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Der Schrei
Sie läuft mit gezogener Waffe, so schnell sie ihre Füße tragen, quer über die Lichtung. Immer ihr Ziel vor Auge beachtet sie die, im Boden vor und hinter ihr, einschlagenden Kugeln nicht. Immer größer werden ihre Schritte, immer schneller nähert sie sich dem großen Felsen am Ende. Er soll ihr Deckung bieten.
Nur noch fünf, vier, drei Schritte –geschafft. Laut keuchend kauert sie sich hinter den Felsen. Die Kugeln ihrer Gegner prallen daran ab.
Sie atmet tief in den Bauch, zwingt sich zur Ruhe. Ihre Hände zittern. „Bleib ganz ruhig, überleg! Verlier nur nicht den Kopf! Denke, denke! Wie kommst du am besten weiter?“ Aber ihr Kopf ist leer, überfordert von der Situation. Nicht vorbereitet auf diesen Stress. Das Adrenalin schießt durch ihren Körper, beherrscht ihren Körper. Es treibt sie an, putscht sie auf.
Sie spürt die kleinen Felssplitter, die die Kugeln vom Felsen lösen. Wie eine Dusche prasseln sie auf ihr Gesicht. In jedem einzelnen versteckt ein Versprechen auf Schmerz und Tod.
Ein vorsichtiger Blick zeigt ihr das nächste Ziel. Eine Ruine schier unerreichbar, darin liegt der große Schatz, für den es sich sogar zu sterben lohnt. Nur ein Weg quer durch eine dichte Hecke führt dorthin.
Mit dem Mut der Verzweiflung läuft sie direkt auf die Hecke zu. Erneut blitzt Mündungsfeuer und Kugeln zischen an ihr vorbei. Alle Muskeln ihres Körpers sind angespannt. Die Füße berühren kaum den Boden.
„Ahhh…“ Schmerz lässt sie taumeln, stolpern und fallen – mitten in die Sicherheit der Hecke. „Scheiße, scheiße, scheiße, meine Hand, sie blutet.“ Notdürftig versorgt sie die Wunde mit ihrem T-Shirt.
Ihr ist nun voll bewusst, dass sie ein nochmaliger Treffer das Leben kosten wird. Einen weiteren wird sie nicht überleben. Sie sieht sich bereits liegen am Boden, blutend, keuchend, in den letzten Atemzügen. Ihre Jäger grinsend über sie gebeugt. Nicht einmal eine letzte Kugel ist sie ihnen wert. Verbluten, sie lassen sie elend verbluten.
Dieses Bewusstsein macht sie unerwartet ruhig, ganz ruhig. Sie hat nichts mehr zu verlieren, es gibt keinen Weg zurück. Es gibt nur noch das Ziel vor ihr.
Langsam aber mit kraftvollen Schlägen bahnt sie sich einen Weg durch die Hecke.
An ihrem Ende, zieht sie, völlig kalt und ohne jedes Anzeichen der Erregung, ihre Waffe. Umfasst sie trotz Verletzung fest mit beiden Händen. Sie spürt keinen Schmerz mehr. Sieht nur die Ruine, das Ende, die Sicherheit, das Leben.
Ihr Bauch ist steinhart vor Anspannung. Ihre Zehen eingezogen, die Arme verkrampft, in ihrem Kopf hämmert es.
Sie zählt leise bis drei und dann sprintet sie los. Springt, rennt und schießt, schießt nach allen Seiten.
Da ein Schrei – markerschütternd, die Luft zerreißend.
"Try again?"
Sie legt die Playstationpistole aus der Hand, schnappt sich ihre Jacke und verlässt die Wohnung. Lässt das Spiel hinter sich.
Nur die Anspannung und Wut im Bauch, das Adrenalin, die Frustration des Verlierers nimmt sie mit in die Anonymität der Nacht.
Sie ist ruhig, ganz ruhig, als sie sich über das im Gesicht blutende Mädchen beugt und ihr den MP3 Player abnimmt.