dir. Kann doch nicht einfach hier rumsitzen.
Nur wenn du magst.
Rudi lacht. Macht ihr mal, ich hack mir doch nur n Finger ab.
Barbara steht auf, öffnet eine der Tüten, die ich mitgebracht habe und holt die Flasche Grasovka heraus.
Rudi is n alter Mann, sagt sie.
Ich dachte, ich mach ihm ne Freude. Er muss ja nichts trinken.
Na na, einer geht schon, sagt Rudi. Lass mal, die Barbara kriegt immer Schiss, wenn ich mal n Schluck Sprit trinke, aber stimmt schon, ich vertrag nix mehr, is ja auch in Ordnung so. Ich hab soviel getankt in meinem Leben, da kann sich die Leber jetzt mal was ausruhen.
Was soll ich denn machen?
Du kannst Zwiebel und Paprika schneiden, wenn du magst, den Knoblauch auch, alles in kleine Stücke.
Mach ich gerne, sagt sie und lächelt. Sie nimmt ein schmales Messer aus einer der Schubladen, legt es auf die Anrichte, wäscht den Paprika in der Spüle.
Rudi dreht den Wodka auf und riecht an der Flasche.
Nur n Schluck, sagt er und gießt sich einen Fingerbreit in die Kaffeetasse. Er trinkt, verzieht den Mund, nimmt noch einen kleinen Schluck, dann sagt er: Jetzt is genug!
Ich brate das Fleisch in einer gusseisernen Pfanne, Barbara schneidet Gemüse und raucht dabei, ihre Finger sind lang und dünn, alles an ihr ist lang und dünn, und als sie an mir vorbeigeht, um Zwiebeln und Paprika in den Topf zu kippen, atmet sie mir leicht in den Nacken, und ihr Becken berührt meines, wie zufällig.
Während alles im Topf köchelt, setzen wir uns an den Tisch. Rudi öffnet die letzten Flaschen Westvleteren.
Is ja schließlich n besonderer Anlass, sagt er.
Barbara zündet zwei Kerzen an. Und wie gehts dir da oben auf dem Monte Dung, fragt sie und öffnet eine Schachtel Marlboro.
Gut soweit.
Im Winter wirds kalt, sagt sie. Hast ja nur den Ofen. Musst noch ordentlich Holz machen vorher, sonst reichts nicht.
Rudi hat mir ja schon Kettenöl geliehen.
Der letzte hats nich lang ausgehalten, paar Monate oder so. Rudi nimmt sich eine Zigarette aus Barbaras Schachtel. Weiß gar nicht, wie lang das her ist, sicher schon zehn Jahre.
Stand zehn Jahre leer, das Haus?
Musst schon sehr speziell sein für so was, oder? Barbara reicht Rudi das Feuerzeug. Das nimmste doch nur, wenn du sonst nix findest.
Oder wenn de auf der Flucht bist, sagt Rudi und zündet sich die Zigarette an.
Die beiden sehen mich an. Ich räuspere mich und nehme einen Schluck vom Westvleteren. Is wirklich n Spitzenbier.
Soll ja das beste der Welt sein, sagen sie. Rudi grinst.
Die Kerzen verströmen einen seltsam künstlichen Duft nach Fichtennadeln.
Ich brauchte einfach eine Pause, sage ich dann. Von allem. Ich habe ja ein Zuhause, ein richtiges Zuhause und alles, Arbeit, aber ein paar Dinge sind nicht so gelaufen, wie ich mir das vorgestellt habe, und jetzt … jetzt mache ich einen Schnitt, bisschen freie Zeit, nichts tun, alleine sein. Sich Gedanken machen, bevor es wieder losgeht, das alte Hamsterrad.
Hat man auch nicht oft, oder? Ich meine, kommt ja nicht oft, so eine Möglichkeit, sagt Barbara und legt ihre Zigarette im Aschenbecher ab. Ich schau mal nach, was der Eintopf macht.
Ja, und das hier war einfach perfekt, sage ich.
Rudi nickt. Tja, der Monte Dung. Er gießt sich noch einen Schluck Wodka in seinen Becher. Und?, was sagste, Barbara, isser schon feddich?
Nee, braucht noch. Müssenwer warten.
Wir warten zwei Stunden. Wir trinken währenddessen drei Flaschen Westvleteren und ich rauche meine erste Zigarette seit über zwanzig Jahren. Rudi erzählt von seiner Arbeit im Forst, wie er der Regierung Maschinen geklaut und sie an die Holländer weiterverkaufte, von seinen Reisen nach Namibia, wo er Warzenschweine, Eland und Hartebeest erlegt hat.
Als Barbara den ersten Teller auftischt, hat Rudi den Wodka zur Hälfte geleert. Sie stellt noch Salz und Pfeffer auf den Tisch, zwei kleine Streuer aus weißem Porzellan, dann beginnen wir zu essen, jeder mit einem großen Silberlöffel. Ich spüre, wie der Griff immer heißer wird.
Barbara lächelt und sagt: Erbstücke.
In Namibia, da musste den Schwatten alles dreimal sagen, so ist das da. Morgens vor dem Frühstück sagense denen auf der Farm - gehören natürlich den Deutschen, ne, klar - wo se was zu tun haben, was se machen sollen, dann nachem Frühstück, damit se es auch ja nich vergessen, und mittags nochmal … sonst setzen die sich mit nem Pfund Zucker, nem Kanister voll Wasser und n paar Früchten untern Baum, kippen alles zusammen, lassens da in der Sonne vergären und hauen sich das inne Köpp! Ja, du lachst, aber so ist das.
Ist sehr gut geworden, sagt Barbara. Das Fleisch zergeht richtig auf der Zunge, und ist ja gar nicht so einfach bei Damwild, sagt Rudi immer, das soll ja was zäher sein. Bist du denn Koch, ich meine, zuhause?
Nein, nein, bin ich nicht. Ich koche einfach nur so gerne.
Sie lächelt. Haben die Frauen gerne, wenn ein Mann gut kochen kann.
Ja?
Sie nickt.
Na, warum biste dann mit mir verheiratet?, fragt Rudi und gießt sich Wodka nach. Ich koch dir n sieben Minuten Ei zweimal sieben Minuten!
Rudi hat andere Qualitäten, sagt sie und streichelt ihm über den Kopf. Oder sagen wir: hatte.
Jetzt gehts aber los! Rudi rührt mit dem Löffel in seinem Eintopf. Jetzt gehts aber los, Barbara.
Jaja, schon gut, reg dich ab. War doch nur n Witz.
Das bin ich also für dich, n Witz, ja?
So habe ich das nicht gemeint, Rudi, is gut jetzt.
Gibste mir auch was von dem Wodka ab, Rudi?, frage ich, und da sieht er mich lange an und sagt: Na klar, Jung. Kannst alles von mir haben - mein Kettenöl, meinen Wodka, und meine Olle kannste auch haben, wenn de willst!
Dann steht er auf und geht.
Ich will etwas sagen, aber Barbara schüttelt den Kopf, und ich schweige.
Lass ihn, sagt sie. Der regt sich ab. Der geht eine Nacht ins Königreich und dann kommt der morgen wieder, und alles ist vorbei, alles vergessen, wirst sehen. Sie nimmt einen Schluck Bier. So ist er, immer schon, nur früher … na ja, sagen wir mal so, da ist es nicht beim Wegrennen geblieben.
Ich nicke.
Rudi ist stark, weißt du. Sehr stark, Urkräfte hat der. Hat mal ein Pferd alleine aus nem Graben gezogen, das war da umgeknickt, Knöchel gebrochen, und er hat es alleine wieder rausgezogen, und als ers endlich geschafft hatte, isser nach Hause, hat seinen Revolver geholt und dem Vieh den Gnadenschuss verpasst.
Der Eintopf ist sowieso besser, wenn man ihn einen Tag ziehen lässt, sage ich. Wenn du ihn morgen nochmal aufwärmst, dann ist er erst richtig gut.
Sie lehnt sich zurück und greift nach ihren Zigaretten. Rudi wird sich schon beruhigen.
Ja, das hoffe ich auch.
Wir bleiben eine Weile so sitzen, schweigend und abwartend, dann steht Barbara auf, um Kaffee aufzusetzen.
Ich zünde mir eine von ihren Marlboro an, sehe auf die Reflektionen der Glut in der Fensterscheibe, draußen ist es schon längst dunkel geworden.
Schwarz?, fragt Barbara.
Schuss Milch.
Sie stellt den Becher auf den Tisch und setzt sich wieder. Und wie lange soll das noch so weitergehen?
Was meinst du?
Na, dass du da auf dem Monte Dung rumhängst wie so ein Mönch?
Ich weiß es nicht, keine Ahnung. Mal sehen.
Ist doch ziemlich einsam da oben, oder? Ich meine, mir würd da was fehlen, einer mit dem man reden kann und so, oder?
Manchmal ist es besser, mit keinem zu reden.
Sie lächelt und zieht an ihrer Zigarette. Kenn ich, sagt sie. Ist bei Rudi ja genauso. Der redet auch manchmal tagelang kein Wort mit mir.
Komm, ich wasch noch ab, sage ich und drücke die Zigarette aus.
Nee, schon gut, kann ich auch alleine machen, ist ja nicht so viel.
Nein, ich mach schon. Ich stehe auf, nehme die Teller vom Tisch und stelle sie in die Spüle. Barbara bleibt sitzen. Während ich den Hahn aufdrehe und Wasser einlasse, beobachte ich sie aus den Augenwinkeln - ihr Gesicht im Halbschatten, die Zigarettenspitze zwischen ihren Lippen.
Es dauert, bis das Wasser heiß ist. Der Schwamm ist vollgesogen mit Fett und weich, ich spüle langsam, mit viel Druck, lege Teller und Besteck danach auf den Edelstahlrost, um sie abtropfen zu lassen.
Ihre Hand ist warm und fühlt sich rau an auf meinem Nacken.
Ich bin oft alleine, sagt sie leise und legt dann die andere Hand auf meine Hüfte, zieht den Stoff meines Hemdes nach oben und streicht über die nackte Haut.
Barbara, sage ich und sie hält kurz inne.
Was denn? Wegen Rudi musste keine Angst haben, der kommt heute nich wieder, der is erstmal weg.
Das ist es nicht. Darum geht es nicht.
Ihre Finger gleiten weiter unter meinen Gürtel, über den Reißverschluss, berühren schon Schamhaar, aus ihrem Mund dringt ein zufriedenes Summen.
Als ich mich von ihr wegdrehen will, greift sie nach meinem Hemdkragen, zieht mich zu sich, ihre Lippen pressen sich hart auf meine, verschließen mir den Mund, und ich schmecke sie, schmecke das Bier und die Zigaretten; Worte formen sich in meinen Gedanken, ich sehe sie wie gedruckt auf einem Blatt Papier, ich sehe sie, doch ich spreche sie aber nicht aus.
Meine Zunge bleibt stumm, bis sie meinen Schwanz in der Hand hält.
Das geht nicht, nein, lass das.
Ich packe sie am Ellenbogen und stoße sie weg; ihre Knochen hart, spitz und scharf.
Sie sieht mich an, ihre Augen glänzen feucht, und da ist wieder dieses Summen, diesmal klingt es anders; dunkler und weiter entfernt, als käme es tief aus ihren Eingeweiden.
Ist besser, wenn ich jetzt gehe.
Ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe, das Gesicht entsättigt und blass, ihre Gestalt verzerrt, wie eine Erscheinung, ein Geist.
In der Nacht beginnt es zu stürmen. Der Wind wird heftiger, zerrt an den Laden. Donner rollt über die Felder, das mahlende Krachen kommt näher. Der Regen fließt gurgelnd durch das Zinkrohr an der Dachkante, sammelt sich dann an einem Abzweig, doch unter dem Schiefer ist ein Leck, es fließt in einem Rinnsal vom Fensterrahmen auf den Steinboden, die Pfütze glitzert schwarz.
Ich liege auf dem schmalen Feldbett, trage immer noch meine gefütterte Jacke, irgendwann stehe ich auf, hole das restliche Brennholz aus dem Verhau ins Haus, stapele es neben dem Kamin, lege ein paar neue Scheite auf. Später denke ich, ich höre Schritte draußen im nassen Gras, schwere, schnelle Schritte, Schritte die ein Ziel haben, und ich denke, das ist Rudi, der kommt um mich mit seinem Revolver zu erschießen, mir den Gnadenschuss zu verpassen. Der mich erschießt und mich dann hinter dem Monte Dung im Königreich vergräbt und niemand wird es je erfahren. Aus meinem toten Leib wächst Unkraut, das die Wasserbüffel fressen werden, aber ich bin nur im Sessel eingeschlafen und habe wirr geträumt.
Es regnet zwei Tage lang durch. Ich verlasse das Haus und den Monte Dung nicht. Ich erwärme eine Dose Bohnensuppe in der Glut und esse das letzte Toastbrot. Ich rauche unentwegt, die Tonpfeife wird nie kalt.
Am Abend des zweiten Tages klopft es an der Tür, und bleibe einfach sitzen, atme flach, die Pfeife noch im Mund, das Feuer ist fast runtergebrannt, doch dann sagt Rudi: Bist da, ich hör dich doch, mach mal auf.
Er steht in der Tür, lehnt sich gegen den Rahmen, zeigt auf die Pfütze in der Mitte des Raums. Dach is wohl auch nich mehr das, was es mal war, wie?
Ich nicke.
Hör mal, sagt er. Nur kurz. Barbara und ich, also wir schnappen uns den Bürstner und sind dann unterwegs, nich für lang, paar Tage nur, bisschen ausspannen, du weißt ja, Zeit zusammen verbringen und so … er zwinkert, und ich sage: Verstehe.
Nur dass du Bescheid weißt, falls keiner da is, wir sind nich ausgeflogen oder so, nur ein bisschen weg, für uns, alleine undsoweiter.
Okay, sage ich und er lächelt.
Das, was du da gemacht hast, hier das Chili, der Eintopf - super, sag ich dir, erste Sahne, echt. Haben wir bis heute von gegessen, also ich muss schon sagen …
Danke dir.
Er atmet tief ein, schließt für einen Moment die Augen, dann dreht er sich zur Seite und spuckt aus. Da is noch ne Sache, sagt er leise und kratzt sich am Kinn.
Was denn?
Er hebt die Brauen, schürzt die Lippen und nickt, der Kopf mit den weißen, langen Haaren bewegt sich ganz langsam.
Also, die wissen, wer du bist.
Wer ich bin? Wie meinst du das?
Rudi lacht, es klingt wie kräftiges Husten.
Unten in der Stadt, als du da in diesem Laden einkaufen warst, da … die Dicke an der Kasse, das is die Frau vom Ott, und … Er sieht mich an. Ich frag nich nach, das mach ich nich, hab ich dir schon mal gesagt - du hast gemacht, was du gemacht hast, so oder so, und du kanns es ja auch nich mehr rückgängig machen, das is jetzt so, da musste mit leben, und dazu sag ich nix, Jung, ich sag da nix zu weil ich dich mag, und ich weiß, wie das is, wenn es mit einem durchgeht, ich mein, was erzähl ich dir da überhaupt!, aber … ich nehm mal an, so wird es sein, die Dicke vom Ott, die hat da wohl n Bild inner Zeitung gesehen, und die is jetzt sicher schon bei der Schmier, ich meine, genau weiß ichs natürlich nich, ich habs von der Barbara, die is ja ganz eng mit der, und die Olle vom Ott hat sie heute morgen deswegen angesprochen, ob das sein könne, dass da auf dem Monte Dung einer is, der … na ja, weißt schon. Und die wird ihr Maul nich halten können, weil so sindse, die Leute, was erzähl ich dir? Weißte selbst.
Meine Hände zittern, ich spüre es bis in die Gelenke, und für einen kurzen Augenblick glaube ich, dass ich mit dem Atmen aufgehört habe, dass mich endlich die Dunkelheit umfängt, doch dann blicke ich auf Rudis grobporige Haut, auf seinen langen Bart, an dem die Haare wirr abstehen, und ich begreife, was ich bin, was ich immer war.
Jung, sagt Rudi. Ich will nich sagen, dass es das Richtige war, was du gemacht hast, soweit will ich nich gehen, und wie ich das gehört hab, na ja, du kennst das ja, gibt immer zwei Seiten von einer Geschichte, ne?, aber so isses, ich will nich sagen, dass es das Richtige war, aber ich sag dir wie es is, ich hätts genauso gemacht, glaub ich, nee, ich hätts genauso gemacht, wenn ich mir vorstell, einer hätt mit der Barbara …
Ja, sage ich. Ja.
Nur dass dus weißt.
Ist gut, Rudi.
Na ja, sagt er. Das isses wohl gewesen, oder?
Ich glaub auch, ja.
Jung, eine Sache noch … Rudi bleibt unter dem Vordach stehen, dreht sich um und legt etwas auf die Bank, ganz beiläufig und so, als ob ich es nicht bemerken würde, obwohl er weiß, dass ich es genau sehe.
Geht immer weiter, oder? So oder so. Und, nur damit dus weißt, ich lass ab sofort auch das Weiße ausm Kopp.
Ich sehe ihm nach, wie er den Monte Dung wieder hinuntergeht, in sein großes Haus, zu seinem alten Bürstner, zu all seinen Dingen, von denen er zwei hat. Zu seiner Barbara. Er geht langsam und mit fast hüpfenden Schritten, sein weißes Haar weht im Wind, die Luft ist kalt und klar, der Himmel hat die Farbe von Deckweiß.
Ich bin alleine. Ich sehe vom Monte Dung auf einen langen Strich aus Lichtern und dunklen Kluften, schwarze Aussparungen, Ausgrauungen, stillen heimlichen Flecken, es sind Häuser in denen Menschen friedlich nebeneinander einschlafen, sich lieben, vollkommen ineinander verschlungen, die Körper warm und noch schweißfeucht, die einem gemeinsamen Traum nachhängen, der vielleicht immer unerreichbar bleibt, ich könnte meine Hand ausstrecken und es an mich nehmen, es an mich reißen, dieses Land mit all seinen Wünschen und Träumen in der Dunkelheit. Ich könnte stehenbleiben und darauf warten, dass es geschieht, dass sie mich holen kommen, doch dann lege ich meine Hand auf die Wand, auf den groben, kühlen Stein, taste mich voran, lasse mich langsam auf die Bank sinken, ich bin schwer, so schwer wie nie zuvor in meinem Leben, und da ist das nasse, kalte Metall des Schlüssels den ich unter meinen weichen Fingern erspüre, die Bärte scharf und schon ganz dünn.
Ich komme wieder zu mir, sehe mich durch die Nacht schleichen, über die graue Straße, zwischen den hell erleuchteten Häusern hindurch, vorbei am offenen Bürstner; ich bewege mich im Schatten der Bäume bis an den hohen Zaun, schultere meinen Rucksack und die Mauser, drehe den Schlüssel langsam und leise im Schloss, und als ich einen Blick zurückwerfe, ein letzter Blick auf die Reste meines alten Lebens, da steht Barbara auf dem Balkon, die Glut ihrer Zigarette ein flirrender Punkt in der Dunkelheit. Sie steht da, so schmal wie ein Mädchen, ihr Haar offen, und es ist nur noch ein Schritt, ein Schritt und ich bin im Königreich.