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Der Schrei der Amsel

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20.10.2002
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Der Schrei der Amsel

Nebelfetzen, kitschig rosa angestrahlt von den Leuchtreklamen der Stadt. Beton links und rechts. Einzelne Fenster werfen gelbe Rechtecke auf die Straße. Ab und zu kommt ihr ein Auto entgegen.

Sie weiß nicht, wohin sie unterwegs ist. Die Stadt ist ihr fremd. Es ist ihr auch egal.
Ihr Hals fühlt sich eng an, Tränen, die sie nicht weinen kann, bilden einen Kloß, der sie kaum atmen lässt. Die Luft ist schneidend. Ihre Hände sind in den Taschen der alten Windjacke gefroren wie dünnes Eis, das bei der kleinsten Erschütterung zerbrechen kann. Wind zerrt an ihrem Haar, verwirrt es zu Strähnen und peitscht ihr alte, braune Blätter ins Gesicht. Irgendwann ragen ein paar Bäume vor ihr auf. Ein Park ohne grelle Laternen und Neonreklamen.

Sie hält kurz inne, betrachtet die starken Äste der Bäume gegen den Himmel. Wenige Blätter hängen noch daran, können dem Wind nicht mehr standhalten, werden endlich abgerissen und tanzen im Sturm, bevor sie die Erde erreichen.
Die Pfützen am Weg sind zu Eis gefroren. Manche sind von Kindern zertreten, und Eis liegt herum wie tausend Glassplitter.

Sie geht tiefer in den Park hinein, bis die Stadt nicht mehr zu ihr durchdringt, die Geräusche der Autos nicht mehr zu hören sind.

Nur noch Schatten und Schemen kann sie erkennen, die Gerippe der Bäume um sie herum. Schließlich bleibt sie stehen.

Eine Träne friert an ihrem Augenwinkel fest, als sie endlich anfangen kann zu weinen. Die Kälte schweißt die Wimpern zusammen, Salz und Eis bilden eine Kruste. Lautlos.

Nur das Rauschen und Zittern im Laub. Der Atem gefriert zu Eis, das sich in der Luft verliert.

Sie horcht auf. Der Schrei einer Amsel. Sie hebt den Kopf und lauscht. Eine Amsel. Sie singt. Es ist lange nach Mitternacht, denkt sie. Amseln singen nicht nachts.
Diese hier singt. Mit klarer Stimme und mitten in der Nacht. Kälte und Wind sind vergessen.

Langsam geht sie ein paar Schritte, die Augen geschlossen. Nur hören, hören und hinfinden zu dieser Melodie. Sie merkt nicht, dass es zu schneien beginnt. Nicht in leichten, großen Flocken sondern harter Schneeregen, vereiste Kristalle, die langsam Haare und Jacke durchdringen. Schließlich steht sie an den Wurzeln eines Baums. Es ist eine Platane, deren Rinde abblättert wie der Schorf auf der Haut eines Menschen. Ein mächtiger Baum, er stand schon lange vor ihrer Geburt. Im Wipfel viele Meter über ihr sitzt der Vogel. Sie legt ihre klammen Hände an den rissigen Stamm, versucht, die Strukturen zu fühlen, schmiegt sich an das Holz. Immer lauter wird die Vogelstimme, schwillt an … Wärme durchströmt sie, breitet sich aus, fließt durch die Rinde in ihre Hände, ihre Arme, bis ins Herz. Der Schneeregen treibt in Böen über sie, immer stärker, droht, sie mitzureißen. Sie strauchelt.
Die Melodie füllt sie aus, sie fällt, verliert den Halt, spürt den Wind und breitet die Flügel aus. Die Luft reißt sie mit, hoch in den Himmel. Sie verlässt das Gezweig. Freiheit. Das Eis in der Luft spürt sie nicht. Sie lässt sich tragen, dem Mond entgegen. Stadt, Menschen, die Trauer alles ist vergessen hier oben, die Melodie wie ein Schutz in ihr.

Am Morgen nach dem Schneesturm findet ein Obdachloser ihren Körper im Park, von einer Schneeschicht bedeckt auf den Wurzeln eines mächtigen Baumes. Er beugt sich über das Mädchen und streicht mit klammen Fingern den Schnee von ihren Wangen. Ihre Wimpern sind mit Eiskristallen bedeckt, aber er kann einen Rest Wärme unter der erfrorenen Haut erahnen. Die aufgesprungenen Lippen der jungen Frau öffnen sich, als er versucht, sie aufzuheben. „Es war der Schrei der Amsel“, flüstert sie heiser. „Kennst du sie?“

 

Hallo Eike!

Hab ich lang nimmer an diese Geschichte gedacht. Jetzt beim lesen fallen mir tausend Sachen auf, die ich jetzt vermutlich anders machen würde ... aber es hat mich sehr gefreut zu lesen, dass Dir genau diese Fassung so gefallen hat. Danke.

Liebe Grüße
Anne

 

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