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Der Schwarze Wanderer

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21.08.2005
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Der Schwarze Wanderer

Sie ahnten ja nicht, was ihnen bevorstand…
Mark Twain – Tom Sawyer & Huckleberry Finn


Kapitel 1

„Wo sind deine Hausaufgaben, hm?“
Weg von hier, lauf, verlasse diesen Ort, solange du noch kannst… „Ich habe gefragt, wo deine Hausaufgaben sind, Junge.“
Er geht jetzt schneller vor dir auf und ab, und hörst du seinen Atem? Fast schon hechelnd. Es dauert nicht mehr lange… Mach schon, lauf, flieh in den Wald, da, wo die Sonne scheint, flieh unter die mächtigen Baumkronen, da, wo es friedlich und warm ist, wo der Wind mit den Blättern spielt…
„Verdammt, wo sind deine scheiß Hausaufgaben, Sklave?“
KLATSCH
Er hat dich geschlagen, er hat dich geschlagen, mit seinem Gürtel!, er dreht auf, nein, weine nicht, heul nicht, lass ihn keine Träne von dir sehen, tu ihm nicht diesen Gefallen, du weißt, das macht alles nur noch schlimmer. Antworte ihm, sag ihm, was er hören will, und dann flieh endlich!
„Ich habe sie vergessen, Herr!“
Sein Atem! Er schnauft! Jetzt antworte ihm noch auf seine nächste Frage und dann flieh!
„Soso, du hast sie also vergessen, sagst du. Nun, was denkst du, sollte man mit bösen Schülern tun, die ihre Hausaufgaben vergessen?“
Siehst du die Beule in seiner Hose, seiner dreckigen Arbeitssjeans? Er ist soweit. Antworte! Bring’s hinter dich! Antworte ihm und dann nichts wie weg, sag’s einfach!
„Man sollte sie bestrafen, Herr.“
„Richtig, man sollte sie bestrafen!“
In Ordnung, jetzt kannst du los! Er steht jetzt hinter dir und neigt seinen Kopf zu dir hinunter, sein Mund ist an deinem Ohr, du spürst seine langen, fettigen Haare, seinen stinkenden, heißen, hechelnden Atem, Bier, Alkohol, er ist ein Tier, ein Tier, zuck nicht zurück!
„Man sollte sie hart bestrafen, diese bösen Jungs und Mädchen!“
Er zieht dich von dem Stuhl hoch, führt dich an die Seite des Tisches, verdreht dir den Arm, ah, nicht so doll, zwingt dich, mit dem Oberkörper runterzugehen, bis du auf dem Tisch liegst, auf dem kalten, lackierten Holz, schnell, es wird Zeit, höchste Zeit! Flieh! Los! Seine Finger nesteln an deinem Gürtel herum, an deinem Knopf, an deinem Reißverschluss, ja, gut, lass los, drifte, er zieht dir die Hose runter, beeil dich!, er berührt deinen Hintern, ich weiß, du willst im Tisch versinken, aber die Bäume, denk an die Bäume!, ja, gut so, drifte hinüber, er streift dir die Unterhose herunter, ja, gut so, denk an die Bäume und an die Sonne und an den Frieden, er zieht seine eigene Hose herunter, spreizt deine Backen und stößt das harte Ding stöhnend in dich hinein, OH GOTT DIESER SCHMERZ, nein, er ist nicht in dein Innerstes eingebrochen, das ist nur deine Hülle, dein Innerstes ist für ihn unerreichbar, und trotzdem tut es so weh, auf doppelte Weise, aber du merkst den Schmerz kaum, du sitzt unter einer großen Eiche, die im leichten Wind rauscht, er stößt in dich hinein, nicht so tief, oh nicht so tief!, er stöhnt, ein Tier, ein rasendes Tier, und die Vögel singen, die Sonne malt durch die Blätter der Eiche tanzende Schattenspiele auf den weichen Waldboden, es ist warm, ruhig, friedlich, und die Vögel singen…
Schau kurz hinüber, ist es schon vorbei? Nein, aber fast, er schreit jetzt und grunzt, wie ein Schwein, wie ein Schwein, das ist doch nicht dein Vater, oh mein Gott, was ist es?, und zieht das Ding aus dir raus, wirbelt dich herum, stößt dich Richtung Tür, tritt dich, du hast es geschafft, wieder einmal, zieh dir die Hose hoch, verbirg dein Zittern vor ihm, wasch dir das widerliche, klebrige Zeug oben im Bad ab, und dann hol den Schlafsack und die Tasche aus deinem Zimmer und dann raus in den Wald, ins Baumhaus, zu Jan und Daniel, Jan und Daniel, ins Baumhaus, in den Wald, nur raus hier! Was brüllt er? Jaja, dasselbe wie immer, er bringt dich um, wenn du mit irgendwem darüber redest, nur raus hier, lauf…

Kapitel 2​

Die Haustür eines einst niedlichen, kleinen Einfamilienhauses, das inzwischen aber schäbig und verfallen aussah, wurde geöffnet, und ein Junge in Jeans und blauem T-Shirt, einen Schlafsack und eine Stofftasche von Kaisers über der linken Schulter, trat heraus und blinzelte in die helle Sommersonne, die an einem stahlblauen Himmel ohne das geringste Wölkchen mit voller Kraft auf die Erde herniederbrannte. Er hatte eine rote, geschwollene Wange, schaute hart und verkniffen, und sah ein wenig blass und schwächlich aus. Von drinnen war eine brüllende Männerstimme zu hören, die der Junge durch das hastige Zuziehen der Tür abschnitt. Dann sprang er die paar Stufen zur Erde hinunter und begann, sich seinen Weg durch einen Garten zu bahnen, der anscheinend seit einigen Jahren in keiner Weise mehr gepflegt worden war und nun, gerade im Sommer, einem vielfältig verschlungenen, wuchernden Dschungel glich, der sich alle Mühe gab, das Haus in seiner Mitte zu verschlingen, das scheinbar ebenfalls seit einigen Jahren nicht mehr gepflegt worden war. Die hellgelbe Fassade war schmutzig und von Wind und Wetter ausgeblichen, die Dachziegeln teilweise herausgebrochen oder mit Moos bewachsen, in den Fensterrahmen befanden sich zahllose Spinnennetze und die Fenster selbst waren so dreckig, dass man Mühe hatte, etwas durch sie hindurch zu erkennen. Einige Pfosten des Geländers an den paar Stufen, die zur Haustür führten, waren gebrochen, die Lampe über der Haustür war zersplittert, und die Regenrinne war auf Höhe der Haustür auseinandergerissen worden, vielleicht aufgrund der Last des Schnees im Winter, und so ragten die beiden Enden schräg nach unten, sodass man beim Betreten oder Verlassen des Hauses auf seinen Kopf aufpassen musste.
Das alles sah der Junge, der einen Blick zurück warf, und sich dann weiter durch schwitzende, nach ihm greifende Pflanzen zu dem einst weiß gestrichenen, halbverrottetem Gartentor vorarbeitete, das nur noch schief an einem Scharnier hing und durch wie es schien mutiertes Gras in seiner offenen Position fixiert wurde. Er passierte schnell das Tor, froh, aus dem mit feucht-schwerer Süße nach Fruchtbarkeit stinkenden Dickicht herauszusein, wandte sich dann nach links und ging auf dem Fußweg weiter.
Der Junge hieß Benny. Er war zwölf Jahre alt und lebte alleine bei seinem Vater, seit seine Mutter gestorben war. Da war er acht gewesen. Sein Vater, früher Lehrer, dann Lehrer und Säufer, und schließlich nur noch Säufer, war ein Tyrann, ein Sadist, der früher von seiner Frau mehr oder weniger in Zaum gehalten worden war, seit ihrem Tod aber ungehindert seine kranken Gelüste an Benny auslebte, der nicht den Hauch einer Chance hatte, sich zu wehren.
Benny berührte seine pochende, schmerzende Wange, die sich etwas taub und warm anfühlte, und zuckte vor Schmerz zusammen. Eine winzige und doch so vertrackte Frage tauchte wieder einmal wie ein lästiges, summendes Insekt in seinem Kopf auf: Warum?
Eine müßige Frage. Ebensogut hätte man fragen können, warum Soziopathen kein Mitleid empfanden oder Mörder mordeten. Benny hatte aufgehört, sich diese Frage zu stellen, als er begriffen hatte, dass die Antwort vielleicht, sogar wahrscheinlich, die Macht hatte, etwas in seinem Inneren zu zerstören. Und das hätte letztendlich ihn zerstört. Und eigentlich kam es für ihn nicht so sehr auf die Ursache, als vielmehr auf die Wirkung an. Sein Vater war krank, das hatte er ziemlich schnell begriffen. Nicht so, wie wenn einer seiner Freunde einmal in der Schule fehlte, weil er Fieber oder eine Erkältung hatte, krank, ja, aber auf eine andere Weise. Krank im Kopf. Oder im Herzen. Oder in beidem, da war sich Benny nicht ganz sicher. Der Name der Krankheit war Bosheit – und diese Bosheit bestand aus Hass, Wut, Aggression, Schmerz, Trauer und so weiter. Diese Gefühle bedingten sich teilweise gegenseitig, ergänzten sich im negativen Sinne, stachelten sich gegenseitig an und vermischten sich zu einem bösartigen, hässlichen, kreischenden und zuckenden Monsterball: der Bosheit.
Obwohl Benny das Ventil für die Bosheit seines Vaters war, hatte er es irgendwie geschafft, sich nicht von ihr ertränken zu lassen. Er hatte einen Weg gefunden, sich Gutes und Schönes in seinem Geist und in seinem Herzen zu isolieren und zu bewahren, und dahin zu fliehen, wenn es nötig war, und davon zu zehren. Ohne diese Gabe wäre er wohl schon längst selber ein Boshafter geworden, ein Ritter der Boshaftigkeit, denn Bosheit war ein Virus, das sich immer weiter fortpflanzte.
Und so gelang es Benny auch jetzt, das Boshafte in die schwarze, felsige und kalte Wüste seiner Seele zu verbannen und gleichzeitig den Raum mit dem Guten und Schönen, abgegrenzt zur schwarzen Wüste mit hohen, starken Mauern in bunten, hellen, freundlichen Farben, zurückzudrängen.
Er war inzwischen ein paar Mal abgebogen, hatte ein Gründerzeitgebäudeviertel mit den typischen „Mietskasernen“ durchquert, und ging jetzt in eine Sackgasse, eine römisch wirkende Allee mit etwa hüfthohen, quaderförmigen Steinen, die sich mit Bäumen in regelmäßigen Abständen an den Seiten abwechselten, die in den Wald führte, und mit jedem Schritt verscheuchte er das Boshafte weiter aus seinem hellen Raum des Guten und Schönen, seinem Elysium, ließ es an sich abperlen, verbannte es in die schwarze Wüste, mit jedem Schritt verdrängte er das Harte, Verkniffene aus einem Gesicht, bis er schließlich sogar mit einem leichten Lächeln und dem Gefühl von Freiheit in der Brust den angenehm kühlen, schattigen Wald betrat.

Benny hatte sich mit Jan und Daniel zum Übernachten in ihrem Baumhaus verabredet. Jan und Daniel waren seine beiden besten Freunde. Daniel war auch zwölf, Jan dagegen schon vierzehn. Er ging auch nicht in Bennys und Daniels Klasse, die 6c auf der Victor-Gollancz-Grundschule, sondern schon in die achte auf dem Georg-Herwegh-Gymnasium. Benny hatte Jan vor Jahren beim Spielen auf dem Spielplatz in seiner Straße kennengelernt und hatte ihm dann Daniel vorgestellt. Ab diesem Zeitpunkt waren sie drei praktisch unzertrennbar gewesen. Jan lebte ebenfalls alleine bei seinem Vater und hatte ähnliche Probleme wie Benny, jedoch längst nicht so schlimm. Trotzdem half es, wenn sie miteinander redeten und sich erzählten, was momentan bei ihnen los war, obwohl Benny nie das Schlimmste, was sein Vater mit ihm anstellte, angesprochen hatte. Daniel dagegen kam aus einer ganz normalen Familie. Er lebte im angrenzenden Stadtteil in einer Wohnung bei seinen Eltern und hatte eine kleine Schwester.
Das Baumhaus hatten sie vor einem Jahr angefangen zu bauen, und es war ein herrliches Abenteuer gewesen. Es hatte ihre „Burg“ werden sollen, ihr schützendes Heim in der wilden Welt des Waldes. Zuerst hatten sie sich einen geeigneten Platz dafür gesucht. Der musste gut versteckt sein, damit keine Räuber (Spaziergänger und Förster) ihn finden konnten und doch gleichzeitig so zentral, dass sie schnell an allen wichtigen Orten des Waldes, den sie wie ihre Westentasche kannten, sein konnten, z.B. im Tannen- oder Buchenbezirk, auf den Waldmeisterlichtungen, den „Bergen“ (auf denen man im Winter prima rodeln konnte), oder der „Wüste“ (goldgelbe, sandige Flächen, die in der heißen Sommersonne etwas von Strand hatten, mit nur ein paar krüppeligen Kiefern). Der Platz für das Baumhaus war schnell beschlossene Sache gewesen: bei den drei „ausgebrannten Eichen“. Diese drei mächtigen Eichen standen dicht beieinander und waren tatsächlich komplett ausgebrannt, höchstwahrscheinlich aufgrund von Blitzeinschlägen. Es waren eigentlich nur noch die Hauptstämme der Eichen vorhanden, die Äste waren alle mehr oder weniger abgebrochen oder verrottet. Die Rinde war nicht mehr da, das Holz darunter von Sonne und Regen ausgeblichen und blass. Die Stämme waren komplett ausgehöhlt und von innen schwarz verkohlt. Sie waren so groß, dass man sich durch einen Spalt auf Bodenhöhe, den alle drei Stämme hatten, bequem hineinstellen oder –setzen konnte, sogar zu zweit. Dann konnte man nach oben schauen und sah nur einen kleinen Kreis Himmel. Der Standort dieser drei Eichen war für ihre Zwecke perfekt. Er war weitab von Wanderwegen und nahe den „Bergen“, also relativ geschützt.
Sie hatten etwas von ihrem Taschengeld zusammengelegt, und waren in den Baumarkt gegangen, um Nägel und Bretter zu kaufen. Einen Hammer und eine Säge, einen Fuchsschwanz, hatten sie sich von Jans Vater „geliehen“ und dann hatten sie alles zu den ausgebrannten Eichen geschafft und losgelegt. Baum ihrer Wahl wurde natürlich eine riesige Eiche (eine gesunde), die für ein Baumhaus geeignete Verästelungen aufzeigte. Zuerst hämmerten sie ein paar zugesägte Bretter als Stufen an den Stamm und dann fuhren sie mit dem Boden des Hauses fort, der durch ein paar Bretter zwischen zwei mächtigen Ästen gegründet wurde. Darüber wurde dann Brett an Brett genagelt, bis sie, bis auf ein Loch als Eingang abgesehen, eine richtige Fläche hatten, die sogar einigermaßen gerade und ziemlich groß war. Dann kamen Eckpfosten und Wände, und schließlich das Dach, auf dem sie oben eine Plane festnagelten, damit es bei Regen nicht drinnen nass wurde. Das alles schafften sie natürlich nicht an einem Tag, es war vielmehr die Arbeit von vielen Wochenenden und Ferien. Das Haus war auch niemals fertig, vielmehr bastelten sie immer daran herum, hier noch eine kleine Änderung, da noch eine kleine Verbesserung. So hatten sie inzwischen eine richtige Falltür mit Scharnieren anstatt des Lochs, und sogar ein Fenster mit herausnehmbarem, durchsichtigem Plastik eingebaut. Außerdem hatten sie ein Sitzkissen, einen kleinen, leichten Sessel und einen Plastikstuhl, einen gut erhaltenen Teppich, einen kleinen Holztisch und einen Mülleimer vom Sperrmüll besorgt, sodass ihr kleines Baumhaus richtig wohnlich wurde.

Benny lief schnell durch den Wald und genoss die Ruhe und die Atmosphäre dieses Ortes – ja, das hier war in Wirklichkeit seine Welt, sein Zuhause. Nicht dieses kleine verfallene Horrorhaus inmitten dieses grünen Höllendschungels. Diese weite Welt, das war es! Schon als kleines Kind hatte er sich im Wald immer am wohlsten gefühlt. Benny lächelte jetzt und rannte sogar fast, so gut fühlte er sich. Er schaute hoch in den Himmel und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und den Wind mit seinen Haaren spielen. Er war frei.
Zumindest bis morgen Nachmittag. Dann würden sie wieder auseinandergehen und nach Hause müssen. Doch daran wollte Benny nicht denken. Morgen Nachmittag war noch so weit weg…
Er lief an den Weltmeisterlichtungen und dem Buchenbezirk vorbei, verließ dann die Wege und erreichte schließlich nach etwa einer halben Stunde die Berge. Schon bald darauf sah er die drei weißen Stämme der ausgebrannten Eichen und dann auch ihre Eiche und – endlich - ihr Baumhaus.
Das Fenster war herausgenommen worden und Benny hörte Stimmen, als er näherkam:
„…nein nein, hör zu, die sollten einen Aufsatz über Mut schreiben, und weißt du, was er gemacht hat?“
„Na was?“
„Er hat in sein Heft geschrieben das ist Mut, und dann hat er’s abgegeben!“
„Hö!“
„Ja! Und das Beste ist, er hat ’ne Zwei dafür bekommen!“
„Nein!“
„Doch!“
„Echt?“
„Wenn ich’s dir doch sage!“
„Krass, Mann!“
Gelächter tönte aus dem Fenster des Baumhauses. Benny, der unten stand, musste grinsen. Jan hatte Daniel gerade eine der ältesten Schülermythen erzählt, und Daniel hatte es anscheinend geglaubt. Immer noch grinsend suchte er mit den Augen den Boden nach etwas ab, was er nach oben durch das Fenster werfen konnte, aber er fand nichts Geeignetes. Schließlich wurde er sich seines Gepäcks bewusst und nahm seinen Schlafsack von der Schulter.
„Möchte wissen, wo Benny bleibt…“ Das war Daniel.
„Keine Sorge, der kommt schon.“ Das war Jan, ruhig und vernünftig wie immer. Benny musste wieder lächeln. Dann nahm er den Schlafsack in beide Hände und warf ihn wie einen Basketball nach oben durch das Fenster.
„He, ihr Waschlappen!“, rief er dabei. Zwei erstaunte Gesichter erschienen im Fenster, doch das Staunen verwandelte sich schnell in ein Lachen. Während Daniels Kopf gleich wieder verschwand, weil er sich an der Falltür zu schaffen machte, sparte Jan sich diesen Umweg und begann stattdessen, gleich durchs Fenster hinauszuklettern, wobei er rief:
„Galuschka, das hätte ich mir ja gleich denken können, dass du das bist!“ Galuschka war Bennys Spitzname, Jan nannte ihn manchmal so, obwohl sie beide nicht mehr wussten, wie der Name überhaupt entstanden war. Wahrscheinlich hatte einer von ihnen dieses Wort erfunden und dann hatten sie sich beide darüber schlappgelacht. Jetzt hing Jan mit beiden Händen an einem Ast und ließ sich vor Benny auf den Boden fallen. Schnell sprang er auf und umarmte Benny stürmisch, wobei sie beide lachten. Inzwischen war auch Daniel bei ihnen angekommen und warf sich mit auf die beiden, sodass sie alle drei lachend und stöhnend zu Boden gingen.
„Runter von mir… Ich krieg keine Luft mehr!“, rief Benny lachend und japsend.
„Das liegt daran, dass Daniel so fett ist“, entgegnete Jan, worauf Daniel empört aufschrie und versuchte, sich noch schwerer zu machen.
Schließlich bekamen sich die drei wieder ein, rappelten sich auf, und klopften sich ab.
„Und, Benny, alles klar bei dir?“, fragte Daniel.
„Na aber sicher.“
„He, was ist das denn?“, fragte Jan plötzlich und fasste leicht an Bennys schlimme Wange. Benny zuckte zusammen. Ganz plötzlich war es still und keiner sagte etwas.
„Ach…“, begann Benny und machte eine Vergiss-es-Handbewegung.
„Dein Vater?“, fragte Jan.
„Mh“, machte Benny.
Betretenes Schweigen. Jan legte Benny eine Hand auf die Schulter, drückte kurz und sah ihm dabei in die Augen. Daniel drehte sich diskret etwas weg. Dann nickte Jan Benny zu und lächelte. Der peinliche Moment war vorüber und auch Benny lächelte wieder.
„Und, was habt ihr so gemacht, bis jetzt?“, fragte Benny.
„Ach, Daniel hat mir verraten, dass er sich in Liz verliebt hat…“
„Achso, ja, davon hab’ ich auch schon gehört…“
„Was?“, fuhr Daniel auf, „Das stimmt überhaupt nicht! Ich… Liz… Wir…“ Als er merkte, dass die beiden ihn nur auf die Schippe nahmen, lief er sofort rot an wie eine Tomate.
Benny und Jan brachen in Gelächter aus und Jan legte ihm einen Arm um die Schultern.
„Ach Daniel, da ist doch nichts dabei!“
Daniel murmelte beleidigt etwas und Jan lachte wieder. Dann schaute er Benny an.
„Komm Benny, schmeiß deinen Kram rauf, wir wollten heute runter zum Fluss und ’nen Staudamm bauen.“ Damit wandte er sich wieder Daniel zu: „Stimmt doch, oder? Ooh, da ist aber jemand noch rot im Gesicht! Ach komm Daniel, da ist doch wirklich nichts dabei, Liz ist schon so ’ne kleine Süße…“ Benny lachte und sah den beiden noch einen Moment lang nach, wie sie in Richtung des Flusses losmarschierten. Dann kletterte er schnell ins Baumhaus, legte seine Kaisers-Tasche irgendwohin, stieg dann wieder nach unten, wobei er die Falltür schloss, und folgte den beiden zum Fluss.
Sie verbrachten dort den ganzen restlichen Nachmittag, indem sie versuchten, einen dichten Damm aus Steinen, Stöckern und Schlamm zu errichten, was zwar nicht so recht klappte, doch dafür setzten sie wenigstens eine halbe Waldmeisterlichtung unter Wasser, ohne es recht mitzubekommen, und als es langsam Abend wurde, kehrten sie nass und schlammbedeckt zum Baumhaus zurück. Sie beschlossen, ihre nassen Hosen und T-Shirts über die unteren Äste zum Trocknen zu hängen und saßen so in Unterhosen im Baumhaus und überprüften, was sie zu essen und zu trinken dabeihatten. Benny holte seine Feldflasche mit Wasser, sowie etwas Brot, Käse, und eine Salami aus seiner Kaisers-Tasche. Daniel hatte eine Packung Kekse und eine mit Müsliriegeln dabei und Jan legte eine Flasche Limonade dazu, auch etwas Brot, ein Taschenmesser, und eine Packung Frischei-Waffeln.
„Das sieht doch gut aus“, fasste Benny zusammen. Daniel und Jan stimmten zu, dann steckte Jan wieder die Hand in seinen Rucksack und sagte:
„Und schaut mal, was ich noch mithabe“, wobei er die Hand wieder herauszog und sie ihnen hinhielt.
„Mann, Zigaretten!“, rief Daniel.
„Mh-hm, hab’ ich meinem Alten geklaut“, grinste Jan. „Für jeden eine nach dem Essen.“
„Sauber!“, sagte Benny.
Also ließen sie es sich schmecken und pafften dann jeder eine von Jans mitgebrachten Pall Mall, wobei sie sich ungeheuer erwachsen und cool vorkamen.
Dann spielten sie noch etwas Karten, „Schwimmen“ und „Pik-Dame“, und später stellten sie die Stühle zusammen, damit sie Platz für ihre Schlafsäcke hatten. Als diese dann ausgebreitet waren und die Jungen darinlagen, redeten sie noch lange über die Schule, ihr Freunde, Mädchen, Lehrer, Fernsehserien, Comics und alles mögliche andere, und schließlich schliefen sie ein.
Mitten in der Nacht wachte Benny ganz plötzlich mit einem Mal auf. Er war sofort hellwach und versuchte herauszufinden, warum er aufgewacht war. Ihm war kalt. Hatte er etwas gehört? Nein, aber er hatte etwas gespürt, doch was? Aber es entglitt ihm schon, obwohl es eben noch so präsent und… groß gewesen war. Da war nur ein Satz, der in seinem Kopf widerhallte: Alte, zeitlose Mächte schreien auf. Was sollte das bedeuten? War das aus einem Traum? Oder hatte sein Gehirn die Ursache seines Aufwachens auf irgendeine grotesk verzerrte Weise in diesem Satz verarbeitet? Er lauschte auf das Atmen der beiden anderen, alles war normal. Trotzdem stand er auf und schaute aus dem Fenster. Schwarze Bäume auf schwarzem Boden vor schwarzem Himmel. Die Sterne und der Mond spendeten ein schwaches, flüssig wirkendes, silbriges Licht. Alles war ruhig. Plötzlich bemerkte er, dass er seinen Atem sehen konnte. Wie konnte das angehen? Es war mitten im Sommer und selbst die Nächte waren eigentlich so warm, dass man problemlos ohne Decke im Freien schlafen konnte...
Die Müdigkeit legte sich bleiern auf Bennys Lider und er beschloss, alle weiteren Überlegungen darüber auf später zu verschieben.
Nach einer Weile legte er sich wieder hin, kuschelte sich tief in seinen Schlafsack und schlief erneut ein.

Kapitel 3​

Am nächsten Morgen wurden sie früh von hellem Sonnenschein und lautem, vielfältigen Vogelgezwitscher geweckt.
Benny erinnerte sich sofort an sein plötzliches Erwachen und an die Kälte, doch er kam zu dem Schluss, dass er sich getäuscht haben musste. Es war genauso warm, wie es sein sollte. Warum sollte es in der Nacht plötzlich so viel kälter sein als normalerweise? Wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet, vielleicht war es ein Traumelement gewesen, das nicht gleich mit dem Aufwachen verschwunden war, sondern sich hartnäckig in seinem Verstand gehalten hatte.
Nachdem sie ihre getrockneten Sachen angezogen hatten, aßen sie die Reste ihres Abendbrots und waren dann auch schon wieder unterwegs, erst wieder runter zum Fluss, wo sie wieder eine Weile am Damm herumbauten, dann in die Wüste, wo sie sich erst in der Sonne, dann, als es zu heiß wurde, im Schatten ausruhten und unterhielten, und anschließend wieder im Wald beim Krieg zwischen Rothäuten und Weißen spielen, mit Stöckern als Gewehren oder Speeren und Lanzen, und Verstecken. Außerdem bauten sie sich Bogen aus biegsamen Ästen und Paketschnur, die Jan dabeihatte, und Pfeile aus mit dem Taschenmesser zugespitzten, dünnen und geraden Zweigen. Sie legten in der Wüste eine 50-Meter-Markierung aus Ästen in etwa 5-Meter-Abständen an und schossen dann mit ihren Bogen um die Wette. Bennys war der beste; seine Pfeile flogen als einzige über die 30-Meter-Markierung hinaus.
Schließlich kam die Zeit, da sie wieder nach Hause aufbrachen. Sie verstauten die Bogen im Baumhaus, packten ihre Sachen zusammen, nahmen den Müllbeutel aus dem Mülleimer mit, setzten das Fenster wieder ein und schlossen sorgfältig die Luke.

Als sie durch den Wald marschierten, setzte Daniel sich bald an die Spitze, er war gutgelaunt, freute sich auf Zuhause, auf seine Schwester und seine Eltern, während Jan und Benny ihm mit gesenkten Köpfen folgten. Sie freuten sich natürlich nicht, im Gegenteil, Benny malte sich gerade aus, dass das Grundstück mit dem schäbigen Haus seines Vaters in dem mutierenden Dschungel irgendwie gar nicht zum Rest der Welt gehörte. Es fügte sich zwar nahtlos in diese Welt ein, doch das war nur eine Illusion, eine Täuschung, überlegte er, denn wenn man es betrat, verschwand der Rest der Welt, und es gab nur noch das Grundstück, das eine eigene, viel bösere Welt darstellte. Benny stellte sich das Grundstück vor und wie der Rest der Welt drumherum einfach verschwand, sich in Nichts auflöse, während er das Grundstück betrat und wie es dann, alleine und getrennt von allem, vielleicht noch mit ein bisschen Erde darunter, durchs schwarze Weltall flog, Sterne im Hintergrund… Mit dem Betreten des Grundstücks verließ man die normale Welt. Anders herum betrat man sie wieder, wenn man es verließ, dann fügte es sich wieder nahtlos in die normale Welt ein…
Mit solchen Gedanken beschäftigt lief Benny fast in Daniel hinein, der stehengeblieben war.
„He, pass doch auf, was ist denn?“, fragte er.
„Hört doch mal“, antwortete Daniel nur.
Benny nahm seine Umwelt wieder bewusster war und schaute sich um. Sie waren fast am Ende des Waldes angekommen, vielleicht noch etwa zehn Minuten zu gehen. Er lauschte, und hörte plötzlich weit entfernten Krach, wie von zerberstenden Gegenständen. Auch ein paar Alarmanlagen waren zu hören.
„Was ist da los?“, fragte Jan, der auch angestrengt gelauscht hatte.
„Keine Ahnung“, entgegnete Daniel, und ging weiter. Jan und Benny folgten ihm.
Je näher sie dem Waldende kamen, desto deutlicher hörten sie die Geräusche und desto stärker fühlten sie, dass etwas nicht stimmte. Wenn etwas passiert war, also eine Sache, dann konnte es Lärm geben, aber die Geräusche vor ihnen schienen nicht von nur einer Quelle zu stammen, sondern von der ganzen breiten Stadt vor ihnen. Manche Geräusche kamen fast ganz von links, andere direkt von vorne, und andere fast ganz von rechts.
Sie fingen an zu laufen.

Als sie aus dem Wald heraus und auf die Sackgassen-Allee traten, bot sich ihnen ein Bild der Zerstörung. Rechts von ihnen befanden sich hinter einem niedrigen xxx-förmigen Holzzaun einige 3-stöckige Mietskasernen. Nahezu alle Fenster waren eingeschlagen, Scherben glitzerten unten im frischgemähten Rasen. Aus einer oberen Wohnung leckten Flammen aus drei Fenstern und schwärzten die Hauswand und das überstehende Dach mit ihrem Ruß. Auf dem Rasen hinter dem Zaun lagen ein paar Möbel; Holz- und Plastiktische, gepolsterte Stühle, Steh- und Leselampen, sogar ein gelb-orangenes Sofa und eine Stereoanlage, deren Boxen herausgerissen in der näheren Umgebung lagen. Gerade flog ein drehbarer, schwarzer Schreibtischstuhl mit ergonomischer Lehne begleitet von einem Brüllen klirrend durch eins der eben noch heilen Fenster und fiel holpernd auf den Rasen. Zu ihrem Entsetzen bemerkten die Jungen, dass auf dem Boden ebenfalls einige Körper lagen. Da war eine Frau in einem beigefarbenen Schlafanzug, die in unnatürlich gekrümmter Haltung auf dem Bauch lag. Ein dunkelroter, fast schwarzer Fleck hatte sich auf ihrem Rücken ausgebreitet. Unter den Fenstern mit den Flammen lag ein Körper auf dem Boden, der offensichtlich verbrannt war; die Kleidung der Person hatte sich in das Fleisch eingebrannt, sodass beides zu einem grauenerregenden Brei geschmolzen war. Scharfe, dünne Rauchfähnchen stiegen noch davon auf.
Die linke Seite der Allee wurde durch eine hohe, akkurat gestutzte Lebensbaumhecke den Blicken der Jungen entzogen, doch waren dahinter dieselben Geräusche zu vernehmen; Scheppern, Klirren, Krachen, jaulende Sirenen. Es roch verbrannt. Bis jetzt hatten die Jungen noch keine lebende Person gesehen, sie hatten nur den Schrei gehört, der ertönt war, als der Schreibtischstuhl durchs Fenster auf den Rasen gefallen war.
Plötzlich bog ein arg mitgenommen aussehender weißer Opel Kadett mit laut quietschenden Reifen, einem Affenzahn und ruckartigen Bewegungen am Ende der Allee um die Ecke, und hielt direkt auf die Jungen zu. Dann zog er plötzlich nach links und fuhr direkt auf einen der hüfthohen Steine. Der Stein wurde umgekippt, das untere Erde aus der Erde herauskatapultiert, eine Wolke aus Erde und Sand wirbelte auf, doch dann fuhr der Wagen mit einem Rumms gegen den nächsten Baum, der heftig erzitterte und ein paar Blätter fallen ließ, und wurde so ruckartig zum Stehen gebracht, wobei die Front etwas eingedrückt wurde und die Motorhaube aufsprang. Aus dem Inneren des Wagens drangen Wutschreie. Die Fahrertür wurde heftig aufgestoßen. Die Jungen sahen einen Mann in Jeans, einem T-Shirt mit der Aufschrift

ICH KANN NICHTS DAFÜR,
ICH BIN SO!​

und einer Fliegerbrille auf der Nase auf dem Fahrersitz sitzen. Blut lief ihm aus den schwarzen Haaren, die ihm wirr ins Gesicht hingen, über die Nase und Wangen in seinen Kragen, der sich dunkel zu verfärben begann. Der Mann wollte gerade aussteigen, als ihn die zurückfedernde Tür erwischte und ihn ins Innere des Wagens zurückstieß. Wieder schrie der Mann und trat die Tür mit aller Kraft wieder auf, woraufhin diese ihn wieder erwischte, diesmal genau am vorgestreckten Kopf, und wieder zurückwarf. Ungläubig starrten die Jungen das Schauspiel an, das sich noch ein paar Mal wiederholte. Der Mann schien nicht zu begreifen, warum ihn die Tür immer und immer wieder traf und er wurde immer wütender, bis er schließlich so heftig zutrat, dass die Scharniere der Tür brachen und sie wie ein gebrochener Arm vom Wagen abstand. Dann grunzte der Mann befriedigt und hievte sich endgültig aus dem Wagen. Das Blut hatte sich inzwischen vermehrt und zog sich nun wie ein riesiger Schweißfleck bis zum Gürtel des Mannes. Benny bemerkte Blutspritzer auf dem Fenster der abstehenden Tür des Wagens, die in der Sonne rot leuchteten. Der Mann wandte den Kopf zum Himmel, so als hätte er ein Flugzeug gehört, und die Jungen sahen, dass seine Nase ganz schief war. Dann öffnete er den Mund und brüllte, wobei ein feiner Sprühregen aus Blut und Speichel seinen Mund wie einen Springbrunnen verließ und langsam zu Boden sank. Die Jungen wichen einen Schritt zurück.
„D… Der ist vollkommen verrückt, oder?“, flüsterte Daniel.
Der Mann schien nun wieder das Auto zu bemerken, beugte sich hinein und förderte einen länglichen Gegenstand zu Tage.
„Scheiße, zurück, er hat ein Gewehr!“, rief Benny und zog Jan und Daniel an ihren T-Shirts zurück. Im selben Moment schwenkte der Mann die Mündung des Gewehrs in ihre Richtung, grinste, und drückte ab.
Der Knall war ohrenbetäubend laut, ein paar Vögel stoben keifend aus den nahen Bäumen auf, und eine kleine Rauchwolke stieg aus der Mündung des Gewehrs auf in den Himmel und verlor sich in der sirrenden Luft. Benny zerrte Jan und Daniel hinter die nächste große Eiche.
„Hat er euch erwischt?“, fragte er panisch, „Hat er euch erwischt?“ Beide schauten kurz zitternd an sich herab und schüttelten den Kopf. Dann begannen sie, an den Seiten der Eiche vorbei zu dem Mann hinüberzuschielen, Jan und Benny auf der linken, Daniel auf der rechten Seite.
Unglaublicherweise schien der Mann sie vergessen zu haben. Er ging ein bisschen auf der Stelle herum, schaute mal hoch in den Himmel, mal rüber zur Hecke, bemerkte das Auto, trat dagegen, dann bemerkte er das Gewehr in seiner Hand, fuchtelte ein bisschen damit herum, richtete die Mündung dann auf seinen Bauch und drückte dümmlich grinsend ab.
Der Mann stand in diesem Moment genau seitlich zu den Jungen, sodass sie sahen, wie ein rotes Bündel, wie eine Qualle, schoss es Benny durch den Kopf, aus dem Rücken des Mannes fetzte, eine rote Spur hinter sich herziehend durch die Luft flog, und mit einem hässlichen Platschen auf dem Boden landete, das sich anhörte, wie wenn ein Fleischer sich ein Stück Fleisch auf die Arbeitsplatte packt, um es zu verarbeiten. Der Mann drehte sich zu ihnen, sodass sie durch das Loch in seinem Bauch hindurchsehen konnten, brüllte, aber nicht vor Schmerz, sondern eher triumphierend, und betätigte noch ein paar Mal den Abzug. Mit dem ersten Schuss traf er einen der hinteren Reifen des Kadetts, der daraufhin mit einem lauten PFFFFF seine Luft herausließ und sich auf dieser Seite etwas dem Boden zuneigte, mit dem zweiten seinen rechten Fuß, der sich daraufhin in einen Klumpen aus schwarzem Leder und rotem Fleisch verwandelte und dann ertönte jedes Mal nur noch ein Klicken aus dem Gewehr. Der Mann humpelte noch etwas herum, betrachtete scheinbar staunend seine Eingeweide auf dem Boden und fiel dann schließlich um.
„W… Was zum… Was zum… Scheiße, Mann, war das ein Verrückter?“, fragte Daniel mit zitternder Stimme. Benny bemerkte, dass seine Finger die Rinde der Eiche fest umklammerten und befahl ihnen, sie loszulassen, was sie erst widerwillig taten, nachdem er den Befehl im Geiste ein paar Mal nachdrücklich wiederholt hatte.
„Muss wohl“, sagte er, ebenfalls mit zittriger Stimme und trat hinter dem Baum hervor. Die anderen folgten ihm. Sie gingen mit weichen Knien an der Leiche des Mannes vorbei, die immer noch zu grinsen schien, und Benny beugte sich kurz darüber, weil er aus einem plötzlichen Impuls heraus sehen wollte, ob er die Steine der Straße durch das Loch im Bauch sehen konnte.

(ICH KANN  HTS DAFÜR,
ICH   SO!)​

Er konnte.
Sie gingen weiter auf der Alle entlang, versuchten, das rote, matschige Bündel mit den ersten fetten, metallisch glänzenden, brummenden Fliegen darauf zu ignorieren und warfen einen Blick in das Innere des Wagens, ohne etwas Besonderes zu entdecken. Am Spiegel hing eine Miniaturdiskokugel, die noch ein wenig hin- und herbaumelte und kleine, helle Reflektionen im Inneren des Autos herumtanzen ließ. Daniel wollte das Gewehr aufheben, aber Jan zischte:
„Lass das liegen! Hast doch gesehen, dass es leer ist!“
Also ließ Daniel es wieder fallen und zusammen gingen sie weiter. Als sie die Allee passiert hatten und auf der Kreuzung standen, schauten sie nach allen Seiten, doch überall bot sich ihnen dasselbe Bild von Zerstörung. Irgendwo ran- oder raufgefahrene Autos, beschädigte Zäune, eingeschlagene Fenster, einige Leichen, Lärm aus allen Richtungen – es herrschte Chaos. Ein Gefühl traumhafter Unwirklichkeit überkam Benny, wie er da auf der Kreuzung stand und sich um seine eigene Achse drehte. An mehreren Stellen stiegen schwarze Rauchsäulen zum Himmel auf.
„Sind denn alle verrückt geworden?“, murmelte er.
„Sieht so aus“, erwiderte Jan.
„Ok“, sagte Benny und versuchte, seine Emotionen beiseite zu schieben, das Ganze nüchtern und sachlich zu betrachten, was schwer war. Was war jetzt zu tun?
„Lasst uns erstmal zu mir, das ist am nächsten. Mein Vater hat eine Pistole in seinem Arbeitszimmer. Vielleicht finden wir auf dem Weg raus, was los ist.“
Kein Widerspruch ertönte, nur zustimmendes Gemurmel, und so gingen sie los.

Die Stadt schien wie verlassen. Auf ihrem Weg sahen die Jungen überall Spuren von Verwüstung und grausam zugerichtete Leichen. Sie hörten weiterhin einige Alarmanlagen und Krachen und Scheppern, doch sie sahen keinen einzigen lebenden Menschen, bis sie ein weiteres Mal nach links abbogen. Auf der Straße vor ihnen befanden sich viele Autos, die meisten mehr oder weniger arg demoliert, mit zersplitterten Scheiben, Beulen, Dellen und Kratzern. Ein Auto war sogar durch einen massiven Metallzaun aus schwarzen, lanzenartigen Stangen auf ein luxuriöses Grundstück gefahren worden, wo es nun mit der Schnauze vornüber im Pool hing. Die Jungen hörten eine Alarmanlage und ein rhythmisches Krachen vor sich, und als sie ein Stückchen weitergingen, sahen sie eine alte Frau mit wirrem, grauem Haar, in einem zerrissenen, hellblauen Morgenmantel und dazu farblich passenden Pantoffeln, die wie wild mit einem Baseballschläger auf ein Auto einschlug, einen blauen Golf, der warnblinkend am Straßenrand parkte und dessen Alarmanlage es war, die sie hörten.
Benny überlegte gerade, ob es so schlau wäre, sie anzusprechen. Andererseits, woher sollten sie sonst erfahren, was zur Hölle hier passiert war, als ihm die Entscheidung abgenommen wurde. Rechts tauchte plötzlich ein kleines Kind hinter einem gemauerten Torpfosten auf, ein Mädchen in einem einteiligen rosa Schlafanzug mit roten Knöpfen vorne dran und Blütenmuster, braunen, schulterlangen Haaren, nicht älter als vielleicht vier. Das kleine Mädchen sah die Frau und fing an, plärrend auf sie zuzulaufen. Die Frau hielt inne, hob den Kopf, drehte sich um und erblickte das Kind. Sie grinste und hob den Baseballschläger.
„Nein, das kann sie doch nicht…“, murmelte Jan. Das Plärren des Kindes verwandelte sich in ein gieriges Kreischen, es fletschte die Zähne und streckte die Hände gleich Krallen aus, rannte weiter auf die Frau zu und diese begann zu knurren, tief aus der Kehle, und schlug zu.
Der Schläger traf mit dem satten Geräusch einer zerplatzenden Wassermelone auf den Kopf des kleinen Mädchens, das durch die Wucht des Schlages durch die Luft flog, an die Seite eines froschgrünen Mini-Coopers klatschte und dort zu Boden fiel. Die Frau stürzte mit einem brutalen Aufschrei hinter dem Kind her und schlug nun wie besessen mit hoch über den Kopf erhobenem Baseballschläger auf das rosa Blütenbündel zu ihren Füßen ein. Als das Blut mit jedem Schlag zu spritzen begann, warf sie den Schläger fort, der scheppernd und Blutspuren malend auf den Gehweg fiel, und trat stattdessen auf das Kind ein. Als Benny die Drehbewegung sah, die sie dabei machte, so wie wenn man eine Zigarette austritt, rebellierte etwas in seinem Magen und er hatte gerade noch Zeit, sich etwas vornüberzubeugen, bevor er sich auf die Straße übergab. Daniel tat es ihm gleich, nur Jan konnte sich beherrschen. Seine Augen waren schreckhaft geweitet, die Kiefermuskeln traten hervor und er atmete scharf ein und aus, doch er übergab sich nicht, und drängte Benny und Daniel schließlich zum Weitergehen.
Geduckt liefen sie an der Frau vorbei, die sie nicht zu bemerken schien und nur wie ein Hahn umherstolzierend in den Himmel starrte, weiter die Straße entlang.
Ab diesem Punkt nahm Benny seine Umwelt wie durch einen Filter da. Seit er gesehen hatte, was die verrückte Frau mit dem kleinen Mädchen getan hatte, schien der Rest nicht mehr so schlimm zu sein. Jan und Daniel schien es ähnlich zu gehen. Mehr oder weniger stumpf marschierten sie zu dritt mit Blick auf den Boden durch die Straßen, erschraken nicht, wenn neben ihnen etwas explodierte oder aus einem Fenster flog, zuckten nicht mehr zusammen.
Als sie schließlich bei Bennys Haus ankamen und das Gartentor passierten, dachte Benny daran, wie er sich im Wald ausgemalt hatte, dass das Grundstück eine ganz eigene Welt war, und es kam ihm so vor, als wären mindestens 100 Jahre vergangen, seit er das gedacht hatte.
Nachdem sie sich ihren Weg durch den grünen, schwitzenden Dschungel gebahnt hatten, standen sie vor der Haustür.
„Vorsicht jetzt. Kann sein, dass mein Vater jetzt auch einer von diesen Verrückten ist, also was auch passiert, haltet euch einen Fluchtweg frei, ok?“
Jan und Daniel nickten stumm. Benny schloss die Haustür auf und sie traten ein.

Es war angenehm kühl in dem Haus, aber es stank auch. Nach Müll und dreckigem Geschirr und natürlich nach Alkohol. Das Arbeitszimmer befand sich im Erdgeschoss. Sie mussten nur den Flur entlang und ganz hinten die Tür rechts nehmen.
„Vater?“, rief Benny.
Keine Antwort. Er rief noch einmal, doch alles blieb still. In Benny stieg eine dunkle Vorahnung auf. Wie im Traum ging er den Flur entlang. Die Tür zum Arbeitszimmer stand einen Spaltweit offen. Er lehnte sich nach links und linste in den Raum, wobei er die Tür langsam aufschob. Direkt vor der Tür lag die umgestürzte Kommode, sodass er sie mit der Schulter aufdrücken musste. Das Zimmer war verwüstet, so als hätten Einbrecher etwas Bestimmtes gesucht. Die Schränke und der Schreibtisch waren umgestürzt, Schubladen, deren Inhalt nun auf dem Boden verteilt lag, herausgerissen worden. Ebenfalls auf dem Boden lag Bennys Vater. Er trug seine dreckige Arbeitsjeans und ein bis zu den Ellenbogen aufgekrempeltes, kariertes Holzfällerhemd, das an mehreren Stellen zerrissene war. Seine langen, fettigen Haare lagen teilweise in der großen Blutlache und hatten sich vollgesogen.
Sein Vater lag auf dem Bauch, die Glieder weit von sich gestreckt, und anstelle seines Hinterkopfes klaffte ein großes Loch, durch das man in den Kopf hineinsehen konnte. Die Pistole lag neben seiner Hand auf dem Teppich, neben der Lache. Benny ging ohne jegliches Gefühl in den Beinen zu ihr und nahm sie. Dann suchte er mit den Augen nach der Patronenschachtel, die immer in einem der Schränke gewesen war. Er fand sie unter ein paar Leitz-Ordnern mit Steuerunterlagen von vor etlichen Jahren und steckte sie ebenfalls ein. Seinen Vater ignorierte er. Seltsamerweise fühlte er erstaunlich wenig. Hätte er sich freuen sollen? Hätte er traurig sein sollen? Beides konnte er irgendwie nicht richtig. In einem Moment überkam ihn das Gefühl, seinen Vater, so wie er da lag, zu treten, im nächsten dachte er, dass er das nicht machen könne, immerhin sei dies sein Vater.
Wenn er ehrlich war, spürte er nur eine lähmende Gleichgültigkeit, was aber sicher auch daran lag, dass er heute schon so viel Schreckliches gesehen hatte. Den verbrannten Mann auf dem Rasen, den Mann, der erst auf sie und dann sich selbst in den Bauch geschossen hatte, die alte Frau, die wie eine rasende Furie mit ihrem Baseballschläger auf das kleine Mädchen eingedroschen und -getreten hatte… Wenn er ehrlich war, fühlte er sich nur stumpf.
Er drehte sich zur Tür um und sah Jan und Daniel, die mit großen, hervorquellenden Augen auf die Leiche seines Vaters starrten.
„Kommt, wir gehen ins Wohnzimmer“, sagte er und drängte Jan und Daniel zurück in den Flur und dann ins Wohnzimmer. Den Weg über war er irgendwie abwesend, im Geiste war er noch im Arbeitszimmer, als er plötzlich bemerkte, dass er und die anderen sich aufs Sofa gesetzt hatten. Er gab sich selbst eine Ohrfeige, um irgendwie wieder aufzuwachen und ging in die Küche, um Limonade und drei Gläser zu holen. Sie tranken schweigend und langsam. Das tat Benny gut, er fühlte sich schon etwas besser.
„Also…“, begann er, doch Daniel fiel ihm ins Wort:
„Müssen wir hier bleiben?“ Sein Blick zuckte immer wieder zur Tür. Aus unerfindlichen Gründen wurde er das Bild nicht los, wie Bennys Vater mit einem kleinen, unscheinbarem Loch in der Stirn, und einer dezenten Blutspur vorbei an seiner Nase runter in seinen Kragen, hereinkommen und ganz normal tun würde, bis sie die Bluttropfen bemerkten, die hinter ihm zu Boden fielen und wie er sich dann ganz langsam umdrehen würde und sie sehen würden, dass er keinen Hinterkopf mehr hatte, und dann würde er sich wieder zu ihnen umdrehen, seine Augen würden grau und leer sein, und auf einmal wäre er höllisch schnell…
„Ich meine…“, sein Blick fand wieder die Tür, „Ich meine, dein Vater…“
„Wo willst du denn sonst hin, Mann?“, fragte Jan. „Willst du vielleicht wieder raus zu der Frau mit dem Baseballschläger? Oder meinst du, bei dir zu Hause sieht’s besser aus?“ Da schwieg Daniel, so als wäre ihm etwas sehr Wichtiges klar geworden und schaute zu Boden. Benny warf Jan einen warnenden Blick zu. Seiner Meinung nach war es nicht besonders klug, über Daniels Familie zu reden, und über das, was möglicherweise mit ihr geschehen war, doch er sah Jan an, dass dieser schon bereute, was er gerade gesagt hatte.
„Daniel, tut mir leid…“, begann Jan, doch Daniel reagierte nicht, sondern schaute nur weiter auf den Boden.
„Ok, ok“, griff Benny ein. „Mir gefällt’s hier mindestens genauso wenig wie dir, Daniel, und Jan glaube ich auch.“ Jan nickte grimmig. „Aber wir müssen jetzt erstmal nachdenken, was zu tun ist. Was für uns zu tun ist. Wenn wir das wissen, also einen Plan haben, verschwinden wir hier, so schnell wie es geht, in Ordnung?“ Daniel schaute auf und nickte, behielt aber einen ernsten Ausdruck bei, der nicht recht zu einem 12-jährigen passen wollte. Eher zu einem Erwachsenen, dem etwas wirklich Schlimmes passiert war.
„Klar, tut mir leid. Ist nur wegen…“, er machte eine vage Geste mit der Hand Richtung Tür.
„Gut, kein Problem, uns geht’s schließlich genauso, oder Jan?“ Jan nickte wieder.
„Klar, Mann.“
„Also“, fuhr Benny fort, „Die große Frage ist: Was, zum Teufel, ist hier los?“
Einen Moment lang schwiegen alle.
„Naja“, begann Daniel, „Also, irgendwie scheint es, als wären alle irgendwie wie verwandelt. Sie schreien rum, sind aggressiv, wollen nur zerstören und verletzen, machen Chaos… Und sie wirken so dumm! Als ob sie plötzlich den Verstand verloren hätten und nur noch wie Tiere auf irgendwelche Reize reagieren. Es ist“, sann er weiter, „so als wären sie zu etwas anderem geworden, wie so zu…, zu…“ Er zierte sich, das auszusprechen, was er dachte.
„Zombies“, sagte Benny leise, „Das meinst du doch, oder?“
„Ja, genau!“
Benny und Jan nickten.
„Da hab ich auch schon dran gedacht“, sagte Jan, „Aber glaubt ihr, Zombies können Autofahren? Oder überhaupt rennen?“
„Rennen vielleicht“, antwortete Benny, „Aber Autofahren auf keinen Fall.“
„Sie waren wie blind vor Wut, überhaupt nicht mehr menschlich, keine Moral mehr. Man stelle sich vor, eine alte Frau… Ein kleines Kind… So, als ob sie voller Hass wären. So voll davon, dass sie sich letztendlich selbst umbringen…“, dachte Daniel laut.
„Aber woher kommt dieser Hass?“, warf Benny ein.
„Oder wohin ist die Vernunft, die Menschlichkeit, die Moral verschwunden?“, fragte Jan.
„Ist es das, was vom Menschen übrig bleibt, wenn das Gute im Menschen wegfällt? Aber warum ist es weggefallen? Und wie?“, dachte Benny laut.
„Naja, es muss auf jeden Fall über Nacht passiert sein, als wir im Baumhaus waren. Die meisten Leute, die wir gesehen haben, hatten ja auch Schlafsachen an. Jedenfalls war gestern Nachmittag noch alles in Ordnung, oder habt ihr irgendwas bemerkt, als ihr losgegangen seid?“, fragte Jan. Benny und Daniel schüttelten die Köpfe. „Mhm, also über Nacht. Habt ihr irgendwas bemerkt in der Nacht?“ Benny dachte kurz daran, wie er aufgewacht war,
(Alte, zeitlose Mächte schreien auf.)
die Kälte, denk an die Kälte, du konntest deinen Atem sehen!, und nicht gewusst hatte, warum, aber er schüttelte wie Daniel den Kopf. Schließlich war nichts gewesen. Oder vielleicht doch?, fragte die Stimme leise in seinem Kopf. „Mhm“, machte Jan wieder. „Ich auch nicht. Also weiter. In Zombiefilmen ist es doch so gut wie immer ein Virus, das alles auslöst. Kann das auch hier der Fall sein?“
„Theoretisch schon“, führte Benny fort, „Aber das müsste ein extrem aggressives Virus sein, wenn es das alles in einer Nacht und zwei halben Tagen angerichtet hat. Und dann wären wir wohl auch infiziert. Fühlt ihr euch irgendwie komisch oder so?“ Benny erschrak über seine eigene Frage. Erneut überkam ihn ein Gefühl traumhafter Unwirklichkeit. Konnte es sein, dass sie hier saßen, sich unterhielten und Limonade tranken, während irgendein bösartiger Virus daran arbeitete, alles Gute in ihnen einfach auszulöschen und sie zu hirnlosen Zombies zu machen?
„Moment, Moment“, fiel Daniel ein. „Bei Zombies ist das anders. Da sterben Menschen und der Virus erweckt ihre toten Zellen wieder zum Leben. Und dann sind halt nur noch so Grundbedürfnisse da, sonst nichts, wie eben … fressen, zum Beispiel. Aber waren die Leute, die wir gesehen haben, tot? Also untot, meine ich? Der Mann mit dem Gewehr? Der sah recht lebendig aus, nur seine Nase war gebrochen… Die alte Frau ebenso… Und das Kind erst recht. Außerdem“, fuhr er fort, „Habt ihr gesehen, dass die Frau das Kind fressen wollte?“
„Nein“, erwiderte Benny, „Da hast du schon Recht, aber es könnte trotzdem ein Virus sein. Nur, wo sollte der herkommen? Hier gibt es keine militärischen Forschungslabore oder so…
Vielleicht wurde er irgendwie eingeschleppt? Und außerdem glaube ich, dass wir dann schon was davon spüren müssten. Ich meine, guckt euch doch die Stadt an. Alles zerstört. In zwei Tagen. Wir haben drei lebende Menschen gesehen. Auf dem ganzen Weg. Und die haben sich selbst umgebracht, oder gegenseitig und die alte Frau wird sich bestimmt noch selbst umbringen oder hat es schon getan, so durchgeknallt, wie die war. Außerdem, glaube ich, ist der Lärm leiser geworden, seit wir aus dem Wald raus sind. Alles spielt sich also, wenn wir’s jetzt echt mal annehmen, in zwei Tagen ab. Infektion, Mutation und Zerstörung, schließlich Selbstzerstörung. Dann müssten wir doch langsam was merken, oder?“
„Vielleicht, vielleicht auch nicht“, sagte Jan. „Jedenfalls ist das müßig. Wenn wir mutieren, werden wir’s schon merken. Oder hoffentlich auch nicht. Viel wichtiger ist doch jetzt: Bis wohin hat sich der Virus, wenn wir weiter davon ausgehen, dass es einer ist, ausgebreitet? Scheiße, warum habt ihr auch keinen Fernseher, Benny? Wenn wir weiter davon ausgehen, dass wir die einzigen ‚normalen’ Überlebenden sind, müssen wir den Rest der Welt warnen.“
„Was ist mit der Polizei?“, warf Daniel ein. Eine kurze Pause entstand.
„Das Telefon!“, rief Benny und rannte ins Nebenzimmer, dicht gefolgt von Jan und Daniel.
Er nahm den Hörer des weißen Wandtelefons in die Hand, wählte, und hielt ihn sich ans Ohr. Jan und Daniel beobachteten ihn gespannt. Benny merkte erst nach ein paar Sekunden, dass kein Ton aus dem Hörer kam. Weder ein Wahlton, noch ein Tuten. Er drückte ein paar Mal auf die Gabel. Nichts.
„Die Leitung ist tot“, sagte er.
„Oh nein!“, rief Daniel, riss ihm den Hörer aus der Hand und hielt ihn sich ans Ohr. Er drückte hektisch auf die Gabel, wählte die Nummer der Polizei, dann seine eigene, und hängte den Hörer enttäuscht wieder auf. Sie gingen zurück ins Wohnzimmer.
„Was heißt das jetzt? Was heißt das?“, fragte Daniel.
„Na dass die Leitung tot ist, Mensch, hat er doch gesagt“, entgegnete Jan.
„Aber… Aber was machen wir denn jetzt?“
„Du hast doch was von Polizei gesagt. Ich finde, da gehen wir jetzt hin. Wenn jemand weiß, was hier los ist, dann die da. Und selbst wenn sie alle tot sind, finden wir vielleicht Hinweise darauf, was passiert ist, oder treffen andere ‚normale’ Überlebende… Außerdem haben wir ja jetzt die Pistole. Was meinst du dazu, Benny?“
„Moment!“, rief Daniel plötzlich etwas zu laut. „Ich gehe nirgendwohin, solange ich nicht weiß, was bei mir zu Hause los ist, klar? Ich sag’ euch, was wir machen: Wir gehen jetzt erstmal zu mir, und dann sehen wir weiter, ob wir zur Polizei gehen, ok?“ Benny und Jan warfen sich einen Blick zu, der Verständnis ausdrückte.
„Klar, Daniel, tut uns leid, dass wir da dran nicht gedacht haben, stimmt’s, Jan?“
„Ja, sorry… Ist nur so, dass mir relativ egal ist, was bei mir ist, deswegen…“
„Ok“, sagte Daniel versöhnlich und mit Blick auf Jan fügte er hinzu: „Ich versteh’ das, Jan.“
„Gut“, schaltete sich Benny wieder ein, „Dann wäre das geklärt. Lasst uns aber sicherheitshalber noch was in der Küche essen und dann erst losgehen.“
Also gingen sie in die Küche und zwangen sich dazu, schnell ein paar Brote herunterzuschlingen.
„Mann, habt ihr mal dran gedacht, dass alle Läden jetzt praktisch nur für uns da sind? Wir müssten nicht mal bezahlen und könnten den ganzen Tag bei Kaufland an den Konsolen stehen und die Spiele da spielen! Ich wollte immer schon mal bei Kaufland übernachten!“, plapperte Daniel, „Stellt euch vor, ihr geht an den Regalen mit den ganzen leckeren Süßigkeiten lang und müsstet nichts bezahlen, könntet einfach zugreifen und auf der Stelle essen, und wenn ihr bis zum Platzen voll wärt, würdet ihr einfach zu den Spielsachen gehen, zu den teuren Action-Figuren zum Beispiel, oder ’ne Runde an die Konsolen zocken, bis wieder was reinpasst. Und morgens dann heimlich verschwinden, wenn die da aufschließen… Ein Traum!“ Trotz der mehr als ernsten Situation lachten Jan und Benny Tränen über Daniels eifrigen Monolog, doch Benny bemerkte, dass dieser ernste Erwachsenengesichtsausdruck auch während des Lachens nicht ganz aus Daniels Gesicht verschwand. Als sie sich wieder beruhigt hatten, fragte Jan mit vollem Mund:
„Weißt du eigentlich, wie die Pistole funktioniert, Benny?“
„Ja, Vater hat’s mir mal gezeigt, als er betrunken war.“
Jan nickte traurig. „Gut.“
Nachdem sie gegessen hatten, verließen sie das Haus, bahnten sich wieder ihren Weg durch das klebrige, feuchtsüße Dickicht und als sie erneut das Gartentor passierten, und sich die böse Welt seines Vaters, seines toten Vaters, korrigierte Benny sich, wieder nahtlos in die normale Welt einfügte, war er froh, ihr wieder einmal entkommen zu sein. Und er hoffte von ganzem Herzen, nie wieder dorthin zurückkehren zu müssen.

Kapitel 4​

Der Weg zu Daniels Wohnung war recht weit und führte in Richtung Mitte des Bezirks. Die Jungen gingen wieder mit gesenkten Köpfen hintereinander, vorne Daniel, Jan in der Mitte und Benny hinten, und versuchten, das Chaos um sie herum so gut wie möglich zu ignorieren. Je näher sie dem Zentrum kamen, desto mehr nahmen die Zerstörung und auch die Leichen zu. Die Jungen versuchten, sie auszublenden, aber manchmal konnten sie sich Ausdrücke wie „Heilige Scheiße!“ nicht verkneifen, etwa als sie in eine Straße kamen, die links und rechts versetzt mit Laternen gesäumt war, an denen Tote aufgeknüpft waren. Sie schaukelten im leichten Wind ein wenig hin und her oder drehten sich langsam um sich selbst und starrten mit verzerrten Gesichtern ins Leere. Die Sachen der meisten waren blutig und zerrissen, hingen in Fetzen herab, und Fliegen taten sich an offenen Wunden gütlich, während Krähen an den Körpern herumpickten und Fleischfetzen herausrissen.
Trotz allen Entsetzens bemerkte Benny, dass die Schlaufen, die sich in die Hälse der Toten schnitten, nicht richtige Schlingen waren. Sie sahen eher so aus, als hätte ein Kind in aller Eile ein paar Knoten gemacht, frei nach dem Motto: Hauptsache, es hält.
Als er gerade an einem sich drehenden, übergewichtigen Mann mit Glatze, einem Schnauzer, in einem zerfetzten, schwarzen Anzug vorbeiging, bemerkte er, wie sich der Tote genau in der Geschwindigkeit drehte, in der er selbst ging, sodass er Benny die ganze Zeit über, die er an ihm vorbeiging, zugewandt war. Das gruselte Benny, und er stellte sich vor, wie er hochschauen und sich die Augen des Mannes plötzlich öffnen und er grinsen, dabei spitze, blutige Zähne entblößen und die Hand nach ihm ausstrecken würde… Dabei stolperte er fast über eine verdreckte Aluleiter, die mitten auf dem Gehweg lag.
Sie sahen noch viele andere grauenerregende Dinge. Auf einem Palisadenzaun aus senkrecht stehenden, spitz zulaufenden Metalllanzen waren 19 Menschen aufgespießt, Benny zählte sie im Vorübergehen, Männer und Frauen, Junge und Alte, sie sahen einen Mann, der halb unter der mit etlichen Backsteinen beschwerten Motorhaube eines schwarzen Audis steckte und so offensichtlich zerquetscht worden war, sie kamen an einem Tümpel vorbei, auf dessen Oberfläche Leichen schwammen, sie sahen eine junge Frau mit ausgestreckten Gliedern, die wie ein Vampir auf dem Rücken liegend mit Holpflöcken durch Mund, Rumpf, Hände und Füße auf den Boden genagelt worden war, und sie sahen in einem Vorgarten einen Haufen aus etwa 10 Menschen liegen, die oberen teilweise verbrannt, daneben ein aufgeschraubter, orangener Benzinkanister, der auf der Seite lag…
Als sie schließlich bei Daniels Wohnung anlangten, sahen sie so mitgenommen wie nach einer tagelangen Wanderung aus, obwohl sie nur eine gute halbe Stunde unterwegs gewesen waren.
Das Haus mit Daniels Wohnung, ein weiß verputztes vierstöckiges Mehrfamilienhaus mit kleinen Balkonen an der Vorderseite, sah erstaunlich unbeschädigt aus. Ein paar Fenster waren eingeschlagen, unten glitzerten Scherben auf dem kleinen Rasenstück zwischen Haus und Gehweg, aber das war es auch schon. Daniel holte seinen Schlüssel aus der Tasche, ging schnell zur Eingangstür und schloss sie auf.
Die Kühle des Treppenhauses empfing die Jungen und Daniel stieg schon die Treppen hoch, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, bis in den dritten Stock, wobei ihm Benny und Jan folgten. Es war merkwürdig still, nur ihre hallenden Schritte waren zu hören. Alle Wohnungstüren standen offen. Oben angekommen trat Daniel in seine Wohnung. Auch diese Tür war offen. Benny und Jan folgten ihm, wobei Benny die Tür hinter sich schloss. Daniel rief:
„Mama? Papa? Katharina?“
Er lief in verschiedene Räume, rief immer wieder nach seinen Eltern und seiner kleinen Schwester, doch niemand antwortete. Benny und Jan schauten vom Flur aus in die Küche, das Bad und Daniels Zimmer, als Daniel wieder im Flur ankam.
„Sie sind nicht da“, sagte er.
„Hm, ist euch aufgefallen, dass hier gar nichts kaputt ist?“, fragte Benny.
Sie gingen noch einmal zusammen durch die Wohnung. Alles war sauber und ordentlich, die Möbel standen an ihrer Stelle, nicht einmal eins der beiden Fenster zur Vorderseite hinaus war zerbrochen.
„Hast recht“, sagte Jan. „Komisch…“
„Was heißt das denn jetzt? Vielleicht sind sie gestern noch weggefahren?“, fragte Daniel hoffnungsvoll. Jan schüttelte den Kopf.
„Mh-mh, die Schlüssel hängen am Brett an der Wohnungstür. Ich glaube eher, dass sie, na ja, ist zwar hart, aber ich denke, dass sie irgendwo da draußen sind… Was meinst du Benny?“
Daniel warf Benny einen flehenden Blick zu, der sagen sollte: Sag, dass das nicht stimmt, bitte! Es tat Benny weh, aber er sagte:
„Mhm, das glaub’ ich auch.“ Er legte Daniel eine Hand auf die Schulter und einen Moment lang schwiegen sie alle drei. Dann schien sich Daniel zu straffen und sagte:
„Ok, dann auf zur Polizei. Ich will wissen, was hier passiert ist. Und ich schwöre, wenn irgendwer meinen Eltern oder meiner Schwester etwas angetan hat…“ Er ließ die Drohung unvollendet.
Die Jungen wandten sich zum gehen und verließen das Haus wieder.

Die Polizei befand sich direkt am Cecilienlatz, sodass die Jungen von Daniels Wohnung aus etwa 20 Minuten zu gehen hatten. Direkt auf diesem Weg lag eine Invalidensiedlung für Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs. Eigentlich mochten die Jungen die Siedlung, es gab dort viele Grünflächen und die holländisch anmutenden Klinkerhäuser hatten etwas, das ihnen gefiel. Außerdem war es hier immer ruhig, fast wie in einem Park. Doch jetzt war es Benny zu ruhig. Nicht wie ein Park, eher wie ein Friedhof, dachte er. Er kam sich fast wie in eine andere Welt versetzt vor, ein Gefühl durchströmte ihn, dass er regelmäßig empfand, wenn er Fotos von Tschernobyl oder Prypjat sah. Ein zutiefst melancholisches Wir-sind die-letzten-Menschen-auf-der-Erde-Gefühl. Jan und Daniel schien es ähnlich zu gehen. Sie schwiegen alle, gingen nebeneinander mitten auf der Straße, Benny links, Daniel in der Mitte, Jan rechts, und versuchten, die alten, toten Menschen zu ignorieren, die vereinzelt herumlagen.
Plötzlich stürzte von rechts hinter einem der Häuser ein etwa 20-jähriger, türkisch-stämmig aussehender Mann mit ohrenbetäubend schrillem Kreischen auf sie zu. Er trug eine Jeans im Washed-out-look, die teilweise noch in die weißen Socken gesteckt war, Nike-Schuhe, ein hautenges, ehemals weißes, jetzt blutbespritztes T-Shirt mit einem Logo, dass man nicht mehr richtig erkennen konnte, eine Goldkette, einen glitzernden, quadratischen Ohrstecker und gegelte, schwarze Haare. Die Hände hatte er wie Klauen ausgestreckt und sein Blick war irre.
Ehe sich die Jungen recht versahen, hatte er Jan gepackt, umgeworfen und nun rangen die beiden am Boden, mal war Jan oben, mal der andere.
„Scheiße, erschieß ihn, Benny, erschieß ihn!“ Benny reagierte sofort und zog die Pistole aus der Tasche, wobei er sie aus Versehen fallen ließ. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, kam er sich vor wie in einem Traum, in dem man unbedingt eine schnelle Bewegung ausführen musste, was aber nicht ging, weil man wie gelähmt oder unter Wasser war. In Zeitlupe beobachtete er, wie seine Hand sich der Pistole näherte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie der Mann über Jan war, Grunzlaute von sich gab und geiferte. Speichel tropfte Jan ins Gesicht, der die Handgelenke des Mannes umklammert hielt und versuchte, dessen Tritten auszuweichen. Jetzt nahm Bennys Hand die Pistole auf und langsam, ganz langsam, wie es schien, richtete er sich wieder auf.
„Erschieß ihn, Benny“, schrie Jan verzweifelt.
In seiner Unter-Wasser-Blase entsicherte Benny quälend langsam die Waffe, wie es ihm sein Vater
(toter Vater)
gezeigt hatte und richtete die Mündung auf den Kopf des Mannes. Seine Hand zitterte so stark, dass er Angst hatte, Jan zu erwischen.
„Schieß endlich, Benny!“, Jan heulte jetzt fast, die hervorgetretenen Muskeln an seinen Armen zitterten stark, und auf seiner Stirn schwoll eine dicke Ader genau zwischen seinen Augen an. Seine Kräfte schwanden, ganz im Gegensatz zu denen seines Gegners, der seine Anstrengungen scheinbar mühelos verdoppelte.
„Erschieß ihn endl-“
Der Knall der Waffe wirkte wie der einer Filmklappe, die eine Szene abrupt beendete und die Schauspieler sich sofort entspannen ließ. Fast hätte Benny noch „Cut!“ geschrieen.
Etwas Warmes, Nasses, spritzte Jan ins Gesicht, gleichzeitig fühlte er den Widerstand seines Gegners schwinden und wuchtete ihn in einer letzten Anstrengung zur Seite, runter von sich.
Benny hatte nicht an den Rückstoß gedacht und war ein paar Schritte zurückgestolpert, um nicht hinzufallen. Dann schaute er wieder nach vorne und sah Jan, der schwer atmend mit blutbespritztem Gesicht neben dem Mann lag, der sich nicht mehr rührte und unter dem sich eine dunkelrote Lache zu bilden begann. Mechanisch sicherte er die Waffe und steckte sie wieder ein.
„Jan! Jan! Alles in Ordnung?“ Er und Daniel knieten sich zu ihm. Jan schaute sie an und rappelte sich in eine sitzende Position auf. Dann wischte er sich mit seinem T-Shirt so gut es ging das Blut vom Gesicht.
„Ja, alles ok. Das war knapp, länger hätt’s nicht dauern dürfen, Benny, ich konnte ihn kaum noch halten.“ Alle drei schauten sie auf den Toten neben ihnen. Dann schaute Jan Benny an und versuchte zu lächeln, was aber in einer nervösen, unsicheren Grimasse endete.
„Danke, Mann.“
„Kein Problem“, erwiderte Benny zittrig. Jan lachte etwas gekünstelt, klopfte Benny auf die Schulter und zusammen standen sie wieder auf.
Während sie weitergingen, zeigte Daniel plötzlich auf einen Gullideckel und sagte:
„Warum gehen wir eigentlich nicht in den Untergrund, in die Kanalisation? Da passiert uns bestimmt nicht so was wie eben. Wir müssten auch diese ganze Scheiße nicht mehr sehen und könnten so bis fast ganz zur Polizei kommen. Mein Vater hat mir einmal von den Rohrsystemen da unten erzählt. Ich glaube, ich könnte uns da führen, man muss sich ja nur bildlich vorstellen, wodrunter man gerade ist, und wir kennen uns ja aus, hier…“
Das hielten Benny und Jan für eine gute Idee, also stemmten sie gemeinsam den schweren, gusseisernen Gullideckel hoch und stiegen die Sprossen hinunter.
In der Kanalisation war es dunkel und kühl, fast kalt. Sie standen auf einem sehr schmalen „Weg“ aus Beton, neben dem eine undefinierbare Brühe träge dahinfloss und Lichtreflektionen an die feuchten Backsteinwände warf, die sich nach oben hin einander zuneigten und so einen Tunnel bildeten. Es stank etwas abgestanden, aber längst nicht so schlimm, wie Benny insgeheim befürchtet hatte. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit.
„Hat jemand ’ne Taschenlampe?“, fragte Daniel spöttisch.
„Klar, immer dabei, was darf’s sein, Maglite? LED? Krypton? Oder wie wär’s mit einem batteriebetriebenen Taschenscheinwerfer?“, antwortete Benny.
Sie lachten kurz über diesen lahmen Witz und dann marschierten sie los, Daniel an der Spitze, dann Jan und zum Schluss Benny.
Es war angenehm für die Jungen, durch die unterirdischen Gänge zu laufen und keine Zerstörung und keine Leichen mehr zu sehen. Ab und zu hörten sie Gequieke und Schatten, die an den Wänden entlanghuschten, manchmal sogar die braunen, pelzigen Ratten mit den nackten Schwänzen selbst, die sie verursachten. Begleitet von hallenden Tropfgeräuschen und dem leisen Rauschen und Gluckern der Suppe neben ihnen hörten sie nur Daniels Stimme, der manchmal an Kreuzungen oder Gabelungen Straßennamen murmelte.
Sie kamen an einigen Sprossenleitern vorbei, die nach oben führten, aber Daniel war sich seiner Sache sicher und dagegen, eine hochzuklettern und zu schauen, wo sie sich befanden.
Schließlich, nach etwa einer Viertelstunde, blieben sie vor einer weiteren Sprossenleiter stehen
„So“, sagte Daniel befriedigt mit Blick nach oben auf den Gullideckel, „Wenn wir hier wieder nach oben gehen, kommen wir direkt vor Leiser am Cecilienplatz raus.“
Der Cecilienplatz war das Zentrum des Bezirks. Es handelte sich bei ihm um eine runde, ebene Rasenfläche, mit etwa 80 Metern Durchmesser, die nur von zwei Wegen unterbrochen wurde, die genau in der Mitte im 90°-Winkel aufeinandertrafen. Um diese Rasenfläche herum gab es Bänke, Büsche und große Kastanienbäume. Auf der Nordseite befand sich außerdem ein großer Marmorspringbrunnen in Form einer Diskusweferin. Dann folgte die Cecilienstraße, die einmal um das ganze herumführte und an der es viele verschiedene Läden von der Eisdiele bis zu Leiser, einem Schuhgeschäft, gab. Die Polizei befand sich in einer Seitenstraße, gegenüber von Leiser auf der anderen Seite des Cecilienplatzes.
„Na, dann müssen wir wohl wieder hoch“, sagte Jan resigniert.
„Ja, finden wir endlich raus, was los ist“, sagte Benny und begann, die Sprossen heraufzuklettern. Oben angekommen brauchte er alle Kraft, um den Gullideckel alleine wegzuschieben. Grelles, gleißendes Sonnenlicht und ein kupferiger Geruch strömten ihm entgegen und er wartete einen Moment mit gesenktem Kopf, bis sich seine Augen wieder an die Helligkeit gewöhnt hatten. Dann erst stieg er ganz nach oben, steckte den Kopf aus dem Schacht heraus- und schaute direkt in die glasigen Augen und das starre, blutige Grinsen eines alten Mannes mit weggefetzten Lippen. Er erschrak so heftig, dass er fast die oberste Sprosse losgelassen und nach unten gestürzt wäre. Er schaute an dem Mann vorbei und sah weitere Leichen, im Hintergrund Leiser mit eingeschlagenen Schaufenstern, heruntergerissenem Schriftzug und völlig demolierten Regalen. Überall lagen Schuhe und glitzernde Glasscherben.
Langsam stieg Benny aus dem Schacht und besah sich den Schaden. Dann drehte er sich langsam um, und was er sah, erschütterte ihn so sehr, dass sein Herz zu einer Rosine zu schrumpfen schien, ein heiseres Keuchen eine Kehle verließ, seine Beine nachgaben und er in die Knie ging. Mit weit aufgerissenen Augen schlug er sich die Hände vor den Mund, sein Atem kam in röchelnden Stößen und seine Blase entleerte sich.
Der ganze Cecilienplatz war voller Leichen.

Es mussten Hunderte sein, vielleicht sogar Tausende. Sie lagen dicht an dicht, kreuz und quer und übereinander, sodass man kaum noch etwas vom grünen Rasen sah, und alle hatten sie Wunden und geößere Verletzungen, waren blutig, hatten zerfetzte Kleidung. Benny sah einzelne Gliedmaßen herumliegen, einen Arm, der noch in einem Anzugärmel steckte, mit einer goldenen Uhr am Handgelenk, einige abgetrennte Köpfe mit verdreckten Haaren und ausgefransten Halsansätzen, Füße in Socken und Schuhen oder Hauslatschen, nackte Beine… Er sah eine Frau, der beide Beine fehlten, einen Kinderkörper ohne Kopf, eine alte Frau mit offenem, ausgehöhltem Bauch, ein kleines Mädchen mit blutigen Löchern anstatt Augen, einen Jungen, dem ein Arm bis zum Ellenbogen in den Mund gestopft worden war, ein Mann, der keinen Unterkiefer mehr hatte… Der ganze Cecilienplatz war voll mit ihnen. Selbst auf den Bänken lagen Leichen, auf dem Gehweg um den Cecilienplatz herum, in dem Springbrunnen, auf der Straße, vor und in den Geschäften, und in den Seitenstraßen, Leichen, wohin man blickte… Benny begann zu weinen, heiße Tränen als Reaktion auf diese Überforderung seines Geistes, und verbarg sein Gesicht in den Händen. Er hörte seltsame grunzende Laute und dachte schon, dass noch jemand leben und ihn gleich anfallen würde, als er realisierte, dass er selbst es war, der diese Laute von sich gab.
Inzwischen waren auch Daniel und Jan aus dem Schacht geklettert und starrten mit ähnlichen Reaktionen fassungslos auf diesen Ort unfassbaren Grauens.
Der kupferige Geruch, die gespenstische Stille im Hintergrund, die durcheinander summenden Fliegen, die Krähen, die zwischen den Körpern herumhüpften und –pickten, der Schäferhund, der wild knurrend an der Wade einer jungen Frau herumfetzte, die Hunderte oder Tausende Toten, teilweise in mehr als vier Schichten übereinander, ließen die schlimmsten Alpträume der Jungen wie Butter in einer heißen Pfanne zu nichts zusammenschrumpfen, und in diesem Augenblick begriff Benny, dass es Dinge gab, die so schrecklich waren, dass sie einfach nicht durch das Nadelöhr des menschlichen Verstandes passten.
Doch der Mensch ist ein Gewöhnungstier und kann sich an vieles anpassen, vieles aushalten, und so bekämpfte Benny sein Entsetzen, nachdem der schlimmste Schock vorüber war, mit Rationalität. Er hörte auf zu weinen, schaute wieder hoch und betrachtete die ganze Szene möglichst nüchtern. Trotzdem fuhr ihm das Entsetzen weiterhin in scharfen Schüben ins Herz, und er spürte, dass er etwas darin für immer verloren hatte.
Als erstes registrierte Benny, dass viele Menschen Schlafanzüge, manchmal sogar mit Morgenmänteln und Hausschlappen trugen. Weiterhin bemerkte er, dass es einen einzigen Fleck auf dem Cecilienplatz gab, der nicht von Leichen bedeckt war: die Mitte. Da, wo die beiden Wege sich trafen. An dieser Stelle war eine etwa 1m2 freie Stelle. Außerdem konstatierte er, dass die Leichen einen Haufen bildeten, der in der Mitte, um die freie Stelle herum, am Höchsten war und dann nach außen hin bis zur Straße abfiel, bis nur noch einzelne Leichen herumlagen. Er konnte sich keinen rechten Reim auf diese Dinge machen, doch er speicherte diese Informationen in seinem Hinterkopf ab.
Dann sah er zu Daniel und Jan, die sich gleichzeitig zu ihm umdrehten.
„Alles klar?“, fragte er fahrig. Daniel und Jan nickten stumm.
„Dann zur Polizei“, sagte Benny und ging bis direkt vor Leiser. Von da aus gingen sie ganz außen an den Geschäften um den Cecilienplatz herum. Sie schauten absichtlich nicht auf den Platz, sondern nur auf ihre Füße. Trotzdem sie so weit außen gingen, wie es möglich war, mussten sie manchmal über mehrere Leichen gehen, wobei Daniel einmal auf einer blutigen Hand ausrutschte, auf zwei tote Frauen fiel, mit der einen Hand in dem aufgefetzten Bauch der einen landete und anfing zu weinen. Aber er rappelte sich tapfer wieder auf und marschierte verbissen weiter.
Schließlich kamen sie zum Sigismundkorso, der Seitenstraße des Cecilienplatzes, in der sich auch die Polizei befand. Glücklich darüber, den Platz hinter sich lassen zu können, bogen die Jungen mit beschleunigtem Tempo in die Straße ein. Hier bot sich ihnen lediglich die übliche Zerstörung, das sie nicht mehr schocken konnte. Leichen lagen herum, viel mehr als in der Nähe von Bennys oder Daniels Haus, zerstörte Autos, Zäune, Fenster, Fassaden, herumliegende Splitter, Möbel und Müll.
Das Polizeigebäude selbst sah so zerstört aus wie die anderen Häuser der Straße auch. Die Metalltafel mit der Information, dass hier die Polizei sei, war aus dem Boden gerissen und fortgeschleudert, alle Fahrräder in den Fahrradständern vor dem trist-grauen Gebäude waren demoliert und teilweise auseinandergenommen, alle Scheiben waren eingeschlagen worden, unzählige Scherben, Zettel und Büroartikel wie Stifte, Ordner, Locher und sogar einige Computer, Tastaturen, Mäuse, Mauspads mit dem Polizeilogo, Monitore und Drucker lagen auf dem Boden. Dunkelgrüne Vorhänge bauschten sich im leichten Wind hinter den nicht mehr vorhandenen Glasscheiben, Zettel flatterten auf dem Boden hin und her.
„Sieht nicht gut aus“, sagte Jan. Benny und Daniel stimmten zu, doch dann gingen sie zusammen die paar Stufen zur Eingangstür hinauf, die offen stand und nur noch von einem Scharnier in den Angeln gehalten wurde.
Sie betraten einen großen Vorraum mit ein paar umgeworfenen Stühlen und einem verlassenen und verwüsteten Informationsschalter.

„Hallo! Hallo, ist hier jemand?“, rief Jan, doch er bekam keine Antwort. Sie schauten sich in dem Raum um, stiegen über die Abgrenzung in den Informationsschalter, gingen durch den Durchgang in den hinteren Bereich des Gebäudes, fanden aber keine Menschenseele, nur Chaos und ein paar wenige Leichen in Uniformen. Sie gingen wieder in den Warteraum zurück.
„Scheiße, was machen wir denn jetzt? Ich will verdammt noch mal wissen, was mit meiner Familie ist!“, sagte Daniel.
Plötzlich hörten sie ein ohrenbetäubendes, menschliches Kreischen und fuhren herum. Im Durchgang stand ein Junge, etwas älter als sie, in Jeans und schwarzem T-Shirt, mit einer Brille, deren eines Glas zerbrochen war, und kreischte sie an. Benny zog sofort die Pistole und richtete sie auf den Jungen. Da verwandelte sich das Kreischen plötzlich in ein Lachen. Benny zögerte. Das Lachen klang krankhaft verzweifelt, aber es war eindeutig ein Lachen. Konnten diese… diese Zombies lachen?
„Na, erschrocken?“, schrie der Junge, lachte wieder und kreischte sie erneut an. Dann hob er die Arme wie ein Zombie vor sich, schaute nach oben und taumelte ein paar Schritte auf sie zu, wobei er mit den Armen nach allem schlug, was ihm in den Weg kam. “Seht mich an, man hat mir den Verstand geraubt, uuuh, uuuh…“
„Halt! Wer bist du?“, rief Benny scharf, die Waffe immer noch auf den Jungen gerichtet. Der Junge hörte mit dem Theater auf, schaute sie listig an und sagte:
„Ja, wer bin ich? Und wer bist du? Und wer ist wer? Das ist soo wichtig, nicht wahr? Wer – ist – wer! Und von wo! Seeehr gute Fragen!“ Die Jungen warteten, aber anscheinend wollte der Junge nichts mehr hinzufügen.
„Bist… bist du verrückt?“, fragte Daniel.
„Mmmh“, machte der Junge gelangweilt. „Kein W! Na gut, ich antworte trotzdem. Aber nur ein Mal!“
Er schaute Daniel an und lächelte traurig.
„Verrückt… Verrückt nach wessen Maßstab? Mein Vater sagte er ist verrückt, Claudia, was machen wir nur mit ihm?, deine Frage impliziert, dass ich verrückt bin, also, warum nicht? Was spricht dagegen?“ Er lächelte. „Schließlich habe ich den Schwarzen Wanderer überlebt, oder nicht? Und ich sag’ euch auch, was ich glaube, warum: Weil ich abgehärtet bin. Weil ich nicht weggeschaut habe wie alle anderen. Als Metapher gemeint. Ich versuche nicht, das Böse zu ignorieren, es schönzureden, nein, es ist real, genauso wie das Gute, warum also das eine vernachlässigen? Immer zwei Pole. Gut, böse. Hell, dunkel. Laut, leise. Heiß, kalt. Hoch, tief. Schnell, langsam. Weit, nah. Mann, Frau. Alt, jung. Immer und überall diese Eindimensionalität!“ Er lachte gackernd.
„Moment mal“, rief Jan, „Was für ein Schwarzer Wanderer? Was ist hier passiert?“
„Was ist hier passiert“, wiederholte der Junge und lachte wieder. „Und wer, und woher, stimmt’s? Die fünf Ws, Interrogativpronomen…“ Er zwinkerte ihnen zu. „Nun denn, hier mein Bericht!“ Er salutierte und fuhr fort:
„Melde gehorsamst: Wer? Der Schwarze Wanderer, Sir, ein Diener des sogenannten Bösen, dem einen Pol, Sir! Was? Eine Versammlung, Sir, bei der er allen Anwesenden die Vernunft aussaugte, Sir! Wann? Letzte Nacht um Mitternacht, Sir! Wo? Auf dem Cecilienplatz, Sir! Warum? Darf ich spekulieren, Sir?“
„Äh, ja“, antwortete Jan.
„Warum? Ich spekuliere, um das Böse auf der Welt zu vermehren und seine Waagschale zu verschweren, Sir!“, rief der Junge und begann dann, ein Lied zu pfeifen.
Die Jungen warfen sich fragende Blicke zu.
Benny trat einen Schritt auf den Jungen zu und fragte:
„Wie?“ Der Junge begann zu strahlen.
„Wie! Sehr schön! Und gleich zweifach! Versammelt hat er sie durch so was wie Telepathie. Da war plötzlich etwas in meinem Kopf, das sagte: Komm zum Cecilienplatz. Ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ausgesaugt hat er sie durch irgendeine Magie. Er stand mit ausgestreckten Armen da, die Handinnenflächen nach unten, die Finger abgespreizt und aus seinen Fingern kamen Strahlen, die auf die Stirn von jemanden zielten, und die sich immer und immer wieder verzweigten, bis auf jeder Stirn ein Strahl war. Und dann hat er gesaugt. Danach brach das Chaos aus, die meisten brachten sich gleich dort auf der Stelle um, während der Schwarze Wanderer dastand und zusah, manche gingen auch weg…“
„Warum lebst du noch und bist noch, hm, bei Verstand?“, fragte Benny.
„Warum, zwei Mal, schön! Tja, wer weiß, weil ich in meinem Leben vorher nicht weggeguckt habe und er deshalb nicht alles aus mir herausbekommen hat? Oder vielleicht, weil ich schon vorher verrückt war? Wer weiß?“
„Hast du noch Fühlung zum Schwarzen Wanderer?“, fragte Benny.
„Mmmh“, machte der Junge gelangweilt. „Kein W! Moment mal“, sagte er dann plötzlich, trat auf Benny zu und sah ihn genauer an, musterte ihn scharf. „Du… Ich habe dich gesehen… Alte, zeitlose Mächte schreien auf.“ Benny stockte der Atem.
„Was… Was hast du gesagt?“
„Du hast es verstanden, benutz’ es nicht zu oft, dann funktioniert es nicht mehr… Funktioniert, funktioniert nicht. Wirkt, wirkt nicht. Du verstehst?“
„Eindimensionalität“, murmelte Benny.
„Exakt!“, strahlte der Junge.
„Aber woher weißt du…?“
Plötzlich drückte der Junge Benny die Handfläche auf die Stirn und ein ungeheurer Schmerz breitete sich in Bennys Kopf aus. Er sah Bilder, empfand Gefühle, hörte Geräusche, roch Gerüche…
Er bemerkte, wie Jan und Daniel etwas riefen und versuchten, den Jungen von ihm wegzureißen, er wollte rufen: „Nein! Wartet!“, aber er konnte nicht.
Dann war es vorbei, der Junge ließ los und Benny bemühte sich, nicht zusammenzuklappen.
„… hast du mit ihm gemacht, du Scheißkerl?“ Das war Jan.
„Was, zwei Mal! Ich habe ihm etwas von mir gegeben, das ihm helfen wird.“ Der Junge.
„Du bist wohl lebensmüde?“ Daniel.
„Mmmh.“ Wieder der Junge. Gelangweilt.
Hört auf“, rief Benny, „mir geht’s gut!“ Jan und Daniel ließen von dem Jungen ab und wandten sich ihm zu.
„Ist echt alles in Ordnung?“, fragte Jan. „Da war so ein dunkellilanes Licht zwischen deiner Stirn und seiner Hand!“
„Mir geht’s gut!“, wiederholte Benny. Plötzlich schnellte der Junge vor und schnappte sich die Pistole aus Bennys Hand. Erschrocken wichen die Jungen zurück.
„Hey, Mann-“, rief Jan.
„Sehr schön“, sagte der Junge mit Blick auf die Waffe, die er in seiner Hand wog. „Jetzt ist es soweit. Jetzt will ich wissen, was dahinter ist.“ Er schlug mit der Hand erst gegen die Wand, dann gegen einen Schrank, und schließlich gegen den Boden. „Was ist dahinter, hä?“, rief er dem Boden zu. „Jetzt wird es sich herausstellen. Interrogativpronomen und Eindimensionalität, Kategorisieren, Klassifizieren, was für eine Reduzierung! Die Summe aller Teile ist mehr als die einzelnen Teile. Oder nicht? Was ist dahinter? Wieder Eindimensionalität? Das glaube ich nicht! Es gibt den Tod, und es gibt das Leben. Wenn das Leben die Achse ist, und der Tod sich auf der einen Seite befindet, was ist dann auf der anderen? Was ist der Tod gespiegelt? Eine Art pures Leben? Die Weiterentwicklung von Leben? Und komme ich vom Tod dahin? Denn vom Leben aus gibt es wohl keinen Weg…“ Er hob die Waffe.
„Hey Mann, warte doch mal-“, warf Benny ein, doch der Junge achtete nicht auf ihn.
„Jetzt werde ich es erfahren. Scheiß auf Eindimensionalität. Warum nicht zwei Dimensionen? Oder drei? Oder hunderte? Tausende?“
Und mit diesen Worten steckte er sich den Lauf der Waffe in den Mund und drückte ab.
Blut, Knochensplitter und Gehirnmasse spritzen an die Wand hinter den Jungen und verursachten einen großen, dunklen Fleck. Der Junge ging erst in die Knie, die Hand mit der Pistole rutschte ihm aus dem Mund, und kippte dann nach vorne mit dem Gesicht auf den Boden. Man hörte die Nase brechen.
„Lasst uns raus“, sagte Benny, nachdem er scharf die Luft zwischen den Zähnen eingesogen hatte.
„Was ist mit der Waffe?“, fragte Jan.
„Die brauchen wir nicht mehr, lass sie liegen.“
Zusammen verließen sie das Polizeigebäude und setzten sich auf die Stufen davor.

„Scheiße, Mann, was war da drinnen los? Was hat der mit dir gemacht, Benny?“, fragte Jan.
„Ich weiß nicht genau. Er hat mir, glaube ich, seine Fühlung zum Schwarzen Wanderer übergeben. Ich weiß, dass er unterwegs ist. Ich kann es sehen, ich kann ihn sehen. Es ist in meinem Kopf, schwarz und kalt, wie Nebel…“
„Was ist er, Benny?“, fragte Daniel. Benny schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren. Dann schüttelte er den Kopf.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte er, „Jedenfalls ist er kein Mensch. Er ist irgendein… Wesen. Irgendein zutiefst böses Wesen. Und es ist auf dem Weg in die nächste Stadt. Wir müssen es aufhalten!“ Jan und Daniel sahen ihn an.
„Spinnst du? Selbst wenn das alles stimmt und er ist wirklich ein… böses Wesen, was können wir schon gegen ihn ausrichten?“, fragte Daniel.
„Versteht ihr denn nicht? Ich bin wahrscheinlich der einzige, der seine Spur sieht! Im Baumhaus bin ich in der Nacht aufgewacht, der Satz, den der Junge drinnen gesagt hat, bevor er mir die Hand auf die Stirn gelegt hat, geisterte in meinem Kopf herum und es war kalt! So kalt, dass ich meinen Atem sehen konnte!“ Jan und Daniel schauten ihn ungläubig an.
„Was…?“, begann Daniel, doch Benny unterbach ihn:
„Versteht ihr? Ich bin irgendwie empfänglicher als andere dafür! Genau wie der Junge drinnen. Der war nicht mehr ganz dicht, mit seinen W-Fragen und Dimensionen und so. Was mit mir ist, weiß ich nicht, aber ich sehe ihn!“
„Was? Was siehst du?“, fragte Jan und Benny dachte kurz nach.
„Das kann man nicht beschreiben, ich sehe ihn, höre ihn, kann ihn fühlen, seine Gedanken fühlen, sein Wesen fühlen, ich sehe seine Spur. Er ist hier durch diese Straße gegangen, nachdem er alle auf dem Platz ausgesaugt hat. Es ist wie eine Spur aus kaltem, feuchtem, schwarzen Nebel. Und er will weiter Menschen aussaugen. Ich glaube, er will durch den Wald rüber nach Hermsdorf!“
„Bist du sicher?“, fragte Jan.
„Ja, ziemlich, aber er ist schon ein Stück weit weg, obwohl er langsam geht. Wenn ich näher an ihm dran wär’, würde ich mehr empfangen, glaube ich.“
„Gut, aber wie können wir ihn bekämpfen? Er kann Telepathie oder so was in der Art, hat der Junge gesagt…“
„Das weiß ich auch noch nicht genau, aber es gibt einen Weg, ich weiß es, aber ich sehe es noch nicht, er ist zu weit weg.“
„Dann lasst uns ihn fertigmachen!“, sagte Jan. „Daniel?“
Daniel schwieg eine Weile und starrte den Boden zu seinen Füßen an. Dann sagte er zugleich wütend und apathisch: „Scheiße, ja! Der Bastard hat meine Familie auf dem Gewissen!“ Er schaute hoch und sah sie aus nassen, schmerzerfüllten Augen an. Benny bemerkte erschrocken, dass Daniel um 20 Jahre gealtert schien, und dass seine Augen ihren Glanz verloren hatten. „Und dafür werde ich ihn umbringen!“
Benny und Jan legten ihm die Hand auf die Schulter, und während er aufstand, sagte Benny:
„Dann los! Wir müssen ihn einholen, bevor er in Hermsdorf ist!“

Kapitel 5​

Die kürzeste Verbindung nach Hermsdorf war etwa 15 Kilometer lang und führte komplett durch Wald. Die Jungen gingen auf dem Sigismundkorso weiter und ließen so das Polizeigebäude und den Cecilienplatz hinter sich. Für die Schrecken um sie herum hatten sie endgültig keine Beachtung mehr übrig und schließlich betraten sie den Wald, in dem sie sich trotzdem gleich viel wohler fühlten.
Sie gingen zügig, und ausgerechnet Daniel, der ein bisschen dicklich war, ließ nicht zu, dass sie langsamer wurden, verbissen ging er voran und meckerte, sobald Jan oder Benny zurückblieben. Außerdem fragte er Benny häufig, ob dieser schon mehr sehe, was aber nicht der Fall war.
Sie schwitzten. Zwar boten die Baumkronen über ihnen die meiste Zeit über Schatten, doch es war einfach heiß, kaum ein Lüftchen wehte, und sie rannten fast.
Die Sonne wanderte am Himmel weiter, die Stunden vergingen. Keiner von ihnen dachte viel nach.
Benny versuchte, nicht direkt in der Spur des Schwarzen Wanderers zu laufen, die er vor sich sah und die mit der Zeit immer deutlicher und intensiver wurde. Es handelte sich um einen schwarzen, wabernden Tunnel, der in etwa die Form eines Menschen hatte. Er strömte ein Signal aus, das Benny mit Gefahr und Ekel assoziierte und wenn er doch einmal in diesen Tunnel geriet, durchlief ihn ein bösartiges Kribbeln, wie wenn man etwas wirklich Verbotenes tat. Von innerhalb des Tunnels sah er die Außenwelt wie durch eine dünne Schicht verlaufenden, schwarzen Sirups.
Benny wischte sich den Schweiß von der Stirn. Das T-Shirt klebte ihm am Körper und seine Füße fühlten sich in seinen Turnschuhen an wie gekocht. Er hatte wahnsinnigen Durst, die Zunge klebte ihm förmlich am Gaumen, und etwas später bekam er auch noch leichtes Seitenstechen. Zuerst ignorierte er es, doch dann hielt er es nicht mehr aus. Hände schienen in den Organen in seinen Seiten zu wühlen.
„He“, rief er, „He, wartet mal!“ Sie blieben keuchend stehen. „Das hat keinen Sinn, so zu rasen, ich hab’ Seitenstechen und kann nicht weiter, es tut zu sehr weh… Lasst uns kurz Pause machen, wir haben’s eh bald geschafft, er ist nicht mehr weit.“ Daniel schaute zu Benny, dann auf den Weg, schließlich wieder zu Benny.
„Wie weit ist er noch?“, fragte er.
„Weiß nicht genau, vielleicht zwei oder drei Kilometer?“
„Hm, und wie weit sind wir schon gegangen?“
„Etwa acht Kilometer“, schaltete sich Jan ein. „Mann, ich schwitz’ wie ’ne Sau, hab Durst und Hunger und meine Beine tun weh…“
„Na gut“, sagte Daniel, „Lasst uns kurz Pause machen. Aber wirklich nur kurz!“
„Klar, Mann“, sagte Benny und ließ sich ächzend auf einer kleinen Erhöhung, möglichst weit weg vom Tunnel, nieder. Jan und Daniel setzten sich dazu.
„Und? Siehst du jetzt mehr, Benny, irgendwas Neues?“, fragte Daniel. Benny konzentrierte sich.
„Nicht wirklich. Ich sehe seine Spur“, er zeigte auf den Tunnel. Jan und Daniel folgten seinem Blick, suchten eine Weile mit den Augen, und sahen wieder ihn an.
„Nichts zu sehen“, sagte Daniel und Jan nickte.
„Seid froh, ist kein schöner Anblick. Sieht aus wie eine schwarze Schlange, die sich durch den Wald schlängelt. Oder könnt ihr euch einen Tunnel vorstellen, der kurz entstehen würde, wenn jemand mit einem Affenzahn durch dichten Nebel rennen würde?“ Jan und Daniel nickten. „So sieht das aus, nur dass der Tunnel aus Nebel ist, während drumherum keiner ist. Aus schwarzem, ekligen Nebel. Oder Sirup.“
„Iiih“, sagte Daniel und sie lachten nervös.
„Aber siehst du noch was Anderes? Wer er ist oder wie wir ihn besiegen können?“
„Nein“, sagte Benny, „Eigentlich nichts Neues. Aber ich bin sicher, dass ich rechtzeitig weiß, was zu tun ist.“ Jan nickte und sagte:
„Ok, also wenn wir ihn gleich eingeholt haben, ist Benny der Boss. Was er sagt, wird gemacht.“ Er wandte sich Daniel zu. „Ok?“
„Klar“, antwortete der.
„Gut, dann lasst uns mal weiter.“
Die letzten zwei Kilometer legten sie so zügig wie vorher zurück. Während dieses ganzen letzten Stücks schwiegen sie und starrten angestrengt nach vorne. Jan sah den Schwarzen Wanderer als erstes.
Sie befanden sich an einer Stelle, an der der Weg bis sehr weit nach vorne fast schnurgerade verlief. Ganz hinten lief er einen Hügel hinauf und war dann nicht mehr zu sehen, weil die Hügelkuppe von dem Blätterdach vor ihnen verdeckt wurde.
„Das ist er, oder? Dieser schwarze Punkt an dem Hang da?“, fragte Jan aufgeregt.
„Ja, das muss er sein!“, rief Daniel. Benny ärgerte sich, dass er den Schwarzen Wanderer nicht als erstes gesehen hatte, schließlich führte der Tunnel direkt zu ihm und hörte bei ihm auf. „Dann los, lasst uns das fiese Schwein fertigmachen!“
„Halt!“, rief Benny, und Daniel, der gerade losgerannt war, blieb stehen. „Jetzt nichts überstürzen, wir sind eh fast bei ihm, und ich sehe noch nicht, wie wir ihn besiegen können…“ Also liefen sie weiter wie bisher.
Je näher sie dem schwarzen Punkt an dem Hügelhang kamen, desto größer wurde er, desto deutlicher wurden seine Form, die Silhouette eines Mannes, und seine Bewegungen. Außerdem nahmen die Jungen ein Rauschen wahr, das irgendwie brutal klang, wie tausend Reißverschlüsse auf einmal oder eine bis zum Maximum verzerrte E-Gitarre, aber ganz leise. Je näher sie dem Schwarzen Wanderer kamen, desto mehr nahm dieses Rauschen zu, überlagerte alles andere, und wurde schließlich zu einem bösartigen, nervtötendem Reißen, das die auditive Realität verzerrte.
Die Jungen begannen gerade, den Hügel hochzulaufen, und fingen nun doch an, zu rennen. Sie stellten den Schwarzen Wanderer oben auf dem Hügel.

Sie hatten ihn kurz aus den Augen verloren, als er die Steigung überwunden hatte, doch als sie ebenfalls keuchend oben ankamen, sahen sie ihn wieder von hinten, etwa ein dutzend Meter vor ihnen, fast meditativ langsam gehend. Er sah eigentlich aus wie ein normaler Mann, der einen schwarzen Mantel oder einen Umhang mit Kapuze trug, wäre da nicht diese flirrende Korona um ihn herum gewesen, wie die Luft über einem Feuer, oder über einer geraden asphaltierten Straße im Sommer, die seine Silhouette verzerrte. Das brutale Rauschen war jetzt fast ohrenbetäubend.
„Ey, du Wichser!“, brüllte Daniel. Der Schwarze Wanderer drehte sich langsam um. Von vorne sah er aus wie von hinten, eine schwarze Silhouette. Das Gesicht wurde von der Kapuze verdeckt und außerdem von der Korona verzerrt. Man sah keine Augen. Der Schwarze Wanderer legte den Kopf leicht schief. „Hast du meine Familie umgebracht?“, schrie Daniel ihn an.
„Daniel-“, raunte Jan.
„Ob du meine Familie umgebracht hast, du Stück Scheiße! Kannst du nicht reden oder was?“ Die Stimme, die daraufhin ertönte, klang weder wie die mechanisch blecherne eines Roboters, noch wie die brutale kehlige, oder die tiefe, hallende eines Monsters. Sie klang wie eine normale Männerstimme, jedoch wie von einer Kassette, die lange in der heißen Sonne gelegen hatte. Leiernd und mit Höhen und Tiefen, die lustig geklungen hätten, wäre da nicht dieser eiskalte Unterton gewesen, der den Jungen das Herz in der Brust gefrieren ließ.
„Deine Familie und Millionen andere“, leierte der Schwarze Wanderer. Dann streckte er die Hände aus und Benny sah in seinem Kopf, wie er genauso in der Mitte des Cecilienplatzes gestanden hatte, umgeben von Menschenmassen, und wie dann die Strahlen aus seinen Fingern geschossen waren… Und plötzlich wusste er, was zu tun war.
„Alte, zeitlose Mächte schreien auf!“, schrie er, um sich durch das Rauschen hindurch Gehör zu verschaffen. Die Hände des schwarzen Wanderers zuckten zurück. „Hinter mich, schnell hinter mich“, rief Benny Jan und Daniel zu, die sich schnell hinter ihn stellten und nun über seine Schultern guckten.
„Wer bist du?“, fragte der Schwarze Wanderer. Benny überlegte, ob und was er darauf antworten sollte, als der Schwarze Wanderer fortfuhr: „Daniel, deiner Schwester wurde der Kopf mit einem Spaten eingeschlagen, es hat sieben Schläge gebraucht, bis sie endlich aufgehört hat zu heulen wie ein Schwein, das abgestochen wird.“
„Sie war sechs Jahre alt, du kranker Bastard! Sechs Jahre!“, brüllte Daniel heulend.
„Na und?“, leierte der Schwarze Wanderer, „Viele Kinder, die ich umgebracht habe, waren noch nicht mal geboren…“
„Daniel, nein!“, raunte Benny, aber Daniel schoss hinter seiner Schulter hervor und stürzte sich mit geballten Fäusten auf den Wanderer.
„Dafür wirst du büßen, du… du…!“
„Daniel, nein!“, brüllten Benny und Jan zusammen. Gleichzeitig hob der Schwarze Wanderer die rechte Hand und ein greller Blitz schoss aus seinem Finger in Daniels Stirn, der abrupt stehen blieb und etwas in die Höhe gehoben wurde.
„Nein!“, brüllte Benny, „Alte zeitlose Mächte schreien auf, alte zeitlose Mächte schreien auf, alte…“ Er sah, wie die Hand des Schwarzen Wanderers wieder zurückzuckte, wie er sich krümmte, doch der Kontakt blieb bestehen, der Strahl zitterte, doch er brach nicht ab. Schließlich zog er sich von Daniels Stirn zurück in den Finger des Schwarzen Wanderers. Daniel fiel zu Boden und blieb einen Moment lang liegen. Dann rappelte er sich auf.
„Daniel? Alles in Ordn…?“, fragte Benny, doch als Daniel sich umdrehte, sah er, dass nichts in Ordnung war. Daniels Augen zuckten ruhelos in ihren Höhlen umher, ohne irgendetwas länger als einen klitzekleinen Moment lang zu fixieren, und seine Bewegungen waren ruckhaft, fast spastisch. Er schaute kurz hoch in den Himmel, Benny musste an den Mann mit dem Gewehr und die alte Frau mit dem Baseballschläger denken, die genauso in den Himmel gestarrt hatten, wie umherstolzierende Hühner, und Daniels Gesicht verwandelte sich in eine hässliche Fratze. Er grunzte. Wieder wusste Benny, was geschehen musste.
„Das Messer. Jan, das Messer!“
„Was? Was?“ Daniels Kopf drehte sich und jetzt sah er sie an. Sah Benny an.
„Das Messer, das ist nicht mehr Daniel, das Messer, Jan!“ Daniel streckte die Hände gleich Klauen aus und begann, auf Benny zuzurennen.
„Jan, DAS MESSER!“ Jan schnellte plötzlich nach vorne und für Benny sah es so aus, als boxe er Daniel in den Brustkorb, warum boxt er ihn denn?, fragte er sich, doch dann sah er den Griff des Taschenmessers aus Daniels Brust ragen, als Jan sich zurückzog. Auf Daniels Gesicht breitete sich ein Ausdruck von Überraschung und Verwunderung aus, um den Griff des Messers herum ein roter Fleck, und dann kippte er vornüber und blieb mit dem Gesicht auf der Erde liegen. Jan keuchte heiser.
Die Laute, die der Schwarze Wanderer leiernd von sich gab, hörten sich wie ein krankes Lachen an, das rückwärts abgespielt wurde, bemerkte Benny schaudernd. Er wandte sich dem Schwarzen Wanderer zu, der daraufhin verstumme und wieder fragte:
„Wer bist du?“
(Ja, wer bin ich? Und wer bist du? Und wer ist wer?)
Plötzlich fühlte Benny, wie der Schwarze Wanderer auf einer anderen Ebene versuchte, in ihn einzudringen. Er hatte das Bild von flatternden Fingern vor Augen, die in Zettelhaufen suchten, Finger, die über Buchrücken glitten, ab und zu eins herausnahmen und darin blätterten, Finger, die Akten durchgingen, Augen, die lasen, Lippen, die leiernd murmelten… Instinktiv stellte Benny sich zuschlagende Türen vor, seine Haustür, die die Stimme seines Vaters abschnitt, die Große Doppeltür in der Schule, die immer mit so einem hallenden, endgültigen Rumms zufiel, die Tür der Bibliothek mit ihrem Scheppern. Ein verärgertes Stöhnen. Dann rief sich Benny in Erinnerung, wie er sich einmal im Kindergarten den Daumen in der Tür eingeklemmt hatte, sodass der Nagel sich gelöst hatte, und die Schmerzen, die er dabei empfunden hatte. Er ersetzte seinen Daumen durch einen schwarzen, wabernden und ließ das Ganze dann ablaufen. Ein leiernder Schmerzensruf. Dann stellte er sich eine Tür mit Metallbeschlag vor, die einen schwarzen, wabernden Finger genau an einem Gelenk einquetschte, er stellte sich vor, wie das Gelenk aus der Pfanne sprang, Muskeln und Haut rissen und der Finger schließlich in zwei Teile getrennt wurde… Ein leierndes Wutgeheul. Benny spürte, wie sich der Schwarze Wanderer zur Wehr setzen wollte, eine Attacke war im Kommen, es fühlte sich an wie der letzte Moment vor dem Losbrechen eines Unwetters, da dachte Benny klar und in großen, hellen Buchstaben: ALTE, ZEITLOSE MÄCHTE SCHREIEN AUF. Er fühlte, wie der Schwarze Wanderer sich wütend zurückzog, wie eine Schnecke in ihr Schneckenhaus, oder wie ein Vampir in den Schatten.
Sie standen sich wieder gegenüber, um sie herum der Wald, Jan, der neben Benny stand.
„Alles in Ordnung?“, fragte Jan besorgt. „Es war, als wärt ihr gar nicht mehr da gewesen, ihr wart irgendwie weg, fast durchsichtig!“ Benny schaute Jan an.
„Ja, alles in Ordnung. Ich weiß jetzt, wie ich ihn besiegen kann. Bleib’ im Hintergrund! Und wenn was schief geht, lauf so schnell du kannst!“ Etwas in Bennys Blick ließ Jans Zweifel verblassen und so nickte er nur und wich ein paar Schritte zurück. Benny schaute zum Schwarzen Wanderer, und begann, auf ihn zuzugehen. „Alte, zeitlose Mächte schreien auf, alte, zeitlose Mächte schreien auf, alte…“ Als er direkt vor dem schwarzen Wanderer stand, hob er beide Hände und hielt sie neben dessen Schläfen. Als er dabei in die Korona eindrang, erfasste ihn wieder das Kribbeln des Verbotenen, das er auch bei dem Tunnel in schwächerer Form gespürt hatte, und augenblicklich wurde ihm eiskalt. Der Teil seiner Arme, der sich in der Korona befand, war sofort gefühllos. Der Schwarze Wanderer hob seinerseits die rechte Hand und hielt sie hinter Bennys Kopf, so als wollte er ihn zu sich heranziehen, um ihn zu umarmen.
Benny wusste, dass er den Schwarzen Wanderer nicht physisch bekämpfen konnte. Er war kein menschliches Wesen, nicht im Entferntesten, er war alt, vielleicht älter als die Zeit selbst, und diese Welt konnte ihm nichts anhaben. Aber wenn er sich mit ihm auf diese Ebene begab, auf der sie eben gewesen waren, konnten sie sich bekämpfen. Allerdings hatte er eben nur passiv gekämpft. Er hatte abgewehrt und den Schwarzen Wanderer zum Schluss ein bisschen verletzt, aber nur innerhalb der Abwehraktion. Wenn er angreifen wollte, musste er, das spürte er, seinen Körper verlassen und in den des Schwarzen Wanderers schlüpfen. Aber das war nicht ganz richtig. Natürlich würde er seinen Körper nicht verlassen, aber etwas würde ihn verlassen, um auf einer anderen Ebene zu kämpfen, vielleicht sein Geist? Wenn er jedenfalls außerhalb war, würde der Rest von ihm, vielleicht seine Seele?, schutzlos sein. Genauso war es mit dem Schwarzen Wanderer. Auch etwas von ihm würde seinen Körper verlassen und in Benny schlüpfen, und dafür den Rest seiner selbst schutzlos lassen. Direkt gegeneinander konnten sie nicht kämpfen, auch nicht auf einer anderen Ebene, dazu waren sie zu unterschiedlich, sie konnten nur gegenseitig ihr, ja, was?, ihr Inneres? zerstören. Wer das schneller geschafft hatte, würde aus diesem Duell als Sieger hervorgehen.

Jan beobachtete, wie sich Benny und der Schwarze Wanderer in Position stellten. Beide hatten das rechte Bein vor das linke gestellt. Benny hob die Hände an die Schläfen des Schwarzen Wanderers, wobei er leicht zu schaudern schien, und der Schwarze Wanderer hielt eine Hand an Bennys Hinterkopf. Jan überlegte kurz, ob er Benny helfen sollte, indem er sich auf den Schwarzen Wanderer stürzte, aber ihm fielen Bennys Worte ein Bleib’ im Hintergrund!, und außerdem nana, du hast was vergessen: Und wenn was schief geht, lauf, so schnell du kannst! wusste er, dass die Sache angefangen hatte, dass es zu spät war.
Und so dachte er nur, als das rote Licht zwischen der Hand des Schwarzen Wanderers und Bennys Hinterkopf und das hellblaue, zwischen Bennys Händen und den Schläfen des Schwarzen Wanderers auftauchte, und die beiden Gestalten wieder zu verblassen schienen: Viel Glück, mein Freund, da wo ihr jetzt seid, kann ich nicht hin, kann ich nicht helfen, aber sei dir gewiss, dass ich trotzdem bei dir bin!

Als Benny driftete, spürte er noch, wie sich eine unangenehme Wärme an seinem Hinterkopf ausbreitete, und dann war er außerhalb.
Er befand sich kurze Zeit im Nichts, etwas Schwarzes huschte an ihm vorbei, da waren Farben und Geräusche, aber es war kein Ort, und dann hatte er den Schwarzen Wanderer anvisiert und driftete in ihn.
Er fand sich in einer Vulkanlandschaft wieder, die ihn als allererstes das Wort „Hölle“ denken ließ. Der Boden war, so weit das Auge reichte, und das war sehr weit, aus schwarzem, brüchigem Fels, hier und da stieg Qualm aus Bodenspalten auf. Im Hintergrund befanden sich schwarze Gebirge. Der Himmel war ebenfalls dunkel, schwarze Wolken rasten vorüber, ohne, dass man auch nur das leiseste Lüftchen spürte. Die Luft war erfüllt von schwefeligem Gestank. Das Rauschen, das den Schwarzen Wanderer umgeben hatte, war auch hier vorhanden, doch es war hier mehr als ohrenbetäubend laut; es war überwältigend. All das vermittelte das Gefühl von Anwesenheit des puren Bösen. Vor Benny befand sich in einiger Entfernung, wie es schien, ein riesiger Baum, dessen Äste kilometerweit in den dunklen Himmel aufragten. Als Benny näher kam, sah er einen Haufen aus goldenen Kugeln, etwa so groß wie Basketbälle, der am Fuße des Baums lag. Die Kugeln schienen gleichzeitig flüssig und fest zu sein, in ihrem Inneren waberte es golden, Benny musste an Honig denken, und in jeder Kugel befand sich ein Gesicht. Benny sah Frauen und Männer, Kinder und Alte. Plötzlich hob sich eine der Kugeln, in ihr befand sich das Gesicht einer Frau, schwebte bis über eine Art Öffnung am Stamm des Baums, die genau für diesen Zweck gemacht zu sein schien, und plumpste hinein, wobei das Gesicht sich zu einer Fratze des Grauens verzog. Da sah Benny, dass der Baum eigentlich gar kein Baum war. Die Äste, die in den Himmel ragten, waren eher so etwas wie Rohre oder Schläuche, die nach unten hin zusammenliefen, sich vereinten, und dann in ein paar dieser Öffnungen mündeten. Die Kugel dehnte den Ast ein wenig, durch den sie glitt, und Benny verdrehte den Kopf, doch er konnte nicht sehen, wo die Äste endeten, so weit führten sie nach oben. Er beobachtete die Kugel, bis er die Ausdehnung des Astes aufgrund der Entfernung nicht mehr sehen konnte.
„WAGE NICHT, ES ANZUFASSEN!“, dröhnte die leiernde Stimme des Schwarzen Wanderers in seinem Kopf.
„DIESE KUGELN SIND DAS GUTE, DAS DU DEN MENSCHEN AUSGESAUGT HAST, RICHTIG?“, sandte er zurück.
„JA. DU SIEHST, ICH BIN NUR EIN WERKZEUG!“
„VON WEM?“
„DAS WEIßT DU.“
„LUZIFER?“
„NENN’ IHN, WIE DU WILLST, ER IST DAS EINE ENDE DER GLEICHUNG.“
„WARUM DIENST DU IHM? DEM BÖSEN?“ Dieses rückwärts ablaufende Lachen ertönte wieder, ohrenbetäubend diesmal.
„GUT UND BÖSE, DAS SIND NUR BEGRIFFE FÜR DIE BEIDEN HAUPTPOLE. SIE BEKÄMPFEN SICH TAG FÜR TAG AUF DEINER WELT. ICH BIN KEIN MONSTER, ICH BIN NUR EIN JOKER FÜR DIE EINE SEITE DER GLEICHUNG. WARUM HÄLTST DU DICH NICHT DA RAUS?“
„DU BIST EIN JOKER FÜR DIE EINE SEITE DER GLEICHUNG? ICH VERRATE DIR WAS: ICH BIN DER FÜR DIE ANDERE!“ Daraufhin schwieg der Schwarze Wanderer.
Benny ging um den Baum herum und überlegte, wie er ihn zerstören konnte. Er war die Verbindung zu noch viel schrecklicheren Wesen als dem Schwarzen Wanderer, die sich aus den goldenen Kugeln, dem Guten aus Menschen, ernährten. Würde er diese Verbindungen kappen, würde er den Schwarzen Wanderer, den Joker des einen Hauptpols, unschädlich machen.
Er begann, den Baum hinaufzuklettern, was schwer war, da er aus einem ähnlichen Material wie Gummi zu bestehen schien. Vielleicht etwas wie organisches Gummi, denn Benny sah Poren, so etwas wie Pickel, aus denen eitrige Substanzen flossen, manchmal einzelne Haarbüschel und Auswüchse, die manchmal fast wie Gliedmaßen aussahen. Als er ein Stück geklettert war, versuchte er, seine Finger in einen der Äste zu bohren und ein Loch hineinzureißen. Das funktionierte nicht, das Material war zu zäh, es quietschte nur etwas und aus einigen Poren kam stinkender Dampf. Eine weitere Kugel, diesmal mit dem erschrockenen Gesicht eines alten Mannes, fiel in eine der Öffnungen. Es muss einen Weg geben, dachte Benny.

Jan stand bei Benny, weil er sich eingebildet hatte, dass dieser wimmerte, und tatsächlich gab Benny Laute von sich wie jemand, der einen Alptraum hatte. Jan war um die beiden herumgegangen, hatte die Lichter untersucht, jedoch nichts angefasst. Benny und der Schwarze Wanderer waren fast komplett durchsichtig. Zwischendurch waren dröhnend Hubschrauber über ihn in die Richtung, aus der die Jungen gekommen waren, hinweggeflogen, olivgrüne der Bundeswehr und weiß-rote des DRK, und er hatte gewunken, glaubte aber nicht, dass sie ihn gesehen hatten. Benny wimmerte wieder. Jan sah in mitleidig an und fragte:
„Was brauchst du, Mann? Wie kann ich dir helfen?“ Er überlegte, dass wenn er jetzt Bennys Waffe hätte, sie dem Schwarzen Wanderer an die Schläfe halten und abdrücken könnte. Warum hatte er Idiot sie auch in der Polizeistation gelassen? Gut, Benny hatte gesagt, dass sie sie nicht mehr brauchen würden, und wahrscheinlich würde es sowieso nicht funktionieren, aber war es nicht Wahnsinn gewesen, in ihrer Lage eine geladene Waffe zu verschmähen? Wenn er doch nur eine Säge hätte, den Fuchsschwanz aus dem Baumhaus zum Beispiel, dann könnte er… Moment mal, wie kam er denn jetzt auf eine Säge? Er versuchte den Gedanken an die Säge beiseitezudrängen, doch der blieb beharrlich da, setzte sich in seinem Kopf fest und formte sich zu einem Satz: Nimm die Säge!
Benny wimmerte wieder. In Jans Kopf war das Bild der Säge. Nimm die Säge! Verdammt, was sollte er denn jetzt mit einer Säge? Nimm die Säge! Benny wimmerte wieder. Nimm die Säge! Plötzlich verstand Jan. Irgendwer, irgendwas, hatte ihm diese Botschaft geschickt, weil er, es, nicht direkt zu Benny durchkam, vielleicht weil er sich auf Grund und Boden des Schwarzen Wanderers befand.
„Die Säge!“, brüllte er Benny ins Ohr, „Benny! Nimm die Säge! Der Fuchsschwanz aus dem Baumhaus! Nimm die Säge! Nimm die…“

„… Säge!“ Was war das? Für einen Moment lang hatte er geglaubt, Jans Stimme zu hören, doch das konnte wohl nur Wunschdenken sein, denn wie… Da! Da war es wieder! Ganz leise und fern, und durch das verdammte Rauschen kaum zu hören, aber dennoch… Benny schloss die Augen und konzentrierte sich auf Jan. Was willst du mir sagen, mein Freund? „Der Fuchsschwanz aus dem Baumhaus! Nimm die Säge!“ Plötzlich hatte Benny das Bild ihres Fuchsschwanzes vor Augen, den sie für das Baumhaus benutzt hatten. Der Fuchsschwanz mit dem gelb-schwarz gummierten Griff, in seiner Papphülle, die sie mit Klebeband umwickelt hatten, weil die Zähne so scharf waren, dass sie die Pappe schon bald beim rein- und rausziehen der Säge durchgefetzt hatten… die Säge! Das war wirklich eine gute Idee, aber was nützte ihm das jetzt schon? Er brauchte etwas, was auch in seiner Reichweite lag, und nicht im Baumhaus… Er schaute runter auf die goldenen Kugeln unter ihm, die in den Öffnungen der Äste verschwanden, als er bemerkte, dass er den Fuchsschwanz in der Hand hielt. Er hob ihn ungläubig vors Gesicht, betrachtete, und betastete ihn. Das war ohne Zweifel ihr Fuchsschwanz aus dem Baumhaus, nur ohne die Papphülle. Was machte der in seiner Hand? Hatte er ihn vielleicht hergeholt, indem er an sie gedacht hatte? Wahrscheinlich… Dann dachte er, dass er selbst ja auch nicht richtig hier war, warum sollte diese Säge in seiner Hand also echt sein? Aber war das nicht egal, solange sie funktionierte? Er setzte die Säge an den ihm am nächsten befindlichen Ast an und begann zu sägen. Der Fuchsschwanz ging durch das gummiartige Material wie ein heißes Messer durch die Butter, und ein Schwall ekelhafter, schwarzer, stinkender Säure ergoss sich über ihn, während das abgesägte Ende des Astes, oder des Schlauches, ein Stück in Richtung Boden fiel und dann schnurgerade hängenblieb. Benny wusste, dass die Säure, wäre er wirklich körperlich hier, ihn verätzt hätte. So aber spürte er nichts und machte mit dem nächsten Ast weiter.
„WAS MACHST DU DA?“, fragte die leiernde, mächtige Stimme mit unverhohlener Besorgnis.
„ACH, ICH STUTZ’ HIER NUR WAS ZURECHT… WARUM, GEHT DIR DER ARSCH LANGSAM AUF GRUNDEIS, DU HUNDESOHN? SIEHST DU DEIN ENDE NAHEN?“, sandte Benny zurück. Der Schwarze Wanderer schwieg und Benny machte sich schon an den nächsten Ast, als er sagte:
„FREU DICH NICHT ZU FRÜH…“ Diese Worte hatten einen ruhigen, dafür umso gefährlicheren Ton und Benny hielt kurz inne. Dann sah er, wie drastisch sich der Haufen der goldenen Kugeln unter ihm verkleinert hatte und beeilte sich, weitere Äste durchzusägen.
Benny sägte konzentriert und wie wahnsinnig, er ignorierte die eklige, stinkende, schwarze Brühe, die sich jedes Mal über ihn ergoss, wenn er einen Ast durchgesägt hatte und machte sich sofort an den nächsten. Schließlich war nur noch einer der Äste übrig, die anderen hingen schnurgerade vom Himmel herab, und als Benny nach unten schaute und sah, dass nur noch eine einzige Kugel da war, die gerade in die Öffnung dieses letzten Astes fiel, beeilte er sich noch mehr, doch er schaffte es nicht mehr rechtzeitig. Die goldene Kugel flutschte unter seiner Säge hindurch und verschwand nach oben. Benny sägte den Ast ganz durch und rutschte dann an einem der Äste wie an einem Seil nach unten auf den Boden, wo er die besudelte Säge fallen ließ.
Vor ihm hingen die schwarzen Schnüre herab wie Spaghetti beim Auffüllen von einer Kelle, teilweise noch immer tropfend, und der verstümmelte Stamm in der Mitte bot ein jämmerliches Bild. Benny jubelte innerlich; er hatte es geschafft, auch wenn er keine der goldenen Kugeln hatte retten können (er hätte auch nicht gewusst, was er in diesem Falle mit ihnen hätte machen sollen).
Plötzlich ertönte aus dem Höllenhimmel über ihm ein gewaltiges Rumpeln, und Benny sah, dass sich die Schläuche ganz weit oben fast grotesk weit dehnten… weil irgendetwas dabei war, zu ihm runterzukommen. Er hörte Stimmen aus den Schlauchenden, und diese hörten sich brutal und kehlig, wie die von Monstern an, sehr sogar, und Benny machte sich daran, zurückzudriften. Einen Moment lang erfasste ihn blankes Entsetzen, weil es nicht ging, doch dann kam dieses leichte Gefühl des Emporgehobenwerdens, und er driftete, gerade als etwas Schuppiges mit großen Zähnen und drei Augen aus einem Schlauchende auf den Boden fiel.
Er befand sich wieder kurze Zeit im Nichts, da waren erneut Farben und Geräusche, aber es war immer noch kein Ort, etwas Schwarzes huschte wieder an ihm vorbei, und dann hatte er sich selbst anvisiert und driftete in sich.

Zuerst dachte Benny, es hätte nicht funktioniert und er wäre wieder im Schwarzen Wanderer, doch dann bemerkte er, dass die Landschaft um ihn herum der des Schwarzen Wanderers zwar ähnlich, verdammt ähnlich war, aber dennoch nicht gleich. Der Boden war gefährlicher, es gab massenhaft scharfe Felskanten und –spitzen, keine Berge im Hintergrund, dafür war die ganze Landschaft hügeliger. Der Himmel war derselbe, schwarz, rasende Wolken, aber es herrschte ein rauer Wind, der so heftig war, dass er laufend alle Konturen verzerrte, sodass es keinen festen Punkt gab, an dem sich das Auge orientieren konnte. Benny wurde schwindelig. Der Wind klang in etwa wie das Rauschen beim Schwarzen Wanderer, aber es gab hier mehr einzelne Töne, die manchmal penetrant hervorstachen und Bennys Ohren malträtierten. Da, wo beim Schwarzen Wanderer der Baum gestanden hatte, lagen bunte Steinbrocken auf dem Boden herum. Benny ging zu ihnen und erkannte sie. Es waren die Reste der Mauer, die er um sein Elysium aufgebaut hatte, die in den hellen, freundlichen Farben. Er besah sich den Radius, in dem sie Brocken lagen. Das war nicht mehr als ein größeres Zimmer… Sein Elysium hatte nur Zimmergröße gehabt? Aber es war ihm doch immer so groß vorgekommen. Eigentlich genau anders herum, nämlich, dass die Wüste seiner Seele so ein kleiner Raum war, in den er alles Boshafte verbannte, während sein Elysium darumherum war. Wie jetzt die Wüste um sein Elysium. Wie hatte er sich nur selbst so täuschen können? Wahrscheinlich durch das, was er in seinem kleinen Raum an die Wände gemalt hatte, was Weite und Ferne vorgetäuscht hatte. In Wirklichkeit hatte er sich in einen Brunnenschacht eingeschlossen.
Irgendwie hatte er immer geahnt, dass es in Wirklichkeit so und nicht anders in seiner Seele aussah. Das, was sein Vater ihm angetan hatte, konnte keiner so einfach wegstecken, wie er es sich eingebildet hatte, zu tun. Keiner. Es war alles eine Illusion gewesen, sein ganzes Leben lang. Und früher oder später hätte er sich eine Leiter nehmen und über den Rand seines bunt angepinselten Brunnenschachtes, „Elysium“ genannt, hinausschauen müssen. So gesehen hatte der Schwarze Wanderer, indem er die Mauern eingerissen hatte, dem also nur vorgegriffen. Benny kickte ein paar der bunten Steine herum, die sich langsam schwarz färbten und sich dem restlichen Boden anpassten, bis sie fort waren.
Dann schaute Benny hoch, in die kahle Wüste seiner Seele, die der des Schwarzen Wanderers nicht unähnlich war und wusste, dass der Kampf unentschieden ausgegangen war. Er hatte den Schwarzen Wanderer vernichtet, aber der Schwarze Wanderer wiederum hatte ihn vernichtet.
„BENNY!“
„JA, VATER.“ Sein Vater war tot, das wusste Benny, aber das, das da hinter ihm sprach, war nicht sein Vater, nicht direkt, es war das, was sein Vater ihm angetan hatte.
„ICH HABE AUF DICH GEWARTET! HABE GEWARTET, BIS DU ERBÄRMLICHER VERLIERER AUS DEINEM LÄCHERLICHEN BRUNNENSCHACHT HERAUSKOMMST!“ Es gab zustimmendes Gemurmel. Benny drehte sich um und sah seinen Vater, der in seiner dreckigen Arbeitsjeans und dem Gürtel in der Hand auf ihn zukam. Neben ihm stand sein Vater in seiner Badehose. Daneben sein Vater mit einer Bierflasche. Daneben sein Vater mit kurzen Haaren, wie er sie früher getragen hatte. Sein Vater in Arbeitskleidung, sein Vater in Unterwäsche, sein Vater nackt, sein Vater im Anzug, sein Vater, sein Vater, sein Vater… Und alle redeten sie auf Benny ein:
„LOS, MACH SCHON!“
„DU WEIßT DOCH, WIE’S GEHT!“
„WIE KANN MAN NUR SO DUMM SEIN?“
„STELL DICH NICHT SO AN!“
„WEHE, DU REDEST MIT JEMANDEM DARÜBER!“
„JA, SO IST’S GUT!“
„SONST MUSS ICH DICH UMBRINGEN!“
„DU BIST BESSER ALS DEINE MUTTER!“
„ZIER DICH NICHT, DU MEMME!“
„DU BIST NICHTS WERT!“
„LOS, NIMM IHN IN DEN MUND!“
„HÖR AUF ZU FLENNEN!“
„WAS SOLLTE MAN MIT BÖSCEN SCHÜLERN TUN, DIE IHRE HAUSAUFGABEN VERGESSEN?“
„EIN WORT UND DU BIST TOT!“
„DU STÜCK DRECK TAUGST FÜR NICHTS!“
„MACH WEITER, ICH SAG DIR, WENN DU AUFHÖREN KANNST!“
„STRENG DICH MAL EIN BISSCHEN AN!“
„JA, DAS NENN’ ICH ENG!“
„DAS GEFÄLLT DIR, WAS, DU KEINER SCHWULER?“
„DU STÜCK SCHEIßE!“
Sie kamen von überallher, dutzende Kopien seines Vaters, hunderte, tausende, Hände reibend, Gürtel und Fäuste schwingend, sich ausziehend, und alle brüllend in dem tosenden Wind.
Ein einzelner Schrei entrang sich Bennys Kehle, direkt von seiner gemarterten Seele, in den sich der des Schwarzen Wanderers mischte und eine ohrenbetäubende Kakophonie erzeugte:
„NEEEEEEIIIIIIN!“

Als die beiden plötzlich voneinander abprallten wie zwei sich abstoßende Magneten, erschrak Jan zu Tode. Der Schwarze Wanderer fiel zu Boden, die Korona verschwand, das Rauschen hörte auf und der Körper, wenn es denn einer war, verschwand einfach. Benny fiel auf die Knie, fing an zu zittern, Tränen liefen ihm in einer Menge und Geschwindigkeit die Wangen herunter, wie Jan es nie für möglich gehalten hätte. Mit heiserer Stimme schrie er: „Neeein, neeein, neeein!“ Jan stürzte zu ihm und nahm ihn in die Arme. Bennys Haar war schneeweiß geworden, er schlotterte und zuckte.
„Benny, Benny, großer Gott, Benny!“ Benny drehte den Kopf und sah Jan an.
„Jan? Ja… Jan?“
„Ja, ich bin’s, Mann, ich bin da!“
„Jan, Jan“, immer schwächer, „Jan, Jan, Jan, Jan, Ja...” Bennys Stimme wurde leiser und leiser und bekam gegen Ende den Ton von jemandem, der unendlich müde war und bei dem, was er gerade tat, wegdämmerte, ohne etwas dagegen tun zu können.
„Benny, bleib bei mir, Mann!“ Benny hatte aufgehört zu reden, die Tränen versiegten, sein Körper beruhigte sich, der rechte Daumen wanderte in seinen Mund, er krümmte sich etwas und Jan ließ ihn sanft zu Boden gleiten, wo er die fötale Haltung einnahm und sich nicht mehr rührte.
„Benny? BENNY? Oh, Scheiße, Mann!“ Jan stand auf und trat Dreck weg. Er hatte Tränen in den Augen, bedeckte sein Gesicht mit den Händen und drehte sich um sich selbst. Dann blieb er stehen und schaute in den Himmel. „Oh, Schei-ße!“ Er ging zu Benny, dessen Haltung sich nicht verändert hatte, legte ihn sich über die Schulter und begann, in Richtung Hermsdorf zu traben.

Kapitel 6​

Als Jan noch etwa einen Kilometer von Hermsdorf und nicht einmal mehr so weit von der Erschöpfung entfernt war, kam ihm ein olivgrüner Bundeswehrjeep entgegen. Erst dachte er, im Inneren säßen weiße Mäuse, doch als der Jeep vor ihm hielt, sah er, dass es Männer in weißen Ganzkörperanzügen mit Gasmasken waren. Die Türen wurden geöffnet und die Männer stiegen aus und kamen zu ihm.
„Bitte, mein Freund…“, dann klappte er zusammen. Er hörte noch ein nüchternes „Kümmert euch um die Jungen“, dann umschlossen ihn schwarze Schwingen und er war weg.

Er erwachte im Hermsdorfer Krankenhaus und wollte sofort zu Benny. Nach einigem Zögern ließen ihn die Ärzte namens Schneider und Hartig, beides große, schlanke Kerle in weißen Kitteln, mit weißen Haaren, Namensschildchen und Brillen auf der Nase, kurz in sein Zimmer. Jan war erschrocken, wie klein und alt Benny in dem steril wirkenden Bett aussah. Er hatte tiefe Falten im Gesicht, das Haar schneeweiß, er schien um Jahrzehnte gealtert. An seinem Kopf hafteten Elektroden, Schläuche führten in seine Nase, Infusionen in seine Arme. Geräte neben dem Bett zeigten Grafen, Kurven und Zahlen an und piepten in regelmäßigen Abständen.
„Großer Gott, was ist mit ihm passiert?“, fragte Jan bestürzt.
„Tja, wir hatten gehofft, du könntest uns das erklären. Dein Freund liegt im Koma vierten Grades.“
„Vierten Grades? Wie viele Grade gibt’s denn?“
„Vier. Und das ist der Schlimmste. Das heißt keine Schmerzreaktion, keine Pupillenreaktion, Ausfall weiterer Schutzreflexe.“
„Das heißt er ist nicht mehr hier…“
„Äh, ja, so könnte man sagen. Hör mal Junge, was war da los im Wald? Dein Freund hat einen Schock erlitten, und zwar einen, der ihn ins Koma vierten Grades befördert hat. Hat es etwas mit dem anderen Jungen zu tun, den sie gefunden haben? Dem mit dem Messer in der Brust? Oder mit dem, was drüben passiert ist?“
„Ja“, sagte Jan einfach nur.
„Ja? Aber, also, wie…“ Jan ging ans Bett und drückte Bennys Hand. Sie fühlte sich kalt und leblos an.
„Tun sie alles, was sie können, für ihn, er hat mehr für uns alle getan, als Sie sich vorstellen können.“ Damit verließ er das Zimmer.

In den folgenden Tagen musste Jan dutzende Untersuchungen über sich ergehen lassen und mit dutzenden Leuten reden, die er schließlich in „Kittel“ und „Uniformen“ einteilte. Sie wollten wissen, was drüben passiert war, was Jan und Benny und Daniel erlebt hatten. Jan berichtete wahrheitsgemäß, wie sie über Nacht im Baumhaus gewesen, dann zurückgekommen und Chaos vorgefunden hatten, wie sie dann erst bei Benny, dann bei Daniel und schließlich bei der Polizei gewesen waren. Die Sache mit dem verrückten Jungen ließ er aus und sagte, von der Polizei aus wären sie nach Hermsdorf weitergegangen, um zu sehen, ob hier vielleicht noch alles in Ordnung war. Die Sache mit Daniel erklärte er, wie sie gewesen war; er wäre plötzlich einer von denen geworden.

Dann war da noch der Oberkittel, eine Frau Kademczi, die mit ihm immer nur über Daniel reden wollte, wie Jan ihn erstochen und was er dabei gefühlt habe, bis Jan irgendwann sagte, sie habe keine Ahnung und solle sich ins Knie ficken.

Nach ein paar Tagen im Krankenhaus und etlichen ergebnislosen Untersuchungen wurde eine Pflegefamilie für Jan in Hermsdorf gefunden, bei der er sich auch recht wohl fühlte. Er war Anwalt, sie Lehrerin. Sie hatten einen Sohn in Jans Alter, Robin, mit dem sich Jan gut verstand, und einen Hund, einen Cockerspaniel. Sie wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus etwas abseits.

In den Nachrichten hörte man nur noch von „dem Virus“, doch Jan hielt das alles für Quatsch, die 10.000 Opfer hatten kein Virus gehabt, ihnen war ihre Menschlichkeit geraubt worden. Weil das die Kittel und die Uniformen aber nicht wussten und auch nicht erklären konnten, was nun eigentlich genau passiert war, war das die gängige Erklärung geworden. Und nur ein Mensch wusste es besser und, hey, wer würde schon einem 14-jährigen glauben, der bei der ganzen Sache wohl einen wegbekommen hatte, wegbekommen haben musste?

Einige Monate später wurden die Maschinen, die Benny am Leben hielten, abgestellt. Jan flehte seine neuen Eltern an, den Grabstein zu bezahlen, was sie gerne taten. Den Spruch, den Jan nun jedes Jahr am selben Tag auf dem Stein las, hatte er selbst geschrieben:

Benny,

in tiefer Freundschaft
und Dank für Millionen

Ruhe in Frieden

 

Hallo Maeuser,
eine lange Geschichte, die du veröffentlicht hast. Deswegen habe ich auch erst Kapitel 1 und 2 geschafft.
Du hast in Kapitel 1 einen sehr guten, kraftvollen Einstieg geschrieben, der extrem dynamisch ist. Diese Dynamik geht im zweiten Kapitel verloren. Dies liegt unter anderem daran, dass Du relativ lange Beschreibungen einflechtest, die allerdings durch den Protagonisten nicht getragen werden. Also z.B. Das Baumhaus wird beschrieben, bevor er überhaupt da ist etc. Desweiteren sehr viele Details die das Zentrale verschlucken und die Kraft aus den Bildern (die du teilweise ganz gut transportieren kannst) ziehen. Mein Vorschlag wäre einige radikale Kürzungen vorzunehmen und das Wesentliche (z.B. die Freundschaft) auszubauen mittels Situationen.
Ich werde in den kommenden Tagen den Rest auch noch lesen. Zunächst aber nur Kapitel 1 und 2:

„Verdammt, wo sind deine scheiß Hausaufgaben, Sklave?“
Ich nehme es diesem Ars….och nicht ab, dass es hier scheiß sagt, besser wäre verdammt. Mit „Sklave“, habe ich ebenfalls meine Probleme (wie mit dem folgenden „Herr“), Missgeburt und ähnliches würden meiner Meinung nach besser passen. Durch das Zitat aus Huckleberry Finn kommen hier auch andere Assoziationen bezüglich Sklave-Herr auf.
Insgesamt gefällt mir das erste Kapitel sehr gut, da Du durch die „Kopfschau“ eine dichte Atmosphäre erschaffst und dieses Grauen erlebbar machst.
Was brüllt er? Jaja, dasselbe wie immer, er bringt dich um, wenn du mit irgendwem darüber redest, nur raus hier, lauf…
Ich würde es besser finden, wenn dieser Satz direkt wäre. Also „Ich bring dich um!“, wäre zugleich ein stärkerer Bruch, da es das Kapitelende ist.

Die Haustür eines einst niedlichen, kleinen Einfamilienhauses, das inzwischen aber schäbig und verfallen aussah, wurde geöffnet
Niedlich passt hier nicht so. Kleine Kinder sind niedlich oder Tiere, aber Häuser? Vielleicht auch den folgenden relativ langen Satz durch einen Punkt trennen, da er den Einstieg in ein neues Kapitel bildet.
Folgend könntest Du das „Verfallene“ des Hauses etwas verkürzen, da es bereits im ersten Satz sehr explizit gesagt wird:
gerade im Sommer, einem vielfältig verschlungenen, wuchernden Dschungel glich, der sich alle Mühe gab, das Haus in seiner Mitte zu verschlingen, das scheinbar ebenfalls seit einigen Jahren nicht mehr gepflegt worden war. Die hellgelbe Fassade war schmutzig und von Wind und Wetter ausgeblichen, die Dachziegeln teilweise herausgebrochen ..
Herausgebrochen würde bedeuten, dass dies aktiv jemand getan hat. Vielleicht einfach nur „fehlten“, „fehlende“ oder etwas Ähnliches.
Sein Vater, früher Lehrer, dann Lehrer und Säufer, und schließlich nur noch Säufer, war ein Tyrann, ein Sadist,
gefällt mir sehr gut, allerdings würde ich nach Sadist einen Punkt setzten. Da die Bedeutung hier sonst an Stärke verliert.
Ebensogut hätte man fragen können, warum Soziopathen kein Mitleid empfanden oder Mörder mordeten.
Empfinden und morden, da allgemeingültige Aussagen und irgendwie „außerhalb des Erzähltempus“ der Geschichte liegen. Ich bin sehr vage, nicht? :o)
Der Name der Krankheit war Bosheit – und diese Bosheit bestand aus Hass, Wut, Aggression, Schmerz, Trauer und so weiter. Diese Gefühle bedingten sich teilweise gegenseitig, ergänzten sich im negativen Sinne, stachelten sich gegenseitig an und vermischten sich zu einem bösartigen, hässlichen, kreischenden und zuckenden Monsterball: der Bosheit.
Würde hier die beiden ersten „Bosheiten“ rausnehmen, da Du ja eine Symptomsammlung machst, und schließlich der Krankheit einen Namen gibst. Ansonsten schöner Absatz.

Also folgend wird wieder Hintergrundinformation gegeben. Ich würde mir jetzt eher mehr „Action“ (im Sinne eines handelnden Protagonisten wünschen), da das bisherige Kapitel eher beschreibend war:

Benny hatte sich mit Jan und Daniel zum Übernachten in ihrem Baumhaus verabredet. Jan und Daniel waren seine beiden besten Freunde. Daniel war auch zwölf, Jan dagegen schon vierzehn. Er ging auch nicht in Bennys und Daniels Klasse, die 6c auf der Victor-Gollancz-Grundschule, sondern schon in die achte auf dem Georg-Herwegh-Gymnasium. Benny hatte Jan vor Jahren beim Spielen auf dem Spielplatz in seiner Straße kennengelernt und hatte ihm dann Daniel vorgestellt.
Dies gilt auch für die Beschreibung des Baus ihres Baumhauses. Lass die Figur doch das Baumhaus beschreiben, wie es jetzt gerade aussieht, in der Sommersonne etc. und ich weiß nicht, ob der Bau des Baumhauses sehr relevant für die weitere Geschichte ist.
z.B. im Tannen- oder Buchenbezirk, auf den Waldmeisterlichtungen, den „Bergen“ (auf denen man im Winter prima rodeln konnte), oder der „Wüste“ (goldgelbe, sandige Flächen, die in der heißen Sommersonne etwas von Strand hatten, mit nur ein paar krüppeligen Kiefern).
Also Abkürzungen sollten m.E. nicht in Geschichten auftauchen. Das mit den Anführungsstrichen würde besser passen, wenn es zunächst in der direkten Rede verwendet wird. Also: „Wir gingen in die Wüste.“ Um es dann mit Anführungszeichen wieder aufzunehmen und dann zu erklären, dass man das eben unter sich Freunden so nannte.
Wenn er bei dem Baumhaus ankommt, hätte die Beschreibung (sofern notwendig) einsetzen können. Diese „Infodumps“ erschlagen den Leser eher.
den Boden nach etwas ab, was er nach oben durch das Fenster werfen konnte, aber er fand nichts Geeignetes. Schließlich wurde er sich seines Gepäcks bewusst und nahm seinen Schlafsack von der Schulter.
Würde ich streichen, da er ja schließlich doch mit dem Schlafsack wirft.

Betretenes Schweigen. Jan legte Benny eine Hand auf die Schulter, drückte kurz und sah ihm dabei in die Augen. Daniel drehte sich diskret etwas weg. Dann nickte Jan Benny zu und lächelte. Der peinliche Moment war vorüber und auch Benny lächelte wieder.
Ach was mag ich diese Jungenfreundschaftsmomente, erinnert mich ein wenig an diesen „Stand by me“- Film (wenn ich mich jetzt noch erinnern könnte, welche Stephen King Geschichte die Vorlage bildete ^^). Tja man wird alt.

Also folgender Abschnitt ist „symptomatisch“ für die vorangehenden.

Dann spielten sie noch etwas Karten, „Schwimmen“ und „Pik-Dame“, und später stellten sie die Stühle zusammen, damit sie Platz für ihre Schlafsäcke hatten. Als diese dann ausgebreitet waren und die Jungen darinlagen, redeten sie noch lange über die Schule, ihr Freunde, Mädchen, Lehrer, Fernsehserien, Comics und alles mögliche andere, und schließlich schliefen sie ein.
Wenn es nicht wichtig ist, schreib es nicht. Oder: Nimm einige von diesen Dingen und bilde eine „Situation“, die mit den Zigaretten fand ich schon einmal ganz gut. Oder lass sie eben sich mal ordentlich über die Mädels unterhalten.
Die „nächtliche Stimme“ würde ich hingegen etwas mehr Raum geben. Sie versinkt unter den vorhergehenden langen Beschreibungen.
Er lauschte auf das Atmen der beiden anderen, alles war normal. Trotzdem stand er auf und schaute aus dem Fenster.
Baumhaus mit „Fenster“? Fensterluke-öffnung, da man sonst eher an etwas Verglastes denkt.
Wie konnte das angehen?
sein

Also Du hast mit dem ersten Kapitel gezeigt, dass Du sehr dicht schreiben kannst und hast mich dadurch in die Geschichte ziehen können. Ich hoffe, dass das zweite Kapitel eine Ausnahme ist.
Einen lieben Gruß,
die Bambule

 

Kommen wir zu Kapitel 3.
Also: Besser als Kapitel 2. Allerdings würde ich auch hier noch etwas straffen und die Figuren emotionaler beteiligen. Das kommt erst in den letzten Abschnitten des Kapitels, dass sie sich um die Familien wirklich Sorgen machen- beispielsweise.
Ach ja, und warum denkt Benny erst so spät an den Traum? Könnte er ihn denn nicht wenigstens den anderen erzählen? Nur das das nicht wirkt, wie "Ach ja mich dünkt, das hat was mit dem Traum zu tun."
Du verwendest relativ oft Richtungsangaben, wie rechts und links. Wirkt ein bißchen "kühl".
Die Motive, warum sie überhaupt in die Stadt gehen werden nicht klar. Und es ist zu spät, sich erst im Haus Gedanken darüber zu machen, was sie nun überhaupt machen sollen.

Am nächsten Morgen wurden sie früh von hellem Sonnenschein und lautem,
vielfältigen Vogelgezwitscher geweckt.
streichen?
Warum sollte es in der Nacht plötzlich so viel kälter sein als normalerweise?
so viel kälter gewesen sein?
Wahrscheinlich hatte er sich das nur eingebildet, vielleicht war es ein Traumelement gewesen, das nicht gleich mit dem Aufwachen verschwunden war, sondern sich hartnäckig in seinem Verstand gehalten hatte.
Nachdem sie ihre getrockneten Sachen angezogen hatten, aßen sie die Reste ihres Abendbrots und waren dann auch schon wieder unterwegs, erst wieder runter zum Fluss, wo sie wieder eine Weile am Damm herumbauten, dann in die Wüste, wo sie sich erst in der Sonne, dann, als es zu heiß wurde, im Schatten ausruhten und unterhielten, und anschließend wieder im Wald beim Krieg zwischen Rothäuten und Weißen spielen,
wieder so ein Absatz, der alles "erzählt", aber nicht "zeigt"
mit Stöckern als Gewehren oder Speeren und Lanzen, und Verstecken.
Stöcken
Außerdem bauten sie sich Bogen aus biegsamen Ästen und Paketschnur, die Jan dabeihatte, u
dabei hatte
Frage wäre, warum Du sie überhaupt in den Wald geschickt hast?
Würde vor allem die Freundschaftsmomente deutlich mehr "Fleisch" geben und als zweites dem "nächtlichen Geschehen". Denke, dass das die zentralen Themen sind, die allerdings unter "Baumhaus bauen und dem minutiösen Abläufen" leider etwas untergehen.
Der Rückmarsch und die Vorstellung, dass sich das Haus und der Garten verändert, müsste direkter dargestellt werden. Idee gefällt mir ziemlich gut.
Und folgend bist Du wieder sehr dicht an den Figuren dran. Schön gemacht.
Benny nahm seine Umwelt wieder bewusster war und schaute sich um. Sie waren fast am Ende des Waldes angekommen, vielleicht noch etwa zehn Minuten zu gehen. Er lauschte, und hörte plötzlich weit entfernten Krach, wie von zerberstenden Gegenständen. Auch ein paar Alarmanlagen waren zu hören
.

Je näher sie dem Waldende kamen,
Waldrand
Wenn etwas passiert war, also eine Sache, dann konnte es Lärm geben
,
aber die ]Geräusche vor ihnen schienen nicht von nur einer Quelle zu stammen, sondern von der ganzen breiten Stadt vor ihnen. Manche Geräusche kamen fast ganz von links, andere direkt von vorne, und andere fast ganz von rechts.
Wie schrecklich/bedrohlich/angsteinflößend etc. sind die Geräusche eigentlich?

und einer Fliegerbrille auf der Nase auf dem Fahrersitz sitzen.
sitzen gewöhnlich nicht auf der Nase, sondern werden durch Bänder am Kopf gehalten.
Ich frage mich, wie sich die Jungs in all der Zerstörung fühlen, was macht das mit ihnen? Ungläubig, ist ein "Schisser" unter ihnen? Fühlen sie sich als die letzten Überlebenden? Und sie scheinen auch extrem "cool" mit Leichen umzugehen. Vielleicht könntest du das noch ein wenig "pimpen". Z.B. einen Mitschüler, oder den "meistgehassten" Lehrer. So scheint es, als sei es völlig normal, dass dort Leichen liegen.

(ICH KANN HTS DAFÜR,
ICH SO!)​
:D Schick gemacht.

„Sind denn alle verrückt geworden?“, murmelte er.
„Sieht so aus“, erwiderte Jan.
„Ok“, sagte Benny und versuchte, seine Emotionen beiseite zu schieben, das Ganze nüchtern und sachlich zu betrachten, was schwer war. Was war jetzt zu tun?
Soviel zu den Emotionen. Mir ist das zu wenig. Warum wollen sie überhaupt aus der Stadt raus, wann haben sie den Plan gefasst?
„Lasst uns erstmal zu mir, das ist am nächsten. Mein Vater hat eine Pistole in seinem Arbeitszimmer. Vielleicht finden wir auf dem Weg raus, was los ist.“
Kein Widerspruch ertönte, nur zustimmendes Gemurmel, und so gingen sie los.
Na komm wenigstens einer hat doch Angst? Und selbst wenn man vielleicht ne kleine doofe Schwester hat, möchte man vielleicht einen Moment lang wissen, wie es ihr geht? Nur so als Vorschlag. Könntest natürlich auch die kleine Schwester durch den Baseballschläger matschen lassen.. Also, was ich meine: die Figuren anteilnehmen lassen, an dem was um sie herum passiert, denn sonst ist es mir als Leserin, auch ziemlich piepegal, wenn da ein paar Leichen rumliegen.
Als Benny die Drehbewegung sah, die sie dabei machte, so wie wenn man eine Zigarette austritt, rebellierte etwas in seinem Magen und er hatte gerade noch Zeit, sich etwas vornüberzubeugen, bevor er sich auf die Straße übergab.
Na endlich. Sie kotzen wenigstens. Aber das könnte noch etwas detaillierter sein. Vielleicht kriegt Daniel ja einfach auch ein Stück Hirn ab? Was hatten sie gegessen :o)? Und warum lässt Du sie nicht auch mit vollgekotzten T-Shirts weiterlaufen?
Ab diesem Punkt nahm Benny seine Umwelt wie durch einen Filter da.
Mehr oder weniger stumpf marschierten sie zu dritt mit Blick auf den Boden durch die Straßen, erschraken nicht, wenn neben ihnen etwas explodierte oder aus einem Fenster flog, zuckten nicht mehr zusammen.
diese Abstumpfung geschieht zu schnell, da sie vorher relativ gleichgültig auf die Zerstörung geblickt haben

Sein Vater lag auf dem Bauch, die Glieder weit von sich gestreckt, und anstelle seines Hinterkopfes klaffte ein großes Loch, durch das man in den Kopf hineinsehen konnte.
Anstelle: hieße, dass dort kein Kopf mehr ist, Loch reicht
außerdem: zweite tote Person, in die man schauen kann
„Die große Frage ist: Was, zum Teufel, ist hier los?“
Frage würde ich früher stellen, denn welchen Grund hätten sie sonst gehabt zu dem Haus zu gehen? Also der Plan die Waffe zu holen, impliziert ja schon einen "vagen" Plan.

„Sie waren wie blind vor Wut, überhaupt nicht mehr menschlich, keine Moral mehr. Man stelle sich vor, eine alte Frau… Ein kleines Kind… So, als ob sie voller Hass wären. So voll davon, dass sie sich letztendlich selbst umbringen…“, dachte Daniel laut.
Um vielleicht den Bogen etwas weiterzuspannen, warum lässt Du sie nicht die "Zombiekenntnisse" bereits im Baumhaus ausbreiten. Z.B., wenn sie sich über einen Film unterhalten, um dann bereits auf der Straße nach der "Zombieoma2 daran anzuknüpfen? Kommt mir insgesamt zu spät, dass sie sich Gedanken darüber machen, WARUM das alles passiert.

Lieber Gruß,
Bambule

 

Zu Kapitel 4:
Auch hier muss deutlich gekürzt werden. Irgendwann beginnen die Leichen und die Zerstörung zu nerven, vor allem, da du alles beschreibst und nicht einige (wichtige) Dinge herausgreifst und aus denen die Story formst. Hatte bis zu dem Meet und Greet mit dem Jungen auf der Wache nicht wirklich das Gefühl, dass die Story vorwärts kommt. Also eine Vielzahl der Beschreibungen raus und auf weniger konzentrieren. Hätte einfach mehr Wirkung.
Bei dem Jungen auf der Wache hatte ich das Gefühl, dass er nur als "Nachrichtenbote" da ist und sich nach Überbringung gern das Leben nehmen kann. Fand ihn aber als Figur gerade "behaltenswerter" als die Kumpels von Benny, da er mal ein bißchen mehr "Farbe" reinbringen würde.
Und jetzt noch zu den Dingen die mir aufgefallen sind:

Der Weg zu Daniels Wohnung war recht weit und führte in Richtung Mitte des Bezirks. Die Jungen gingen wieder mit gesenkten Köpfen hintereinander, vorne Daniel, Jan in der Mitte und Benny hinten,
Bezirk kann weg.

Trotz allen Entsetzens bemerkte Benny, dass die Schlaufen, die sich in die Hälse der Toten schnitten, nicht richtige Schlingen waren.
keine richtigen Schlingen
keine echten Schlingen
Und woher weiß er, wie eine "richtige" Schlinge auszusehen hat?
die wie ein Vampir auf dem Rücken liegend mit Holpflöcken durch Mund,

Die Polizei befand sich direkt am Cecilienlatz,
vielleicht besser: Polizeiwache
und Cecilienplatz
Ich glaube, dass das jetzt das dritte Mal ist (vorher was mit Gründerzeit), dass du auf die "Bauzeit" eingehst und zwar meist, wenn sie/er weiter auf ihrem Weg gehen.
Außerdem müsste was wie: die ursprünglich für Versehrte des Ersten Weltkriegs gegründet wurde, da ja die meisten die den ersten Weltkrieg erlebt haben dürften, tot sind.
Direkt auf diesem Weg lag eine Invalidensiedlung für Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs.
könnten so bis fast ganz zur Polizei kommen. Mein Vater hat mir einmal von den Rohrsystemen da unten erzählt. Ich glaube, ich könnte uns da führen, man muss sich ja nur bildlich vorstellen, wodrunter man gerade ist, und wir kennen uns ja aus, hier…“
Ok das nehm ich den Jungs nicht ab, dass sie sich mal eben so in den Untergrund absetzten, als wäre es "so" einfach sich dort zurecht zufinden...
Oben angekommen brauchte er alle Kraft, um den Gullideckel alleine wegzuschieben.
Also Jungen in dem Alter trau ich das nicht zu. Außerdem lässt sich der Deckel nicht schieben, sondern ist ja meist "vertieft eingelassen", sodass er angehoben und dann geschoben werden kann.
kupferiger Geruch
Geruch nach Kupfer, Kupfergeruch
Ach und das Schuhgeschäft "Leiser" gibt es, soweit ich weiß auch nicht überall in Deutschland. Vielleicht solltest Du statt Leiser, "Schuhgeschäft Leiser" oder so etwas ähnliches schreiben.
alle hatten sie Wunden und geößere Verletzungen,
Die vielen Leichen auf dem Cecilienplatz wirken nicht allzu stark, da du auf dem Weg dahin schon die auf den Pflöcken hattest usw. Auch die Krähen wiederholen sich.
De
r kupferige Geruch
,
Doch der Mensch ist ein Gewöhnungstier und kann sich an vieles anpassen, vieles aushalten, und so bekämpfte Benny sein Entsetzen, nachdem der schlimmste Schock vorüber war, mit Rationalität.
Gewohnheitstier.
Außerdem erscheint es mir an dieser Stelle so, als wolltest Du mal eben jede emotionale Reaktion abschneiden.. Nach dem Motto: "Jetzt hat er sich schon eingepinkelt, jetzt weiß ich auch nicht mehr, was ich machen soll."
Hier bot sich ihnen lediglich die übliche Zerstörung, das sie nicht mehr schocken konnte. Leichen lagen herum, viel mehr als in der Nähe von Bennys oder Daniels Haus, zerstörte Autos, Zäune, Fenster, Fassaden, herumliegende Splitter, Möbel und Müll.
Das Polizeigebäude selbst sah so zerstört aus wie die anderen Häuser der Straße auch.
So nehme ich das auch so langsam wahr: alles irgendwie kaputt und alle irgendwie tot, oder wie dein Prot sagt, die übliche Zerstörung, die einen nicht wirklich tangiert.
Außerdem hast du auch bei vorangehenden Abschnitten, oft mit Zerstörung und Leichen eingesetzt. Also diese beiden Wörter sehr oft verwendet.

„Ja, wer bin ich? Und wer bist du? Und wer ist wer? Das ist soo wichtig, nicht wahr? Wer – ist – wer! Und von wo! Seeehr gute Fragen!“ Die Jungen
gut
„Schließlich habe ich den Schwarzen Wanderer überlebt, oder nicht? Und ich sag’ euch auch, was ich glaube, warum: Weil ich abgehärtet bin. Weil ich nicht weggeschaut habe wie alle anderen. Als Metapher gemeint. Ich versuche nicht, das Böse zu ignorieren, es schönzureden, nein, es ist real, genauso wie das Gute, warum also das eine vernachlässigen? Immer zwei Pole. Gut, böse. Hell, dunkel. Laut, leise. Heiß, kalt. Hoch, tief. Schnell, langsam. Weit, nah. Mann, Frau. Alt, jung. Immer und überall diese Eindimensionalität!“ Er lachte gackernd.
„Moment mal“, rief Jan, „Was für ein Schwarzer Wanderer? Was ist hier passiert?“
Die Nachfrage kommt etwas spät. Außerdem monologisiert der Gute ein wenig viel.
„Warum? Ich spekuliere, um das Böse auf der Welt zu vermehren und seine Waagschale zu verschweren, Sir!“,
beschweren
Gruß,
Bambule

 

Kapitel 5

Die kürzeste Verbindung nach Hermsdorf war etwa 15 Kilometer lang und führte komplett durch Wald.
Die schnellste Verbindung nach Hermsdorf führte durch tiefe Wälder..
Ich bin nicht so ein Fan von genauen Angaben, vor allem Kilometer. Vielleicht wäre es besser, wenn Du schreiben würdest. "Sie brauchten einen halben Tag um die Stadt zu erreichen...
Sie schwitzten. Zwar boten die Baumkronen über ihnen die meiste Zeit über Schatten, doch es war einfach heiß, kaum ein Lüftchen wehte, und sie rannten fast.
Zum einen sehr umgangssprachlich, zum anderen sind hier einige Dinge einfach streichbar, da sie keine neuen Infos bieten.
Benny versuchte, nicht direkt in der Spur des Schwarzen Wanderers zu laufen, die er vor sich sah und die mit der Zeit immer deutlicher und intensiver wurde. Es handelte sich um einen schwarzen, wabernden Tunnel, der in etwa die Form eines Menschen hatte. Er strömte ein Signal aus, das Benny mit Gefahr und Ekel assoziierte und wenn er doch einmal in diesen Tunnel geriet, durchlief ihn ein bösartiges Kribbeln, wie wenn man etwas wirklich Verbotenes tat. Von innerhalb des Tunnels sah er die Außenwelt wie durch eine dünne Schicht verlaufenden, schwarzen Sirups.
Warum lässt du das Benny nicht direkt beschreiben? Auch später im Gespräch mit den anderen beiden wird der Tunnel nicht wirklich "gefährlich" oder "bedrohlich".
Die Spur des Schwarzen Wanderers wurde immer deutlicher für Benny. Ein schwarzer Tunnel tat sich vor ihm auf, der ihn in sich hineinzusaugen schien. Wabernd veränderte er seine Form, mal menschlicher Gestalt ...
Hände schienen in den Organen in seinen Seiten zu wühlen.
streichen
„Eigentlich nichts Neues. Aber ich bin sicher, dass ich rechtzeitig weiß, was zu tun ist.“
Der "Boss" hat nicht so die überzeugenden Argumente.. Und dass er die anderen von seiner Stellung überzeugen kann braucht etwas mehr, als dass sie so schnell zu dieser Feststellung kommen:
„Ok, also wenn wir ihn gleich eingeholt haben, ist Benny der Boss. Was er sagt, wird gemacht.“ Er wandte sich Daniel zu. „Ok?“

Die letzten zwei Kilometer legten sie so zügig wie vorher zurück. Während dieses ganzen letzten Stücks schwiegen sie und starrten angestrengt nach vorne. Jan sah den Schwarzen Wanderer als erstes.
Sie befanden sich an einer Stelle, an der der Weg bis sehr weit nach vorne fast schnurgerade verlief. Ganz hinten lief er einen Hügel hinauf und war dann nicht mehr zu sehen, weil die Hügelkuppe von dem Blätterdach vor ihnen verdeckt wurde.
„Das ist er, oder? Dieser schwarze Punkt an dem Hang da?“, fragte Jan aufgeregt.
„Ja, das muss er sein!“, rief Daniel. Benny ärgerte sich, dass er den Schwarzen Wanderer nicht als erstes gesehen hatte, schließlich führte der Tunnel direkt zu ihm und hörte bei ihm auf. „Dann los, lasst uns das fiese Schwein fertigmachen!“
Also wie sieht er aus- die Beschreibung kommt mir zu spät? Was macht Jan so sicher und eigentlich hätte Benny ihn als ersten erkennen müssen- mit seinen neuen Fähigkeiten. Und vielleicht ist ja auch das "Böse" spürbar. Vielleicht beginnen sie sich über irgendwas zu streiten etc, vielleicht will einer einfach nicht weitergehen..
geht mir insgesamt zu "glatt" ab.
Er fühlte, wie der Schwarze Wanderer sich wütend zurückzog, wie eine Schnecke in ihr Schneckenhaus, oder wie ein Vampir in den Schatten.
Sie standen sich wieder gegenüber, um sie herum der Wald, Jan, der neben Benny stand.
Zum einen sehr kompliziert, zum anderen ich dachte, dass er sich zurückgezogen hätte.
Diese erste Konfrontation müsste direkter geschehen, da es sonst wie "nacherzählt" wirkt und der Leser nicht in das Geschehen gesogen wird.
Als er dabei in die Korona eindrang, erfasste ihn wieder das Kribbeln des Verbotenen, das er auch bei dem Tunnel in schwächerer Form gespürt hatte, und augenblicklich wurde ihm eiskalt.
Woher kommt die Korona plötzlich? Außerdem habe ich eher "Dunkelheit" und "Nebel" assoziert und nicht etwas "Strahlendes".
Benny wusste, dass er den Schwarzen Wanderer nicht physisch bekämpfen konnte.
Das habe ich jetzt ein paar Mal durchgehen lassen, aber, woher will er denn das alles wissen??? Das ist jetzt wieder so, als hättest Du keine Lust gehabt beschreibende Elemente einzubauen und dann "weiß" Benny eben alles. Tut mir Leid, aber das nervt mich tierisch. Außerdem nehmen seine Fähigkeiten vorher zu wenig Raum ein, als das dieser "Kampf" irgendwie realistisch wirken könnte.
Wenn er angreifen wollte, musste er, das spürte er, seinen Körper verlassen und in den des Schwarzen Wanderers schlüpfen.
wieder dasselbe.
Lass Jan doch einfach den Kampf beschreiben, allein das was er sehen kann, ohne irgendwelche Vermutungen, wie:
Viel Glück, mein Freund, da wo ihr jetzt seid, kann ich nicht hin, kann ich nicht helfen, aber sei dir gewiss, dass ich trotzdem bei dir bin!

Sag doch endlich mal, wie sich das
pure Böse
anfühlt, was macht das mit Benny?
so weit führten sie nach oben. Er beobachtete die Kugel, bis er die
Benny ging um den Baum herum und überlegte, wie er ihn zerstören konnte. Er war die Verbindung zu noch viel schrecklicheren Wesen als dem Schwarzen Wanderer, die sich aus den goldenen Kugeln, dem Guten aus Menschen, ernährten. Würde er diese Verbindungen kappen, würde er den Schwarzen Wanderer, den Joker des einen Hauptpols, unschädlich machen.
Woher weiß Benny nun das schon wieder? dem Guten der Menschen?

Zuerst dachte Benny, es hätte nicht funktioniert und er wäre wieder im Schwarzen Wanderer, doch dann bemerkte er, dass die Landschaft um ihn herum der des Schwarzen Wanderers zwar ähnlich, verdammt ähnlich war, aber dennoch nicht gleich. Der Boden war gefährlicher, es gab massenhaft scharfe Felskanten und –spitzen, keine Berge im Hintergrund, dafür war die ganze Landschaft hügeliger. Der Himmel war derselbe, schwarz, rasende Wolken, aber es herrschte ein rauer Wind, der so heftig war, dass er laufend alle Konturen verzerrte,
Irgendwie hatte er immer geahnt, dass es in Wirklichkeit so und nicht anders in seiner Seele aussah. Das, was sein Vater ihm angetan hatte, konnte keiner so einfach wegstecken, wie er es sich eingebildet hatte, zu tun. Keiner. Es war alles eine Illusion gewesen, sein ganzes Leben lang. Und früher oder später hätte er sich eine Leiter nehmen und über den Rand seines bunt angepinselten Brunnenschachtes, „Elysium“ genannt, hinausschauen müssen. So gesehen hatte der Schwarze Wanderer, indem er die Mauern eingerissen hatte, dem also nur vorgegriffen.
Solche Einschübe wären legitim, wenn sie von Benny in der Rückschau kämen, hier ist es aber direktes Erleben. Also ein alter Benny der die Geschichte erzählt, könnte so etwa sagen, aber nicht der Benny "jetzt".
Sein Vater in Arbeitskleidung, sein Vater in Unterwäsche, sein Vater nackt, sein Vater im Anzug, sein Vater, sein Vater, sein Vater… Und alle redeten sie auf Benny ein:
„LOS, MACH SCHON!“
„DU WEIßT DOCH, WIE’S GEHT!“
„WIE KANN MAN NUR SO DUMM SEIN?“
„STELL DICH NICHT SO AN!“
„WEHE, DU REDEST MIT JEMANDEM DARÜBER!“
„JA, SO IST’S GUT!“ ............
Dieser Teil und gefällt mir hingegen ganz gut.

Aber der hier nicht mehr, so einfach, neee. Deshalb les ich doch nicht so ne lange Geschichte, damit das mal eben so geht. Das kannste so nich machen, da komm ich mir mehr als verarscht vor:

Als die beiden plötzlich voneinander abprallten wie zwei sich abstoßende Magneten, erschrak Jan zu Tode. Der Schwarze Wanderer fiel zu Boden, die Korona verschwand, das Rauschen hörte auf und der Körper, wenn es denn einer war, verschwand einfach. Benny fiel auf die Knie, fing an zu zittern, Tränen liefen ihm in einer Menge und Geschwindigkeit die Wangen herunter, wie Jan es nie für möglich gehalten hätte. Mit heiserer Stimme schrie er: „Neeein, neeein, neeein!“ Jan stürzte zu ihm und nahm ihn in die Arme. Bennys Haar war schneeweiß geworden, er schlotterte und zuckte.
„Benny, Benny, großer Gott, Benny!“ Benny drehte den Kopf und sah Jan an.
„Jan? Ja… Jan?“
„Ja, ich bin’s, Mann, ich bin da!“

 

Kapitel 6

„Großer Gott, was ist mit ihm passiert?“, fragte Jan bestürzt.
„Tja, wir hatten gehofft, du könntest uns das erklären. Dein Freund liegt im Koma vierten Grades.“
Vierten Grades? Wie viele Grade gibt’s denn?“
„Vier. Und das ist der Schlimmste. Das heißt keine Schmerzreaktion, keine Pupillenreaktion, Ausfall weiterer Schutzreflexe.“
„Das heißt er ist nicht mehr hier…“
„Äh, ja, so könnte man sagen. Hör mal Junge, was war da los im Wald? Dein Freund hat einen Schock erlitten, und zwar einen, der ihn ins Koma vierten Grades befördert hat. Hat es etwas mit dem anderen Jungen zu tun, den sie gefunden haben? Dem mit dem Messer in der Brust? Oder mit dem, was drüben passiert ist?“
So langsam wissen wirs...
In den folgenden Tagen musste Jan dutzende Untersuchungen über sich ergehen lassen und mit dutzenden Leuten reden, die er schließlich in „Kittel“ und „Uniformen“ einteilte.
In den Nachrichten hörte man nur noch von „dem Virus“, doch Jan hielt das alles für Quatsch, die 10.000 Opfer hatten kein Virus gehabt, ihnen war ihre Menschlichkeit geraubt worden.
Tja, er sollte wohl auch "wissen" das das Quatsch ist, schließlich ist er dabei gewesen.


Benny,

in tiefer Freundschaft
und Dank für Millionen

Ruhe in Frieden

Hört sich so an, als hätte er Millionen von Euro von Benny bekommen.

 

Hallo Maeuser,
hab Deine Geschichte noch einmal etwas sacken lassen.
Du beginnst sehr stark und hast mich dadurch als Leserin gewinnen können.
Allerdings habe ich zunehmend mit mir ringen müssen, das was Du am Anfang versprichst, kannst Du leider nicht halten (ok. ab und an wird es mal wieder besser, aber größtenteils verflacht es immer mehr). Ich hatte den Eindruck, dass Du nur noch "fertig" werden möchtest.
Das liegt nicht an deinen Ideen, sondern an der Umsetzung.
Eines der Probleme scheint mir zu sein, dass in dieser Geschichte zu "chronologisch" erzählt wird. Alles passiert nacheinander und es gibt keine Raffungen und Straffungen, bzw. die Szenen, auf die es ankommt werden nicht ordentlich ausgewalzt.
Hierdurch entsteht Langeweile. Du scheinst einige Male selbst überlegt zu haben, was Du eigentlich mit den Figuren machen sollst und was Du eigentlich beschreiben sollst. Und dann kommt es eben zu diesen "Leichen- und Zerstörungshäufungen", aber auch zu Sätzen, die völlig unnötig sind, da es längst schon deutlich wurde. Und wichtige Szenen gehen in dem -entschuldige bitte- Blabla völlig unter.
Es kam mir so vor, als würdest Du deinen eigenen Ideen manchmal nicht trauen, bzw. Du unsicher bist, wie Du die Figuren von A nach B bringst, bzw. einfach geschrieben hast, ohne einen genaueren Plan zu haben.
Und ab der Polizeistation, vielleicht schon ab der Kanalisation ist es mehr ein "Gehopse" von Station zu Station, ohne das z.B. eindeutig klar wird, warum sie dorthin gehen.
Dann der "Endkampf" die Lösung kommt viel zu schnell, auch die neuen "Fähigkeiten" von Benny wird nicht genügend Raum gegeben. Und was sehr schade ist, ist, dass die Charakterzeichnungen (allerdings noch sehr undeutlich) erst in den späteren Kapiteln auftauchen und nicht in dem zumindest für den Leser, relativ wichtigen "Baumhauskapitel".
Generell müsste extrem viel gestrichen und umgeändert werden, aber dann, und da bin ich mir sicher, könnte ein ziemlich guter Text raus entstehen. Du müsstest Dich halt noch mal länger an den Text setzten.
Würde mich freuen, wenn Du mal kurz "rückmeldest".
Liebe Grüße,
Bambule

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Bambule,
ich habe deine Posts mitverfolgt, wollte aber nicht dazwischenfunken, solange du noch am Ackern warst... ;)
Erstmal vielen vielen Dank für die Mühe, die du dir gemacht hast, meine Geschichte so ausführlich zu kritisieren (das meine ich im positiven Sinne).
Sehr vieles von dem was du schreibst hat mir sozusagen die Augen geöffnet. Vieles habe ich schon selbst geahnt (oder besser: befürchtet), aber es ist schon extrem hilfreich, wenn ein Außenstehender mal was dazu sagt, weil man als Autor meistens doch zu sehr in der Geschichte drin ist und sich erstmal etwas distanzieren muss, um einen halbwegs neutralen Blick zu bekommen.
Ich muss leider zugeben, dass ich das bei dieser Geschichte nicht gemacht habe. Also ich hatte eine grobe Struktur, habe die Geschichte dann einfach geschrieben, sie noch ein/zwei Mal überarbeitet, aber ich habe nichts "Großes" verändert, also etwas gestrichen, oder so. Im Gegenteil, manches habe ich hinzugefügt.
Das mit dem Streichen muss ich unbedingt lernen. Sobald ich etwas fertig geschrieben habe, gehört für mich irgendwie alles, was drinsteht, dazu und ich habe das Gefühl, wenn ich jetzt etwas streichen würde, würde etwas fehlen. Ich seh das aber absolut ein, gerade auch was du gemeint hast mit dem Baumhaus und so. Also da muss ich dringend an mir arbeiten.
Ich finde aber, die Geschichte verdient was Besseres als meine anderen und deswegen werd ich hier nochmal alles überarbeiten. Will doch auch endlich mal nen guten Text mein eigen nennen dürfen... ;)
Was mich im Moment konkret beschäftigt: Du meintest, dass sich die Leichen und die Zerstörung so oft wiederholen. Das ist mir auch schon beim Schreiben aufgefallen, aber ich wusste nicht, wie ich das vermeiden kann. Klar, statt Leichen hab ich ein paar Mal Körper oder Tote geschrieben und statt Zerstörung Chaos, Verwüstung, aber es bleibt letztlich alles dasselbe. Und ich fand das auch schon beim Schreiben ein bisschen ermüdend, dauernd diese Schilderungen davon. Aber was kann ich da machen? Eine Gefahr bei einer Story dieser Art ist auch, dass man in einer Aufzählung von Schockmomenten endet, was dann langweilig wird... Also die Balance zu finden, ist schwierig, denn das Niveau des Horrors die ganze Zeit oben zu halten wäre falsch, da ermüdend, also hab ich versucht, das zu vermeiden...
Also, hab nochmals vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, ich werde das Ding komplett überarbeiten, sobald ich Zeit habe (hab morgen ne sehr wichtige Prüfung)!
Lieben Gruß,
Maeuser

 

Hallo Maeuser,
ich wusste nicht, ob überhaupt eine ausführliche Kritik gewünscht war und hab einfach mal gemacht.. Aber da bin ich ja beruhigt, dass meine Anmerkungen halbwegs verständlich waren und Du was mit ihnen anfangen kannst.

Also ich hatte eine grobe Struktur, habe die Geschichte dann einfach geschrieben, sie noch ein/zwei Mal überarbeitet, aber ich habe nichts "Großes" verändert, also etwas gestrichen, oder so. Im Gegenteil, manches habe ich hinzugefügt.
Ich weiß, dass es unheimlich schwer ist, vor allem bei einer längeren Geschichte, den Überblick und den genügenden Abstand zu erhalten. Gegen Hinzufügungen habe ich auch nichts, aber sie müssen notwendig sein und an einigen Stellen in dieser Geschichte sind sie es, ebenso wie die Streichungen.
Sobald ich etwas fertig geschrieben habe, gehört für mich irgendwie alles, was drinsteht, dazu und ich habe das Gefühl, wenn ich jetzt etwas streichen würde, würde etwas fehlen.
Es geht ja nicht um plotrelevante Streichungen, sondern um Streichungen, die gerade den Plot noch ein bißchen mehr zu Glanz verhelfen. Ich sag mal so, ein Baby ist zwar "irgendwie" fertig, wenn es auf die Welt kommt, aber irgendwann braucht das Kind "Erziehung".
Ich finde aber, die Geschichte verdient was Besseres als meine anderen und deswegen werd ich hier nochmal alles überarbeiten. Will doch auch endlich mal nen guten Text mein eigen nennen dürfen...
Wie gesagt, Deine Ideen sind gut und aus dem Text kann etwas gutes werden, aber eben nur, wenn Du Dich noch mal etwas länger an den Text setzt.
Was mich im Moment konkret beschäftigt: Du meintest, dass sich die Leichen und die Zerstörung so oft wiederholen. Das ist mir auch schon beim Schreiben aufgefallen, aber ich wusste nicht, wie ich das vermeiden kann. Klar, statt Leichen hab ich ein paar Mal Körper oder Tote geschrieben und statt Zerstörung Chaos, Verwüstung, aber es bleibt letztlich alles dasselbe.
Also Synonyme bringen hier nichts. Aber das hast Du ja schon selbst gemerkt. Nehmen wir mal die Szene als sie aus dem Wald kommen. Die Jungs "wundern" sich zu wenig, was da überhaupt passiert. Man könnte durchaus auf dem Weg in die Stadt "Vorzeichen" setzen, die das Geschehen einläuten, vielleicht tote Tiere, die dort liegen, vielleicht können sie einen Blick von einer Anhöhe auf die Stadt werfen (vielleicht glauben sie zunächst an einen "Großbrand") oder etwas Ähnliches. Also den Leser immer schön "mitwundern" lassen, was denn da passiert ist, ohne, dass es gleich aufgelöst wird.
Konkret mit den Leichen und der Zerstörung. Ich würde von den Figuren ausgehen und die sich direkt beteiligen lassen. Sie erscheinen mir immer mehr wie Zuschauer, anstelle von direkt Beteiligten. Also mehr direkte Einbindung bsp. emotionaler Natur, dass sie eine Leiche persönlich kennen. Ob sie diese Person nun mögen oder nicht ist dabei zweitrangig. Also den Tod irgendwie "personalisieren", denn sonst bleiben es eben nur "Leichen" welchen man mit so einer Scheißegalmentalität gegenübersteht. Ein anderer Vorschlag wäre, dass sie durch Blut waten müssen, Gehirnteile abbekommen etc, dass sie eben nicht "sauber" aus dieser Geschichte rauskommen.
Hier würden wenige Schlaglichter reichen, die ordentlich ausgewalzt werden müssten, damit das "Grauen" rüberkommt, mehr ist auch nicht notwendig zu beschreiben. Nehmen wir mal an Du siehst ein totes Tier auf dem Wegesrand, dann erinnert man sich doch nicht daran, dass es "nur tot" war, sondern daran, dass beispielsweise die Augen "milchig" waren, dass das Tier einen scheinbar anschaut... Man erinnert sich an die Details und dadurch wird es "personalisiert". Das heißt aber nicht, dass alles auf diese Dinge vermittelt wird, sondern nur Dinge, die die Geschichte und die Figuren "vorwärts" bringen.
Und den Rest könnte man immer wieder mit "Raffungen" zusammenbiegen: "Auf dem Weg zur Polizeistation vermieden sie die Blicke in die Vorgärten, in die Auffahrten. Wortlos hoben sie ihre Füße über die Blutlachen......" Und dann kann mit einem "Krachen" der Leichenberg auf dem Cecilienplatz einsetzen.
An dem Tempo zwischen den Szenen müsstest Du also arbeiten, da es ziemlich gleichförmig fließt. Durch die "Schlaglichter" erst eine richtige Auswirkung auf den Leser erwirkt werden könnte und die Figuren auch etwas "aktiver" und "motivierter" erscheinen würden. Deshalb brauchst Du viele der Leichen- und Zerstörungmeldungen nicht, sondern versuch es mal durch die Augen der Figuren zu sehen.
sobald ich Zeit habe (hab morgen ne sehr wichtige Prüfung)!
Erst mal viel Glück für die Prüfung! Und so eine Überarbeitung braucht Zeit, also nicht hetzen.
Solltest Du noch Fragen haben oder meine Anmerkungen nicht nachvollziehen können.
Frag einfach nach..
Liebe Grüße und einen schönen Tag,
Bambule

 

Und noch einmal kurz, was ich gerade vergessen habe:
Also relevant für diese Geschichte ist es, nur die Dinge zu erzählen, die auch wichtig für die Figuren und den Plot ist. Also frag dich immer, wohin eine bestimmte Szene führt. Da die "Wege" etwas unmotiviert waren, Bsp: Knarre holen -warum eigentlich? Also vielleicht eine direktere Zombiebedrohung für die Jungs einbauen. Die Knarre bleibt dann aber auf dem Polizeirevier und im Wald hätte Benny sie dann doch ganz gern wieder. Also entweder doch mitnehmen oder die Waffe müsste "dramatischer" verloren gehen, denn sonst wird der Gang in das Haus nicht "legitimiert". Und wichtig ist dieser Gang, da ja festgestellt werden muss, dass der Alte Sack tot ist (vielleicht könnte man ihn auch noch ein bißchen röcheln lassen und Benny lässt ihn liegen oder so).
Dabei kann es natürlich passieren, dass aus dieser 35 Seiten Geschichte, zunächst 20 werden um dann bei über 50 Seiten oder mehr zu enden.

Durch die Distanzierung der Figuren gegenüber des Geschehens passiert es auch ziemlich schnell, dass sie "altklug" erscheinen. Also Dinge mit Worten benennen und einem Abstand sehen, dass sie sehr viel älter erscheinen. Vielleicht hat mich auch das an diese S.K. Geschichte/Film "Stand by me" erinnert (deren Name mir immer noch nicht einfallen will), da man das Gefühl hat, dass da jemand sitzt, der das alles schon erlebt hat. (In dieser Geschichte ist es so, dass ein Vater-natürlich Schriftsteller- sich durch seinen Sohn an seine Kindheit erinnert fühlt und dann beginnt von den Erlebnissen eines Sommers zu erzählen.) Also eventuell eine solche Erzählerinstanz einbauen, oder -deine Dialoge fand ich zum Großteil ganz gut und vor allem angemessen für Jungs in diesem Alter- die noch ein bißchen ausbauen. Vor allem könnte man durch die Dialoge die Jungs ziemlich gut "charakterisieren". Hatte ja schon geschrieben, dass die Charakterisierung/Beschreibung relativ spät kommt. Vielleicht die schon beim Baumhaus einbauen, dann hat man später nicht mehr die "Not" die irgendwie einzubauen und als Leser möchte man ja relativ schnell die Figuren kennenlernen. Vor allem hast Du ja im Baumhaus noch "Ruhe" und keine "Leichen", die die Jungs richtige Jungs sein lassen kann.
War jetzt nicht so kurz und hoffe, dass Du mir das nicht krumm nimmst.
Lieben Gruß,
Bambule

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Maeuser,

Ich habe eine ganze Weile gebraucht, um dein "Mammutwerk" durchzulesen, aber das erste Kapitel hat mich dermaßen gefesselt, dass ich weiter lesen musste. Da ist dir wirklich ein sehr, sehr starker Einstieg gelungen. Danach hat es etwas nachgelassen, ist aber immer noch eine gute Geschichte. Sie könnte allerdings noch besser werden.
Ich merke an vielen Dingen in deiner Geschichte, dass du ein Stephen King-Fan bist. Da ich selbst auch einer bin, gefällt mir das natürlich. Aber wenn du schon Anleihen beim Großmeister nimmst :), dann solltest du vielleicht auch seine Schreibtipps beherzigen, speziell diejenigen, die da lauten:

Überarbeitete Fassung = Erste Fassung minus (mindestens) zehn Prozent

und

Adjektive sparsam verwenden!

Stellenweise zieht es sich nämlich ganz schön, es gibt beschreibende Passagen, die richtig überquellen von Adjektiven, und manchmal geht deine Detailverliebtheit für meinen Geschmack generell etwas zu weit. Ich muss nicht die Farbe jedes Schlafanzugs wissen, um mir die Situation vorstellen zu können. Du kannst ruhig manches der Phantasie des Lesers überlassen. Wenn du dich daran machst, deine Geschichte zu überarbeiten, versuch, mindestens die Hälfte (besser zwei Drittel) der Adjektive loszuwerden, und glaub mir, sie wird besser werden.
Was nicht heißen soll, dass sie nicht schon ziemlich gut ist. Ich hab sie wirklich gern gelesen.
Was mir aber noch auffiel: Deine Protagonisten denken und handeln manchmal ein wenig zu erwachsen für zwölf- bis vierzehnjährige Kinder (Beispiele siehe unten). Auch für Kinder, die aus problematischen Elternhäusern kommen, und selbst für solche, die missbraucht werden wie Benny, kommen mir diese Gedanken und Taten unglaubwürdig vor.
Und du wechselst an manchen Stellen sehr abrupt die Perspektive. Bei einer so langen Geschichte finde ich es okay, wenn man aus der Sicht mehrerer Protagonisten schreibt, aber der Wechsel sollte den Leser nicht verwirren (Beispiele ebenfalls unten).

Ja ... ich war zwar nicht ganz so fleißig wie Bambule, aber ich habe auch ein paar Detailanmerkungen gesammelt:

Weg von hier, lauf, verlasse diesen Ort, solange du noch kannst…

Das "lauf" finde ich ein bisschen irreführend, er hat ja gar nicht vor, wirklich wegzulaufen, sondern nur, sich in seine Phantasie mit dem Wald zurückzuziehen, oder? "Weg von hier, verlass diesen Ort" würde ja auch reichen und nicht so widersprüchlich sein. Oder du ersetzt das „lauf“ durch ein „flieh“, das kann beide Bedeutungen haben.

Die Haustür eines einst niedlichen, kleinen Einfamilienhauses, das inzwischen aber schäbig und verfallen aussah, wurde geöffnet, und ein Junge in Jeans und blauem T-Shirt, einen Schlafsack und eine Stofftasche von Kaisers über der linken Schulter, trat heraus und blinzelte in die helle Sommersonne, die an einem stahlblauen Himmel ohne das geringste Wölkchen mit voller Kraft auf die Erde herniederbrannte. Er hatte eine rote, geschwollene Wange, schaute hart und verkniffen, und sah ein wenig blass und schwächlich aus.

Grundsätzlich gefallen mir deine Beschreibungen, aber wie gesagt, du solltest überlegen, ob du noch das eine oder andere Adjektiv loswerden kannst, denn teilweise nehmen die wirklich ganz schön überhand ... ich hab sie oben in dem Abschnitt mal markiert, da siehst du, was ich meine. Die Sommersonne z.B. ist eigentlich immer hell, wozu also noch ein Adjektiv in den Satz stopfen? :)

und durch wie es schien mutiertes Gras in seiner offenen Position fixiert wurde.

ich würde schreiben "scheinbar mutiertes", "wie es schien" stört den Lesefluss.

. Er passierte schnell das Tor, froh, aus dem mit feucht-schwerer Süße nach Fruchtbarkeit stinkenden Dickicht herauszusein, wandte sich dann nach links und ging auf dem Fußweg weiter.

heraus zu sein wird ziemlich sicher auseinander geschrieben

. Ebensogut hätte man fragen können, warum Soziopathen kein Mitleid empfanden oder Mörder mordeten.

Weiß ein zwölfjähriger Junge, was ein Soziopath ist? Mir kommt dieser Vergleich unpassend vor für ein Kind. Und das mit den Mördern passt imho auch nicht, denn die tun das ja aus ganz verschiedenen, mal mehr, mal weniger nachvollziehbaren Gründen. Da fällt dir sicher noch ein besserer Vergleich ein.

Er war inzwischen ein paar Mal abgebogen, hatte ein Gründerzeitgebäudeviertel mit den typischen "Mietskasernen" durchquert

Das Wort ist ja ein Monster! Das würde ich an deiner Stelle zerschlagen.

Ab diesem Zeitpunkt waren sie drei praktisch unzertrennbar gewesen.

unzertrennlich

. Zuerst hämmerten sie ein paar zugesägte Bretter als Stufen an den Stamm

Ich weiß nicht, ob "zugesägt" direkt falsch ist, aber "zurecht gesägte" würde mir besser gefallen.

Rechts von ihnen befanden sich hinter einem niedrigen xxx-förmigen Holzzaun einige 3-stöckige Mietskasernen

xxx-förmig: Das geht so nicht. Für diese Art Zäune gibt es bestimmt einen Spezialbegriff, den weiß ich nicht, aber die Form ist ja vielleicht auch nicht so wichtig. Dieses "xxx" muss jedenfalls weg. Zahlen ausschreiben: dreistöckig.

ICH KANN HTS DAFÜR,
ICH SO!)

ich würde da noch Lücken an der richtigen Stelle machen, weißt du, so:

ICH KANN__HTS DAFÜR
ICH__SO! :)

Mein Vater hat eine Pistole in seinem Arbeitszimmer.

Also, in den USA ist so was ja recht häufig, aber hier? Ich kenn (Gott sei dank!) niemanden, der privat eine Waffe besitzt. Außerdem finde ich es auch nicht so doll glaubwürdig, dass drei kleine Jungs in so einer Situation als erstes daran denken, sich eine Pistole zu besorgen und erst später auf die Idee kommen, jemanden anzurufen oder zur Polizei zu gehen ...

Seltsamerweise fühlte er erstaunlich wenig.

entweder das „seltsamerweise“ oder das „erstaunlich“ kannst du streichen, das sagt ja beides das gleiche aus.

"Also…", begann er, doch Daniel fiel ihm ins Wort:
"Müssen wir hier bleiben?" Sein Blick zuckte immer wieder zur Tür. Aus unerfindlichen Gründen wurde er das Bild nicht los, wie Bennys Vater mit einem kleinen, unscheinbarem Loch in der Stirn, [...]

ziemlich abrupter Perspektivwechsel an dieser Stelle von Benny zu Daniel.

Benny dachte kurz daran, wie er aufgewacht war,
(Alte, zeitlose Mächte schreien auf.)
die Kälte, denk an die Kälte, du konntest deinen Atem sehen!, und nicht gewusst hatte,

Als ich diese "Gedanken in Klammern"-Technik das erste Mal in einem Stephen King-Buch gesehen habe, war ich total begeistert davon, inzwischen finde ich das ein bisschen manieriert. Soll dich nicht davon abhalten sie zu nutzen (liegt wahrscheinlich daran, dass ich mir irgendwann mal eine Überdosis King zu Gemüte geführt habe :)), ich wollt's nur mal gesagt haben.

daneben ein aufgeschraubter, orangener Benzinkanister

ich weiß, es klingt ein bisschen doof, aber: orangefarbener (das Wort orange selbst ist unveränderlich)

Er kam sich fast wie in eine andere Welt versetzt vor, ein Gefühl durchströmte ihn, dass er regelmäßig empfand, wenn er Fotos von Tschernobyl oder Prypjat sah.

Das scheint mir für einen Zwölfjährigen auch ganz schön weit hergeholt, selbst wenn er weiß, was Tschernobyl und Prypjat bedeuten, wird er sich doch kaum regelmäßig Fotos davon ansehen ...

Fast hätte Benny noch "Cut!" geschrieen.
Etwas Warmes, Nasses, spritzte Jan ins Gesicht, gleichzeitig fühlte er den Widerstand seines Gegners schwinden

Auch hier ein sehr abrupter Perspektivwechsel.

Sie lagen dicht an dicht, kreuz und quer und übereinander, sodass man kaum noch etwas vom grünen Rasen sah, und alle hatten sie Wunden und geößere Verletzungen

größere

Warum? Ich spekuliere, um das Böse auf der Welt zu vermehren und seine Waagschale zu verschweren, Sir!",

beschweren

"Da war so ein dunkellilanes Licht zwischen deiner Stirn und seiner Hand!"

lila ist auch so ein unveränderliches Farbwort, müsste strenggenommen "dunkelviolettes" Licht sein, aber da das ein Kind sagt, kann man es an dieser Stelle durchgehen lassen.

"Was…?", begann Daniel, doch Benny unterbach ihn:

unterbrach

und er hatte gewunken, glaubte aber nicht, dass sie ihn gesehen hatten.

winken, winkte, gewinkt. Echt. Ich hab das früher auch nicht glauben wollen :)

"ACH, ICH STUTZ' HIER NUR WAS ZURECHT… WARUM, GEHT DIR DER ARSCH LANGSAM AUF GRUNDEIS, DU HUNDESOHN? SIEHST DU DEIN ENDE NAHEN?", sandte Benny zurück. Der Schwarze Wanderer schwieg und Benny machte sich schon an den nächsten Ast, als er sagte:

Ich finde es nicht so gut, dass Benny hier auch in Großbuchstaben denkt, wie der Wanderer. Außerdem ... Hundesohn? Sagen dass die Zwölfjährigen von heute? :)

"WAS SOLLTE MAN MIT BÖSCEN SCHÜLERN TUN, DIE IHRE HAUSAUFGABEN VERGESSEN?"

Bösen

Er ging zu Benny, dessen Haltung sich nicht verändert hatte, legte ihn sich über die Schulter und begann, in Richtung Hermsdorf zu traben.

Also, dass er Benny tragen kann, kauf ich dir noch ab, aber dass er dabei "trabt" - No, Sir. Bewusstlose Menschen sind echt schwer!

In den Nachrichten hörte man nur noch von "dem Virus", doch Jan hielt das alles für Quatsch, die 10.000 Opfer hatten kein Virus gehabt, ihnen war ihre Menschlichkeit geraubt worden

hielt? Er weiß doch, dass es Quatsch ist.

Ja, das war’s erstmal.

Grüße von Perdita.

 

Nochmal @ Bambule:
Wertvolle Tipps, wertvolle Tipps! Vielen Dank, ich bin echt froh, dass du die Geschichte gelesen hast und mir dabei hilfst! :)
Freu mich schon aufs Überarbeiten!
Achja: Stand By Me ist mein Lieblingsfilm :) Er wurde nach der Geschichte "Die Leiche" (The Body) gedreht.

@ Perdita:
Hallo, auch dir vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren, da sind viele nützliche Sachen dabei, die ich überarbeiten werde! :)

ICH KANN__HTS DAFÜR
ICH__SO!
Das mit den Leerzeichen ist in dem Word-Dokument auch so, aber hier beim Posten wird das komisch formatiert... Also eigentlich isses so cool mit Leerzeichen... ;)
Dann werd ich bald mal auf Adjektivjagd und Kürzungssafari gehen... ;)
Danke!

 

ICH KANN__HTS DAFÜR
ICH__SO!
Das mit den Leerzeichen ist in dem Word-Dokument auch so, aber hier beim Posten wird das komisch formatiert...
Nimm einfach ein paar m-Raum-Sonderzeichen für die Lücken:

ICH KANN NICHTS DAFÜR,
ICH BIN SO!

ICH KANN  HTS DAFÜR,
ICH   SO!​


Der Nachteil ist, dass der Opera-Browser die Dinger nicht darstellen kann (Opera-User sehen dort nur ein Leerzeichen). Bei Firefox, IE und Safari gibt es aber keine Probleme.

 

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