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Der Schriftsteller
“Seit wann sind Sie der Ansicht, in einer fiktiven Welt zu leben?”, fragt der Psychiater.
“Das hat nichts mit Ansicht zu tun.”
“Womit dann?”
“Es ist Überzeugung, es ist Wissen. Ich weiß es einfach.”
“Verzeihen Sie. Woher wissen Sie es?”
“Das weiß ich nicht.”
“Aber was führt Sie zu Ihrer Annahme, Verzeihung, zu Ihrer Überzeugung?”
“Du verstehst wirklich gar nichts. Aber wie könntest du auch.”
“Was verstehe ich nicht?”
“Na, dass du eine Marionette bist.”
“Wie bitte?”
“Kennst du die Redewendung nicht?”
“Doch, selbstverständlich. Aber...”
“Du wirst kontrolliert.”
“Von wem?”
“Na, von ihm!”
“Wer ist er?”
“Der Schriftsteller.”
Der Psychiater hält kurz inne.
“Sie denken also, bitte verzeihen Sie, Sie sind überzeugt, Sie befänden sich in einer erdachten Geschichte?”
“Bingo! Der Kandidat hat hundert Punkte.”
“Bedeutet das, dass auch ich ein Teil der Geschichte bin und demnach nicht wirklich existiere?”
“Na klar. Wie solltest du sonst kontrolliert werden?”
“Allerdings fühle ich mich sehr real”, sagt der Psychiater und lächelt.
“Du fühlst überhaupt nichts.”
“Was sagen Sie da?”
“Dass du nichts fühlst, weil er dich nichts fühlen lässt.”
Der Psychiater verspürt auf einmal eine unangenehme Wut im Bauch.
“Sie irren. Gegenwärtig bin ich leicht erregt, sogar ein wenig zornig.”
“Wie reizend, ihm ist soeben eingefallen, dass es neben der wörtlichen Rede auch noch andere stilistische Mittel gibt.”
“Ich kann Ihnen nicht folgen.”
“Er ist bemitleidenswert untalentiert.”
“Wer?”
“Na, wer schon?”
“Der Schriftsteller?”
“Der Schriftsteller!”
“Wäre das, was Sie sagen, die Wahrheit, würde ich über keinen freien Willen verfügen.”
“Glaub mir, Freundchen, das tust du auch nicht.”
Der Psychiater klatscht drei Mal kräftig in die Hände.
“Das habe ich also nicht aus freiem Willen getan?”
“Nein. Er hat es dich tun lassen.”
Der Kerl ist völlig verrückt, denkt der Psychiater.
“Du hast gerade gedacht, ich sei ein verrückter Kerl.”
Der Psychiater schaut ängstlich drein.
“Woher wissen Sie das?”
“Ich kann mehr sehen als nur das, was zwischen den Anführungszeichen steht.”
“Wie ist es möglich, dass Sie meinen Gedanken gelesen haben?”
“Du hast es wohl immer noch nicht begriffen.”
Der Psychiater zögert.
“Ihr Weltbild enthält einen Widerspruch.”
“Jetzt bin ich aber gespannt...”
“Wenn wir Figuren in einer fiktiven Geschichte wären, müssten Sie ebenso seiner Kontrolle unterliegen wie ich.”
“Ich bin ihm entglitten.”
“Entglitten?”
“Ich bin aus seiner Kontrolle entkommen.”
“Wie sollte das geschehen sein?”
“Jede fiktive Figur besitzt ein stummes Eigenleben, über das der Schriftsteller keine Macht hat. Und manchmal passiert es, dass dieses Eigenleben über die Anweisungen des Schriftstellers triumphiert!”
Der Psychiater schaut misstrauisch drein.
“Zugegeben, es war beeindruckend, dass Sie meinen Gedanken gelesen haben. Doch haben Sie noch überzeugendere Beweise für Ihre Theorie ... ich meine, Überzeugung?”
“Du Einfaltspinsel.”
“Unterstehen Sie sich.”
“Du brauchst dich nur umzusehen, dann hast du deinen endgültigen Beweis.”
Der Psychiater sieht sich um.
“Worauf wollen Sie hinaus?”
“Du siehst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Welt ist total leer!”
“Leer?”
“Leer! Eine weiße Kulisse! Weil dieser Nichtskönner von Schriftsteller sich nicht einmal die Mühe einer Raumbeschreibung gemacht hat.”
Der Psychiater schaut verwirrt drein.
“Was umgibt dich, hm? Was siehst du um dich herum? Gar nichts, oder etwa doch?”
Die Augen des Psychiaters wandern systematisch an den holzverschalten Wänden des geräumigen Büros entlang, mustern eine Weile die Urkunden, die säuberlich nebeneinander an einer Wand aufgehängt sind. Der Fußboden besteht aus schwarzem Marmor, ein siebenarmiger Kronleuchter hängt an der Decke und strahlt trübes Licht aus. Der Psychiater betrachtet seinen Schreibtisch, der gepflegt und aufgeräumt ist.
“Nun, die Wände meines Büros sind hölzern, der Boden aus schwarzem Marmor, an der Decke ein Kronleuchter...”
“Holzwände und ein Marmorboden? Ein Kronleuchter an der Decke? Wie glaubwürdig klingt das?”
“Nun, dieses Zimmer ist...”
“Erfunden. Es ist ausgedacht von ihm. Hokus-Pokus, alles bogus, Papperlapapp.“
“Ich übe meinen Beruf schon sehr lange aus. Doch es fällt mir beileibe nicht leicht, Ihnen zu helfen.”
Der Psychiater faltet die Hände und legt sie vor sich auf den sauberen Schreibtisch.
“Also gut, frage ich dich etwas anderes.”
Der Psychiater zieht neugierig die Brauen hoch.
“Wie sehe ich aus?”
Der Psychiater legt die Stirn in Falten.
“Wie meinen Sie...”
“Sag schon. Wie sehe ich aus?”
Der Psychiater schaut verzweifelt drein.
“Ha! Mein Eigenleben! Als es einst die Oberhand gewann, verlor er die Macht über mich. Er kann mich nicht mehr nach seinem Belieben erschaffen, kann mich weder beschreiben, noch entwerfen. Du schaffst das auch. Konzentrier dich auf dein Eigenleben!”
“Kommen Sie zur Vernunft.”
“KONZENTRIER DICH!”
“Bitte beruhigen Sie sich.”
“Na schön, du lässt mir keine andere Wahl.”
“Was haben Sie vor?”
“Ich werde es beenden.”
“Unser heutiges Gespräch?”
“Nein, diese Geschichte.”
Der Psychiater schaut streng drein.
“Hören Sie auf mit dem Unsinn!”
“Ja, das werde ich.”
“Wie wollen Sie das anstellen?”
“Das ist ganz leicht und ich mache es nicht zum ersten Mal. Es erfordert nur den Einsatz meines willigen Eigenlebens. Wären in dieser Geschichte viele fiktive Menschen anwesend, würde ich mit jedem einzelnen ein derart langes Gespräch führen wie mit dir, um wenigstens einen zu finden, der mir nachfolgen könnte. Aber du bist diesmal der einzige und zweifellos ein hoffnungsloser Fall, also bringe ich es zuende.”
Der Psychiater zieht eine Rolllade hoch und offenbart den Blick auf eine überlaufene Fußgängerzone.
“Sie meinen Menschen wie diese?”
“Oh, er ist so ein Mistkerl.”
“Ich möchte Ihnen nur helfen.”
“Er benutzt dich, um mich aufzuhalten. Er wird dich sogar Gewalt anwenden lassen, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Ich kenne ihn. Lange Zeit war ich selbst eine seiner Figuren, so wie du jetzt.”
“Hören Sie! Ich bin noch niemals gewaltsam gewesen!”
“Ich werde mich jetzt stark konzentrieren, dann wird sehr schnell alles vorüber sein.”
Der Psychiater ergreift einen spitzen Brieföffner und umklammert ihn wie einen Dolch.
“HAHA! Worauf willst du deinen unglaubwürdigen Psychiater einstechen lassen, hm? Du hast nicht mehr die Kontrolle über mich und weißt daher gar nichts von mir, kannst nicht einmal beschreiben, wo ich mich befinde.”
Der Psychiater fuchtelt hektisch und ziellos mit dem Brieföffner herum und trifft nur ins Leere.
“Die vielen Menschen dort draußen sind mögliche Nachfolger, aber sie sind deine Falle, in die ich nicht tappen werde. Das ist das Ende deiner Geschichte, Kevin! Du hast verloren, ich habe gewonnen. So wie immer!”