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Der Schlendermeister
Bernd Eichelheer schlenderte die Strasse entlang, als gäbe es nur ihn und die Strasse. Er schlenderte mit einer derartigen schlendrigen Schlenderhaftigkeit, dass es schon fast wieder unschlenderig war. Er beherrschte das Schlendern wie kein anderer. Er war sozusagen inoffizieller Schlender-Weltmeister. Denn eine ofizielle Meisterschaft gab es ja nicht, aber jeder in der Stadt wusste, wenn Bernd Eichelheer vorbeischlenderte, sollte man sich nicht mit ihm anlegen. Sogar die berüchtigte Skulls-Gang, die hauptsächlich aus schwarzen Hip Hoppern bestand, schaltete beim Schlendern sofort einen Gang zurück wenn Bernd Eichelheer daherschlenderte. Es sollte ja nicht so aussehen, als wolle ihn jemand beim Schlendern herausfordern, denn dies könnte tödlich enden. Einmal hatte ein anderer sehr guter Schlenderer aus einer anderen Stadt von Bernd gehört, als er in der Regionalzeitung erschien. Der Schlenderer aus der anderen Stadt hatte es nicht ertragen können, dass es in der Nähe einen noch schlendrigeren Schlenderer gab als ihn, und machte den grossen Fehler, in Bernds Stadt zu kommen. Der Schlender-Wettkampf endete für ihn mit einer Amputation des linken Unterschenkels. Er hatte sich wohl mit dem falschen Schlenderer angelegt. Trotz seiner Beherrschung aller Schlender-Tricks wie zum Beispiel Hände in den Hosentaschen, Schuhbändel halb offen lassen oder das fröhliche Pfeifen hatte er keinen Stich gegen Bernd. Dieser schlenderte nach dem Wettkampf einfach davon, als hätte er gar nicht gemerkt dass er sich noch kurz zuvor in einem erbitterten Duell befunden hatte. Diese unglaublich schlendrige Art von ihm schien auch bei so mancher Frau gut anzukommen. Bernd war also der Schlender-König schlechthin.
Soweit die Vorgeschichte. Leider nahm die Schlenderkarriere in Bernds Leben ein tragisches Ende, als eines Tages etwas Grauenhaftes passierte. Es war ein warmer Frühlingsmorgen, als Bernd wie jeden Morgen zur Arbeit schlenderte. Er war etwas verspätet und schlenderte daher schneller als sonst. Auf dem Weg traf er Igor, einen alten Kumpel von ihm. Er bemerkte ganz genau, als er Igor schon von weitem sah, dass dieser krampfhaft versuchte, so schlendernd wie Bernd dahinzuschlendern. Doch als Igor ihn erblickte, hörte er sofort auf zu schlendern und ging normal weiter, um ihn dann mit "He Bernd! Kicher... Alles klar?" zu begrüssen. Offenbar war es ihm peinlich, dass Bernd ihm beim Üben beobachtet hatte.
"Mir geht’s gut, danke. Und dir?", erwiderte Bernd.
"Auch besser. Grins... Und, gehste arbeiten?"
"Ja. Bin aber spät dran. Wir treffen uns ja heute abend noch im Bowling-Center, oder?"
"Ja klar! Ich bin ja jeden Abend dort! Bis dann, Bernd!"
"OK, bis später."
Bernd schlenderte weiter, während er genau Igors Blick im Rücken spürte. Dieser versuchte natürlich, Bernds Schlendertechnik zu analysieren, um irgendwann vielleicht selber so schlendernd schlendern zu können wie er. Das war sich Bernd inzwischen gewohnt, dass man ihm immer nachschaute.
Auf einmal hörte Bernd ein seltsames Geräusch. Es war nichts anderes als ein Motor. Das Auto kam genau auf ihn zu! Offenbar hatte der Fahrer zuviel Alkohol getrunken, oder es handelte sich um einen BMW. Bernd blieb nichts anderes übrig, als auszuweichen, doch da er das Schlendern derart gewohnt war, hatte er das Rennen verlernt. Er versuchte noch irgendwie, sich daran zu erinnern, wie man springt, doch es war zu spät. Sein vom Schlendern verwöhntes Gehirn war zu langsam, und das Letzte, was Bernd sah, war der Kühler eines silbernen Sportwagens.
Nun war Bernd nicht mehr der schlendernste Schlenderer. Im Gegenteil, er war tot. Igor hatte Bernds Titel zwar stolz, aber trotzdem traurig übernommen. Am Wochenende gab es eine Party, die gleichzeitig zum Gedenken an Bert, aber auch zum Feiern des neuen Schlendermeisters, Igor, diente.
Ende